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SENTRY - Die Abenteuer des Jack Schilt


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#1 mikey

mikey

    Nochkeinnaut

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Geschrieben 24 September 2005 - 18:09

SENTRY - Die Abenteuer des Jack Schilt
Kapitel 19 Ar-Nhim
( L e s e p r o b e )

Unergründlichste Schwärze umgab Avalea, eine Schwärze, die in ihrer Undurchdringlichkeit weite Schatten auf ihre gefangene Seele warf. Allgemeine Niedergeschlagenheit hatte sich breit gemacht und das Kommando übernommen. Allen war die entsetzliche Hoffnungslosigkeit ihrer Lage bewusst. Dennoch verhielten sie sich bemerkenswert ruhig und gefasst. Als die letzte Fackel erloschen war, befürchtete Krister eine einsetzende Panik. Aber dem war nicht so. Ergeben hatten sie das Gepäck abgelegt und sich auf dem kühlen und feuchten Boden niedergelassen. Avalea bat darum, bei der Hand gehalten zu werden, um nicht das beunruhigende Gefühl zu bekommen, ganz alleine dieser unendlichen, lautlosen Nacht ausgesetzt zu sein. So hielten sie sich an den Händen, was auch auf die beiden Männer beruhigend wirkte. Avalea war es auch, die eine lange Periode des Schweigens brach.
„Was tun wir jetzt?“
Krister, aus tiefen Gedanken gerissen, zuckte mit den Achseln, eine hilflose Geste, die niemand sehen konnte. „Ich weiß es nicht. Ich denke, wir werden trotz allem irgendwann versuchen, weiterzugehen.“
Avalea schauderte es bei der Vorstellung, ihres wichtigsten Sinnes beraubt, durch ein gänzlich unbekanntes Nichts zu stolpern. Es war bereits im Lichte der Fackel unerträglich gewesen, nun aber, ohne Sicht und damit ohne jede Chance auf Orientierung durch ein wer weiß wie großes System aus nicht enden wollenden Höhlen und Gewölben zu irren, durch ein unterirdisches Land, in das sich noch nie das Licht der Sonne verirrt hatte, kam es ihr ganz und gar unmöglich vor.
„Ich will hier nicht sterben“, klagte Luke plötzlich, und seine trostlose Stimme verriet seinen lähmenden Angstzustand.
„Hör auf damit!“ rief Krister scharf. „So schnell stirbst du schon nicht.“
„Ach ja? Vielen Dank auch noch dafür, dass du uns hierher gebracht hast. Würde es nach mir gegangen sein, wären wir schon vor Stunden umgekehrt. Die ganze Zeit bergab zu gehen war doch purer Schwachsinn!“
Krister wollte etwas erwidern, schwieg aber betroffen. Lukes Worte bedrückten ihn mehr, als es die ganze Situation ohnehin tat. Noch mehr schmerzte die Einsicht, dass er womöglich Recht hatte.
„Sei doch still, Luke!“ sagte Avalea. „Keiner hat Schuld. Es ist passiert. Aber noch sind wir nicht tot.“
„Nur eine Frage der Zeit“, murmelte Luke mürrisch. Nicht zum ersten Mal bereute er, darauf bestanden zu haben, bei diesem waghalsigen Abenteuer mitzuwirken. Das Leben in Port West hatte ihn deprimiert, okay, aber vor die Wahl gestellt zu werden, tief unter der Erde elendig zu verrecken oder ein gleichgültiges Dasein in Teilnahmslosigkeit zu führen - aber immerhin am Leben zu sein - hätte ihn keinen Moment zögern lassen, letztere Option zu wählen. Nun war es zu spät, die Würfel gefallen, sein Dasein kurz vor dem Ende. Und was für ein dummes, sinnloses Ende das war. Durchaus noch sinnloser, als das Leben, das er zu Hause zu führen geglaubt hatte. Er sehnte sich beinahe zurück in dieses alte Leben, in die vielen vertrauten Einsamkeiten, die es zusammenhielten, die unausgefüllten Tage und langen Nächte voller orientierungsloser Sehnsüchte, abgeschotteter Ängste, unerfüllbarer Träume.
