Lyenneyl stand auf dem Balkon des Kaiserpalasts und blickte hinauf zum klaren Nachthimmel. Nur wenige Sterne waren zu sehen, doch neben diesen war der Himmel voll von kleinen Lichtpunkten die langsam, beinahe erhaben, ihre Bahnen zogen und mit Sicherheit keine Sterne waren. Der halbvolle Mond stand knapp über dem Horizont, deutlich sichtbar die riesigen Gebäudekomplexe, die auf der Nachtseite hell erleuchtet und auf der Tagseite als dunkle Linien hervortraten. Die anderen, kleineren Kugeln, die Lyenneyl erkennen konnte, waren allesamt künstlich denn ihre Oberflächen glänzten metallisch in der schon lange untergegangenen Sonne. Der Blick der Kaiserin schweifte ab und glitt nun über die Stadt, die vor dem Palast ausgebreitet lag. Das Mausoleum von Ceyrenneryec, von Scheinwerfern angestrahlt, überragte die meisten anderen Gebäude. Vor zehntausend Jahren hatte er als erster Kaiser über das mächtige conmeranische Sternenreich geherrscht. Äonenlang waren die Conmeraner die Sieger geblieben. Planet um Planet, Galaxie um Galaxie, Cluster um Cluster waren von den kaiserlichen Streitkräften erobert worden. Der Sieg schien bereits errungen, als der Feind zurückschlug. Seitdem starb Lyenneyls Volk einen langsamen und grausamen Tod. Nukleares Feuer regnete seit Jahrhunderten auf eine Kolonie nach der anderen. Sheylly, ihre Heimatwelt war vor zehn Jahren gestorben, bombardiert mit Tausenden Asteroiden, wehrlos nach der Vernichtung der Verteidigung. Milliarden hatten aufgeschrieen und waren dann verstummt. Und so geschah es Tag um Tag, seit die Kaiserin geboren worden war. Doch bald würde das Inferno ein Ende finden.
Conmera erwartete seinen Untergang mit Würde. Die letzten Streitkräfte der längst zusammengebrochenen Front hatten sich im System versammelt und erwarteten den letzten, finalen Angriff des Imperiums. Lyenneyl musste an die Sagengeschichten der Antike denken, wo Eltern allzu häufig das Opfer ihrer eigenen Brut geworden waren. Dem Kaiserreich würde es nun ähnlich gehen.
„Wer Wind säht, wird Sturm ernten.“
„Wahr gesprochen, Eure Majestät.“
Die hochgewachsene Frau drehte sich langsam um, der Wind strich ihr das lange, schwarze Haar aus dem Gesicht und entblößte die von Tränen feuchten Wangen. „Warum, Krynnyrk, warum lässt die Union das zu.“ Der hagere alte Mann, der im Schatten der Balkontüre stand, blickte auf und musterte die Frau, die seine Enkelin hätte sein können, in ihrem prachtvollen weißen Gewand, dass ihr unschuldiges, beinahe kindliches Äußeres noch unterstrich. Doch in den feuchten, graublauen Augen stand die Weisheit und zugleich das Grauen eines ganzen Jahrhunderts des Krieges.
„Das Volk der Sternenunion ist gespalten. Das Auftauchen der Ewigen hat ihr Weltbild zerstört und eine Krise ohnegleichen heraufbeschworen. Nur wenige Welten im grenznahen Bereich haben bereits mit dem Ausheben von Streitkräften begonnen, viel zu wenig um irgendetwas ausrichten zu können. Die Imperialen werden auch noch weit in den Raum der Föderation und der Union selbst eindringen, ehe die ersten Versuche eines Gegenangriffs unternommen werden können. So ist es seit Jahrzehnten schon und es wird sich auch nicht so bald ändern.“
„Es muss sich ändern. Unserem Volk bleibt nicht mehr viel Raum, wohin es fliehen kann. Die Kapazitäten unserer Verbündeten sind bereits ausgeschöpft. Die Flüchtlingsströme überfluten ihre Kolonien und Quarantänewelten. Seuchen und Krankheiten wüten dort. Milliarden sterben auf lebensfeindlichen Planeten, weil ein einzelner Virus selbst das beste Immunsystem des Universums austricksen kann oder parasitäre Lebensformen sich in den Körpern einnisten und sie langsam von innen heraus auffressen. Im Föderationsrat gibt es bereits eine starke Opposition gegen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge.“
„Die Entscheidung wird lange Zeit brauchen. Die Union kennt den Krieg nicht. Ihr Verstand ist so langsam, wie es für das Uhrwerk des Universums nötig ist. Kosmische und Naturkatastrophen sind alles, was ihn bisher beansprucht hat. Sie sind keine Soldaten und sie haben es schon lange verlernt, Entscheidungen zu treffen. Zudem fürchten sie uns und machen uns für unser Schicksal selbst verantwortlich.“
Die Kaiserin wandte sich wieder ab, schritt langsam zum efeubewachsenen Balkongeländer und blickte hinunter auf den Innenhof des Palastes. Das Wappen ihres Hauses, eine stilisierte Galaxie mit einem Schild und einem Schwert im Vordergrund, waren kunstvoll als Mosaik in den Boden eingelassen. Nicht mehr lange, dann würden sich nur noch dunkle Aschewolken auf den goldenen Steinen spiegeln.