„Armer Jack“, hörte er Avalea plötzlich sagen. „Es tut so weh, mir vorzustellen, wie lange er auf uns warten wird†¦ und wir werden nicht kommen†¦ und er wird niemals wissen, wo wir sind†¦ was aus uns geworden ist...“
„Er wird schlau genug sein, sich auszumalen, was uns zugestoßen ist“, kommentierte Luke trocken, dem Mitleid gegenüber Jack Schilt völlig unangebracht vorkam.
„Geht es nur mir so, oder seid ihr auch so müde?“ fragte Avalea. „Diese verdammte Dunkelheit macht mich richtig fertig.“
„Wir können ja eine Runde schlafen“, schlug Krister vor. „Danach schöpfen wir bestimmt neuen Mut.“
„Ich glaube, dass ich nicht einschlafen kann. Ich bin viel zu aufgewühlt. Würdet ihr bitte weiterhin meine Hand halten, falls es mir doch gelingt?“
Luke und Krister erfüllten ihr diesen Wunsch. Sie legten sich nieder, ohne den Körperkontakt aufzugeben. Bald fielen alle in tiefen Schlaf. Der Stress der letzten Stunden sowie die Aussichtslosigkeit ihrer Situation hatten nicht wenig Energie gekostet.
Als Luke erwachte, konnte er sich erst nicht erklären, wo er sich befand. Kein Wunder, die tiefste Nacht seines bisherigen jungen Lebens umgab ihn. Er blinzelte mehrmals, und als die Finsternis nicht weichen wollte, drängten die Ereignisse mit Macht in sein noch schläfriges Bewusstsein. Von einer Sekunde auf die andere fühlte er sich niedergeschmettert, als wäre es dem Schlaf nicht gelungen, seine Energiereserven aufzuladen. Fassungslos ließ er seinen Kopf wieder sinken. Panik ergriff ihn, als er bemerkte, die Hände der anderen nicht mehr zu spüren. Sein Atem wurde plötzlich hörbar. Die Vorstellung, sich ganz und gar alleine in dieser unendlich großen Hölle aus undurchdringlicher Schwärze zu befinden, kam wie ein Schock über ihn. Mit beiden Armen tastete er hektisch seine unmittelbare Umgebung ab und berührte dabei den Stoff von Avaleas Kleid, kurz darauf auch ihren nackten Unterarm. Große Erleichterung machte sich in ihm breit, tröstend wie eine warme Wolldecke an einem frostklaren Wintermorgen.
Luke rollte sich auf den Rücken und starrte mit weit geöffneten Augen in das Nichts über ihm. Er führte seine rechte Hand vor sein Gesicht, doch nicht einmal der Hauch einer Schattierung war erkennbar. Er blickte nach links, dann nach rechts, nur um festzustellen, dass dies nicht den geringsten Unterschied machte.
Aber halt, was war das?
Seine Augen, die sich nach Helligkeit und Sonne sehnten, gaukelten ihm wohl ein Wunschbild vor. Es kam ihm so vor, als wäre die tiefe Schwärze, die ihn von allen Seiten umgab, eine Nuance heller, wenn er über seine rechte Schulter blickte. War das die Richtung, aus der sie gekommen waren oder in die sie gehen wollten? Er hatte nicht die geringste Ahnung mehr, die totale Finsternis hatte all seine Sinne ausgelöscht, sich wie ein Unheil bringender Schleier über jede Empfindung und Wahrnehmung gelegt. Er schloss die Augen und alles war schwarz. Er öffnete sie wieder und alles blieb unverändert schwarz. Sah er jedoch nach rechts, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, einen immens schwachen Widerschein wahrzunehmen. War es eine Täuschung? Eine Halluzination? Begann schon der Wahnsinn?
„Ich glaube, ich fange an, durchzudrehen“, flüsterte er leise.
„Dann bist du nicht allein“, antwortete ihm die beruhigende Stimme Kristers.
„Halte mich für verrückt, aber mir kommt es jetzt schon zweimal so vor, als ob die Dunkelheit rechts von mir heller sei als links.“
„Deine Augen spielen dir einen Streich“, erwiderte Krister. „So etwas Ähnliches glaubte ich auch schon zu sehen.“ Eine lange totenstille Pause entstand. Doch wirkten Lukes Worte allmählich in seinem Gehirn nach und zogen Kreise wie ein ins Wasser geworfener Kieselstein. Er wusste um die außergewöhnliche Schärfe der Augen seines Stiefbruders und spürte, wie die Vorstellung, dass er mit seiner Äußerung vielleicht doch Recht haben könnte, den Samen der Hoffnung keimen ließ. Zum hundertsten Male sah er sich nach allen Seiten um, konnte jedoch keinen Unterschied ausmachen. Für ihn blieb alles nuancenlos schwarz.
„Natürlich kann ich mich täuschen“, sagte Luke nach einer langen Weile. „Jetzt, wo ich erwarte, eine Ungleichheit zu sehen, erkenne ich auch keine mehr.“
„Wie dem auch sei, wir sollten der Sache auf den Grund gehen.“ Krister drückte Avaleas Hand und sie erwachte augenblicklich. Zögernd kam sie seiner Aufforderung, aufzustehen, nach und zog damit auch Luke in die Höhe. Sie war von seiner „Entdeckung“ unvoreingenommen begeistert.
„Gehen wir doch einfach in diese Richtung“, schlug sie sogleich vor. Was haltet ihr davon? Wir können sowieso nicht für alle Zeiten hier sitzen bleiben.“ Sie ertasteten ihr Gepäck, legten es an und ergriffen sich anschließend wieder an den Händen. In einer Dreierreihe marschierten sie unsicher los, Luke an der Spitze, dann Avalea und schließlich Krister. In absoluter Dunkelheit zu laufen erwies sich komplizierter als erwartet. Beständig stießen die drei aneinander, traten sich auf die Füße oder stolperten über Unebenheiten.
„Laufen wir in die richtige Richtung?“ erkundigte sich Krister, nachdem eine seiner Meinung nach angemessene Zeit verstrichen war. Luke konnte darauf keine zufrieden stellende Antwort geben, denn er wusste es selbst nicht. Die Tatsache, noch nicht gegen eine Wand gelaufen zu sein, bestärkte ihn jedoch in seiner positiven Annahme.
„Ja, ich denke doch“, antwortete er. „Können wir kurz mal stehen bleiben?“
Sie hielten an. Luke blickte zurück in die Richtung, aus der sie kamen und schließlich in die, in die sie gingen. War da ein Unterschied? Er kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. Nein, da war nichts. Rein gar nichts. Sein Mut sank auf Grundeis, doch er ließ sich nichts anmerken. „Okay, weiter geht†™s.“
Und sie stolperten weiter. Unendliche Minuten verstrichen, ketteten sich aneinander und bildeten schließlich Ewigkeiten. Alles, was sie vernahmen, war das Scharren besohlter Füße auf dem felsigen Boden und ihren allmählich stoßweise kommenden Atem. Weder Avalea noch Krister wagten es, den tiefen Zweifel, den sie in sich spürten, in Worte zu fassen. Beide klammerten sich an die verschwindend geringe Hoffnung, dass Luke tatsächlich so etwas wie einen Lichtschimmer wahrgenommen hatte.
„Was ist?“ fragten Krister und Avalea wie aus einem Munde, als Luke plötzlich abrupt stehen blieb und beide in ihn hineingelaufen waren.
„Wenn ich auch bis eben noch nicht sicher war, ob ich meinen Augen vertrauen durfte, jetzt bin ich es. Seht ihr es nicht? Vor uns wird es heller. Ich werde wahnsinnig!“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Freude.
Krister stellte noch immer nicht den geringsten Unterschied fest, sah aber keinen Grund, Lukes Worte anzuzweifeln. „Erstklassig, Luke!“ rief er aufmunternd. „Ich sehe zwar überhaupt nichts, aber du bist ja für deine Adleraugen bekannt.“
Avalea, deren Wahrnehmung sich nicht von Kristers unterschied, drückte Lukes Hand so fest sie konnte. „Du bist ein Schatz!“ rief sie entzückt aus. Sie mussten jedoch noch lange marschieren, bis sowohl Krister als auch sie des unendlich schwachen Lichtscheins gewahr wurden.