„Schwert und Schild. Die Waffen unserer Vorfahren. Als Ehrenmänner traten sie in der Schlacht gegeneinander an. Nur ihnen verdanken wir die Ideale, die das Reich zehn Millennien zusammengehalten haben. Bald wird niemand mehr da sein, der ihr Andenken bewahrt. Ich kann das nicht zulassen.“
„Eure Majestät, ich bitte Euch. Es gibt keine Option. In wenigen Wochen wird Conmera endgültig eingekesselt sein. Dann gibt es keinen Weg mehr zu entkommen. Ihr müsst jetzt handeln. Mit jeder Stunde die verstreicht sind Millionen dem Tode geweiht.“
„Ich werde nicht fliehen. Niemals.“
„Niemand erwartet das.“
Das dünne Kleid der Kaiserin bauschte sich im Wind, entblößte ihre nackten Füße und ließ sie sichtlich frösteln. Krynnyrk betrachtete die perfekten Rundungen ihres Körpers und fragte sich, warum etwas so Wunderschönes in dieser Zeit und an diesem Ort solche Verantwortung auf sich nehmen musste. Das Volk liebte sie und würde alles für sie tun. Vielleicht war das ihre Mission, die Aufgabe, die Gott für sie bestimmt hatte. Nur schwach vernahm der kaiserliche Berater die Stimme seiner Herrin, denn der Wind blies nun kräftiger.
„Die Union ist sehr offen.“
„Was meint Ihr damit, Eure Hoheit?“
„Sie kennen keine Zensur, keine Propaganda und keine verdrehten Wahrheiten.“
„So ist es. Alle Informationen werden allen zugänglich gemacht. Mit ein Grund für unsere Probleme, Eure Hoheit.“
„Mag sein.“
Lyenneyls Stimme nahm mit einem Mal einen festeren Klang an.
„Doch ihre Offenheit wird nun unser Mittel sein, sie für den Krieg zu gewinnen.“
„Mir fällt nichts ein, was dies ermöglichen würde. Weiht mich in Eure Pläne ein, Eure Hoheit, ich bitte Euch.“
Einer der Lichtpunkte am Himmel, der aufgrund seiner langsamen Bewegung kein Stern sein konnte, blitzte auf und zeigte damit an, dass ein Raumschiff in der Umlaufbahn um Conmera, seine Haupttriebwerke kurz gezündet hatte. Mit etwas Vorstellungskraft konnte man erahnen, dass die Nacht beinahe zum Tage werden würde, wenn alle Schiffe gleichzeitig beschleunigten.
Krynnyrk konnte sehen, wie die Kaiserin ihren Kopf wieder in den Nacken legte, um den Himmel zu beobachten.
„Ich habe neue Befehle für die Gardeflotte. Sie werden die gesamte Verteidigungsstrategie ändern. Ruf den Großadmiral.“
Der alte Mann hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Dennoch zwang er sich, die aufsteigende Traurigkeit zu verbannen. Für sie war später noch Zeit.
Sekunden später erschien die Gestalt des Großadmirals auf dem Balkon. Der hochgewachsene Mann tauchte genau hinter der Kaiserin auf, doch das geschah nur vor Krynnyrks innerem Auge. Wo die Kaiserin den Oberkommandierenden des Conmera Unisektors sah, konnte er nur vermuten.
„Ich grüße Euch, Herzog Lerrel von Helmster, Großadmiral der kaiserlichen Flotte im Unisektor Conmera.“
Nachdem der Admiral den förmlichen, aber stark gekürzten Gruß erwidert hatte, begann die Kaiserin erneut zu sprechen.
„Ich wünsche, dass die Gardeflotte sich auf die Verteidigung der Festung Minconda konzentriert. Die Sendestationen haben dabei höchste Priorität. Das selbe gilt für die Mondbasis und die solarorbitalen Relaisstationen. Alle anderen defensiven Maßnahmen werden minimiert.“
Der Großadmiral verzog keine Miene. Trotz seines Ranges eine reife Leistung, wie Krynnyrk fand. Mit knapper Geste bestätigte er den Empfang der verschlüsselten Daten, die eingetroffen waren während die Kaiserin gesprochen hatte und die seine Einsatzbefehle vervollständigen würden. Der Würfel war gefallen.
Ronco rannte durch die Straßen, vorbei an Leuten, die etwas langsamer in die gleich Richtung gingen wie er und die sich leise, aber aufgeregt unterhielten. Die Anzeige, die kurz im rechten Winkel seines Blickfeldes auftauchte, verriet ihm, dass er nur noch wenige Minuten hatte sein Ziel zu erreichen. Die Straßen wurden immer voller, je näher er kam und nun erkannte er auch die ersten Gardesoldaten, die in den Straßen standen und dabei völlig unbeteiligt wirkten. Keuchend rannte er um die letzten Ecken, dann kam der entscheidende Sprint am Mausoleum entlang.