Nun war es nicht mehr von der Hand zu weisen. Irgendwo vor ihnen, womöglich noch viele Stunden Taumeln und Stolpern durch die Dunkelheit entfernt, musste sich ein Ausgang befinden oder zumindest eine Öffnung, ein Spalt, durch den Tageslicht drang. Aber welche Art Licht lag vor ihnen? Sie hatten zwar jegliches Zeitgefühl verloren, aber selbst wenn draußen helllichter Tag sein sollte, konnte es sich bei der wagen Helligkeit vor ihnen unmöglich um Sonnenschein handeln. Dazu waren sie einfach zu tief unterhalb der Erdoberfläche. Vielleicht drang es durch einen Schlot ein, einem ähnlichen, den sie bereits hochgeklettert waren. Etwas anderes konnten sie sich nicht erklären, also hieß es abwarten und weitergehen.
Eine weitere Ewigkeit verging, bis die Welt um sie herum allmählich tiefgrau wurde und sich langsam, ganz langsam, die ersten schemenhaften Umrisse ihrer Umgebung aus dem allmächtigen Schwarz herauslösten. Ihre Herzen füllten sich mit frischer Zuversicht und dann dauerte es nicht mehr lange, bis sie wieder einigermaßen sehen konnten. Welch ein Genuss für ihre so lange erblindeten Augen! Sie liefen nun genau auf ein Licht zu, ein unwahrscheinlich reines, diffuses Weiß, dessen Ursprung nicht mehr weit entfernt liegen konnte. Je näher sie ihm kamen, je mehr Augenlicht sie zurück gewannen, desto schneller wurden ihre Schritte, desto größer das Verlangen, die Dunkelheit, durch die sie gewandert waren, für immer hinter sich zu lassen.
Sie erreichten endlich ein viele Meter hohes und breites Portal, eine Öffnung in der Felswand, die so aussah, als wäre sie einmal aus dem rohen Fels herausgehauen worden. Durch diese Pforte drang das geheimnisvolle weiße Licht, das den ganzen Vorraum erhellte, in dem sie sich nun befanden. Eines stand damit auf jeden Fall schon einmal fest: auf der anderen Seite war kein Ausgang aus diesem unterirdischen System aus Höhlen, Schloten und Gängen. Worum es sich bei diesem Licht auch immer handeln mochte, Tageslicht war es mit Sicherheit nicht.
Vor dem Portal blieben sie erst einmal unschlüssig stehen und sahen sich verdutzt an. Viel hatten sie erhofft, einen Tunnel, der in die Freiheit führte natürlich am meisten, aber nicht so etwas. Der riesige Durchgang sah so aus, als hätte sich einmal vor langer Zeit ein Tor in ihm befunden, das es nun nicht mehr gab. Der Ursprung der Lichtquelle erschien ihnen plötzlich geheimnisvoller als das gesamte Höhlensystem, das sie durchwandert hatten. Krister sah keinen Anlass, in der puren Existenz des Lichtes eine Gefahr zu sehen, also nahm er sich ein Herz und schritt als erster durch die Pforte hindurch. Avalea und Luke zögerten nur einen Atemzug länger.
Vollends überrascht und rundweg sprachlos blieben sie auf der anderen Seite stehen. Weit offen standen ihre Münder, denn was sie zu sehen bekamen, überbot bei weitem ihre Vorstellungskraft.
Das gewaltige Gewölbe, das sie betraten, übertraf in seinen Ausmaßen alles bisher Gesehene. Es war unergründlich hoch, unergründlich tief und unergründlich lang, in all seinen Dimensionen einfach unergründlich. Von ihrem Standort aus konnten sie weder einen Anfang noch ein Ende ausmachen. Doch das Außergewöhnlichste stellten die Lichtquellen dar, die das ganze Gewölbe mit einem rein weißen, angenehm matten Licht aufs Bizarrste ausleuchteten. Es waren ovale Steine, die sich in allen Größen überall in dem gewaltigen unterirdischen Saal befanden. Sie sprossen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen aus dem felsigen Boden, hingen in nicht zu erkennender Anordnung offenbar wahllos in den Felswänden, soweit das Auge reichte, und schimmerten als schwache Lichtpunkte von der sich weit über ihnen befindlichen Höhlendecke wie funkelnde Sterne von einem nächtlichen Firmament herunter. Eine wahrhaft groteske Szenerie, die den drei unfreiwilligen Eindringlingen zunächst einmal den Atem raubte und sie völlig wortlos zurückließ. Noch nie hatten sie so etwas gesehen, geschweige denn von seiner Existenz geahnt. Es war, als hätten sie eine komplett andere Welt betreten.
Krister stand wie angewurzelt da und saugte die neuen Eindrücke wie ein trockener Schwamm Flüssigkeit in sich auf. Noch bevor er großartig nachdenken konnte, löste sich spontan ein Erinnerungsfetzen aus der Tiefe seines perplexen Gehirns und formte sich zu einem Wort, das er leise und dennoch verständlich artikulierte.
„Sonnenfindlinge“, flüsterte er ergriffen und begann erst jetzt bewusst das soeben Geäußerte wahrzunehmen.
Während Luke nicht darauf reagierte, sah es mit Avalea anders aus. Mit einer verblüffend schnellen Bewegung, ähnlich der einer Schlange, die auf ihre Beute zustieß, ruckte ihr Kopf herum und mit zu Schlitzen verengten Augen fixierte sie Krister wie einen unerwartet aufgetauchten Feind. „Woher kennst du dieses Wort?“ zischte sie ihn an. „Sprich!“
Krister musterte sie erstaunt und wusste nicht mehr, was er ungewöhnlicher finden sollte, die unvergleichliche Entdeckung oder Avaleas unvermutete Reaktion auf ein Wort, das er unbeabsichtigt geäußert hatte und ihr nicht gerade fremd erschien. Nicht zum ersten Mal überraschte ihn diese Skiava aus Laurussia.
„Welches Wort?“ Er beschloss, sich erst einmal dumm zu stellen, um herauszufinden, was sie wusste. In seinem Gehirn aber jagte ein Gedanke den anderen. Nur er und Jack konnten diesen Namen kennen, denn nur sie besaßen das Wissen ihrer Ahnen, ein Wissen, das der Menschheit auf Gondwana vor Jahrhunderten geraubt worden war. Die Aufzeichnungen von Radan waren nur ihm, Rob und Jack bekannt, keinem anderen sonst. Dennoch stand vor ihm eine Person, eine uralte Skiava mit dem Aussehen einer jungen Frau, die mit diesem Begriff etwas anfangen konnte. Mit der Exklusivität seines Wissens schien es nicht weit her zu sein.
„Du sagtest †šSonnenfindling†™“, wiederholte Avalea den Namen. Tiefstes Misstrauen lag in ihrer Stimme, als sie weiter sprach. „Woher weißt du, wie man sie nennt? Wer hat dich mit der Terminologie der Ar-Nhim vertraut gemacht?“
„Der wer?“ Nun musste sich Krister nicht länger verstellen. „Keine Ahnung, wovon du sprichst.“
Avalea schien sich einen Deut zu entspannen, fixierte ihn jedoch weiterhin argwöhnisch. Dann lächelte sie, ein unheimliches, kaltes Lächeln, das etwas Grausames an sich hatte und Krister zutiefst beunruhigte. Instinktiv tastete er nach seinem Messer, eine Bewegung, die ihm, ihrer bewusst geworden, absurd vorkam, und die auch Avalea nicht verborgen geblieben war.