Endlich, er hatte es geschafft. Der große Platz vor dem Palast lag vor ihm. Er war restlos überfüllt mit Menschen, die kaum einen Ton von sich gaben und nur unsicher zum Palast und dann wieder in den Himmel schauten. Doch Ronco kannte den Anblick, der sich dort oben bot. Die Schiffe der Gardeflotte würden wie jeden Tag im niederen Orbit ihre Bahnen ziehen, wie zu groß geratene Käfer, die statt Beinen Waffenbatterien hatten. Der Junge kam zum stehen, als die Menge vor ihm zu dicht wurde um noch weiterzulaufen. Jede Woche geschah es inzwischen, dass die Kaiserin zum Volk sprach, das war normalerweise höchstens einmal in fünf Monaten der Fall. Doch Ronco störte es nicht. Er hörte die Reden kaum, denn er hatte nur Augen für sie, die große Kaiserin des conmeranischen Reiches. Sie war die schönste Frau des Universums und Ronco würde sein Leben für sie geben.
Ein Summen erregte seine Aufmerksamkeit und als er sich kurz umsah, erkannte er kleine Drohnen, die über den Köpfen der Leute schwebten. Er erkannte den Typ, der eigentlich für die audiovisuelle Nachrichtenübertragung gedacht war und wunderte sich, warum so viele dieser Drohnen unterwegs waren. Doch er kam mit seinen Grübeleien nicht sehr weit, denn mit einem Raunen wandten sich die Köpfe der Menschen zum Palast hin und ein einzelner, dumpfer Gongschlag ermahnte auch die letzten zur Aufmerksamkeit. Ronco starrte wie gebannt zu der durchsichtigen Kuppel hinauf, die sich über dem Hauptportal des Palastes in über 20 Metern Höhe befand. Nie würde sich die Kaiserin so einfach der normalen Luft aussetzen. Viel zu groß war die Gefahr eines Attentats, früher durch die Thronerben, heute durch das Imperium. Dennoch war die Kaiserin deutlich zu erkennen, zumindest erweckte die Kuppel den Eindruck. Ronco hatte nicht herausfinden können, ob die Kuppel nur ein geschickt getarnter Bildschirm oder tatsächlich durchsichtig war.
Wenn die Kaiserin sich normalerweise zeigte, war die Stimmung selbst in schlechten Zeiten immer ausgelassen und fröhlich gewesen. Stets hatte ein Orchester die Hymne des Herrscherhauses gespielt. Doch seit der Krieg so nahe gekommen war, hatte das aufgehört. Heute jedoch, fehlte jegliches Zeremoniell. Nicht einmal angekündigt wurde die Kaiserein Lyenneyl, sondern lief einfach in die Kuppel hinein und blickte zu ihrem Volk hinunter. Ronco hatte hervorragende Augen und trotz der großen Entfernung konnte er sie deutlich erkennen. Dennoch erhöhte er den Zoom und betrachtete die Kaiserin aus der Nähe. Ronco hatte sie schon einmal so gesehen, das war gewesen, als ihr Sohn und letzter Thronerbe in der Schlacht um Sheylly gefallen war. Der Junge spürte, wie sich ihm plötzlich die Kehle zusammenschnürte. Langsam wanderte sein Blick nach oben, ohne das der Kopf sich mitbewegte. Doch dann warf er seinen Blondschopf mit einer ruckartigen Bewegung in den Nacken und starrte mit offenem Mund auf zum wolkenlosen Himmel. Die Gardeflotte war verschwunden ...
Krynnyrk hörte der Rede der Kaiserin kaum zu. Verlassen stand sie inmitten der schützenden Kuppel und sprach zu ihrem todgeweihten Volk, machte ihm klar, dass der Tod im Kampf ein besserer war, als der langsame, schleichende Tod im Exil. Sie sprach von einer neuen Zeit und einer neuen Aufgabe, sie sprach vom Versagen des Reiches. Oh ja, sie würden kämpfen. Männer, Frauen und auch die Kinder soweit sie alt genug waren. Sie alle würden sich dem Feind entgegenstellen in einem sinnlosen Aufbegehren. Doch ihr Tod würde unvergessen bleiben, dokumentiert von Millionen kleiner Drohnen, die die Bilder über die gut bewachten Sendeantennen nach Preysha funken würden, wo sie von den Truppen der Föderation und den Botschaftern der Union empfangen werden würden. Alles andere lag nicht mehr länger in ihren Händen. Die Tage der conmeranischen Kaiser waren gezählt. Krynnyrk wandte sich ab. „Möge Gott uns vergeben.“
Bearbeitet von Sandnix, 03 Juni 2005 - 20:38.