„Ihr Menschen seid nicht zu unterschätzen“, sagte sie mit maliziöser Stimme, die ihre kompromisslose Abneigung der Menschheit gegenüber ein weiteres Mal gnadenlos offen legte. Krister wusste nicht, ob er es als Kompliment oder Drohung auszulegen hatte. Der tief verwurzelte Zweifel an ihrer Integrität, den er schon gespürt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, bahnte sich seinen Weg, als er sagte: „Das ganze hier scheint dir nicht unbekannt zu sein. Du warst schon einmal hier, habe ich Recht?“
„Eine Frage, die ich dir auch stellen könnte. Dennoch, nein, ich war noch nie hier. Ich bin nur zutiefst überrascht, den Begriff †šSonnenfindling†™ aus deinem Mund zu hören. Das Alte Wissen hat es offensichtlich geschafft, die Zeiten zu überdauern. Wer hätte das gedacht.“
„Von welchem †šAlten Wissen†™ sprichst du?“
Sie lächelte wieder. Doch es war nichts mehr Beklemmendes darin, im Gegenteil. Ihre andere Seite, die er kennen gelernt hatte - und die sein Misstrauen ihr gegenüber schärfte - war wieder verschwunden, als sie mit unschuldigem Gesichtsausdruck sagte: „Die Sonnenfindlinge zum Beispiel sind ein Teil davon. Ich habe noch nie zuvor welche gesehen. Aber gerade als mir klar zu werden begann, was wir soeben entdeckt haben, sprachst du es aus. Verstehst du? Ich, der ich mit der Alten Zeit einigermaßen vertraut bin, weil ich sie zu einem Teil erlebt habe, wurde von dir, der davon eigentlich gar nichts wissen dürfte, vollkommen überrumpelt. Ihr Menschen seid doch immer für eine Überraschung gut.“
„Wovon faselt ihr denn da eigentlich?“ schaltete sich Luke endlich ein, der der ganzen Auseinandersetzung bisher sprach- und tatenlos beigewohnt hatte.
„Sieht so aus als hält uns Hyperion für unterbelichtet“, sagte Krister an ihn gewandt, und es klang in Avaleas Ohren beißender als beabsichtigt. Sie mit Hyperion gleichzusetzen, musste schmerzhaft sein. Wenn es sie getroffen hatte, verbarg sie es jedoch geschickt.
„Das habe ich wohl verdient“, sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Tut mir leid, das sollte so nicht rüberkommen.“ Krister sah sich genötigt, die Gangart zu wechseln. Dass sein Vertrauen in Avalea erschüttert war, wollte er sich nicht unbedingt anmerken lassen. „Aber nun sag schon, was du weißt. Mit Sicherheit mehr als ich. Ein guter Zeitpunkt, mehr Offenheit walten zu lassen.“
Sie zögerte einen kurzen Augenblick, bevor sie den Kopf schüttelte, als ärgerte sie sich über etwas ganz und gar Sinnloses. „Du hast Recht, Krister. Aber verstehe bitte auch mich. Menschen zu vertrauen kostet mich noch immer Überwindung. Und ich lerne gerade, euch zu vertrauen.“
Krister nickte. „Gut, ich auch, damit sind wir auf einer Ebene.“
Luke blinzelte, als erwachte er gerade aus einem Traum. „Kann mir einer bitte erklären, was da gerade zwischen euch abgeht?“
Avalea lächelte ihr gütigstes Lächeln. Damit wickelt sie mich nicht mehr ein, dachte Krister und bedauerte die negative Entwicklung der Dinge. Ganz ehrlich war er nicht mit ihr gewesen. Er hatte ihr bereits vertraut und tat es nur jetzt nicht mehr. Reagierte er womöglich zu voreilig? Konnte er sich überhaupt anmaßen, sich im Seelenleben einer Skiava auszukennen? Was, wenn er ihr Unrecht tat?
„Offenheit gegen Offenheit“, bot Avalea an.
„Klingt gut“, erwiderte Krister knapp.
„Hey, Krister, was ist los mit dir? Man könnte meinen, Avalea hätte dir etwas angetan.“
Bevor er reagieren konnte, ergriff Avalea das Wort. „Er hat vollkommen Recht, Luke. Ich hätte schon viel weiter sein müssen. Aber wie ich bereits sagte, mein Vertrauen in die Menschen wurde früh enttäuscht, sehr früh. Ich hätte längst lernen müssen, dass ihr aus dem Norden anders seid. Okay, Krister, Offenheit gegen Offenheit.“
„Eine gute Wahl. Also, wer oder was sind die Ar-Nhim?“
Sie blickte ihn abschätzend an, wie ein Kind, das eine Frage weit vor seiner Zeit stellt. Dann atmete sie tief durch und sagte: „Die Ar-Nhim sind das Volk von Ar-Nhim-Ghaia, dem Roten Herrscher.“
Krister überlegte kurz. „Der Rote Herrscher hatte ein Volk?“
„Ja, und das Unglaublichste an der ganzen Sache ist, dass wir gerade eben den Beweis erbracht haben. Verstehst du denn nicht? Wir sind ganz unverhofft in das unbekannte Reich der Ar-Nhim eingedrungen, wir haben damit eine Legende legitimiert.“
„Ich dachte bisher immer, der Rote Herrscher ist eine Art Gott der Opréu.“
„Das ist er ohne Zweifel. Aber wie es immer mit Göttern ist, sie sind mehr Schein als Sein. Der Rote Herrscher ist kein Gott. Er ist ein Lebewesen wie du und ich. Nun ja, vielleicht ein unglücklich gewählter Vergleich. Was er mit den Menschen gemein hat, ist im Grunde nur die Tatsache, dass er und sein Volk nicht von dieser Welt sind.“
Wenn Avalea jetzt erwartet hatte, Krister vollkommen zu konsternieren, sah sie sich getäuscht. Seit Radan hatte er sich mit dem Gedanken anfreunden müssen, ein Eindringling in einer fremden Welt zu sein, etwas, das sich mit der Zeit relativiert hatte und im Grunde verarbeitet war. Er sah auch keinen Grund mehr, Avalea etwas vorzuspielen. Offenheit gegen Offenheit. In diesem Falle vergütete er Vertrauen mit Vertrauen.
„Das ist mir bekannt“, sagte er. „Dass der Ursprung der Menschheit auf einem Planeten mit dem Namen Erde liegt, entzieht sich nicht meiner Kenntnis.“
„Bitte?“ Wenigstens Luke war komplett verwirrt.
„Du bist gut informiert, Krister.“ Avalea schien nicht im Mindesten irritiert. Es klang vielmehr anerkennend. „Wer immer deine Quellen waren, sie waren gut. Zeit, dass du es erfährst, Luke, wenn du es bis jetzt nicht wusstest.“
„Man könnte meinen, die Dunkelheit der letzten Stunden hat eure Sinne vernebelt. Ihr kommt mir wie zwei Fremde vor.“
„Luke, erinnerst du dich daran, dass ich dir vor unserem Abschied aus Port West einmal sagte, dass dich diese Reise womöglich sehr verändern könnte? Ich weiß noch genau, du antwortetest, jede Veränderung sei besser als der Stillstand, den du in Avenor empfändest.“
Luke nickte stumm.
„Dann höre zu und lerne die Wahrheit kennen.“ Krister wandte sich wieder an Avalea. „Der Rote Herrscher wurde in der Schlacht am Algon von den Ermela vernichtet. Er existiert nicht mehr.“
„Du irrst. Er existiert nach wie vor.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich habe in dieser Zeit gelebt. Ich weiß es. Die Ermela hatten nicht die Macht, ihn zu töten. Sie konnten ihn nicht eliminieren. Also bannten sie ihn.“
Wenn das stimmte, waren es Neuigkeiten für Krister. Die Aufzeichnungen von Radan besagten zwar etwas anderes, aber letzten Endes waren sie von Menschen niedergeschrieben worden. Und Menschen, wie er wusste, irren oft†¦
Avalea wandte sich von Krister und Luke ab und ließ ihren Blick erneut durch das riesige Gewölbe streifen. „Einfach unfassbar, was wir hier entdeckt haben. Eine Sensation, die ihresgleichen sucht. Das alte Reich der Ar-Nhim! Viele haben es tief im Süden in den riesigen Weiten des Eisgebirges vermutet. Niemand ahnte, dass es so nahe ist.“
„Sind uns die Ar-Nhim feindlich gesinnt? Müssen wir uns vor ihnen in Acht nehmen?“
„Nicht mehr, Krister. Sie sind alle tot. Mit einem hast du Recht. Die Schlacht am Algon war der Endpunkt in der Geschichte der Ar-Nhim auf Gondwana. Nicht aber ihres Anführers. Der Rote Herrscher, oder Ar-Nhim-Ghaia, wie ihn die Uhleb nennen, hat überlebt. Er existiert weiterhin.“
„Und hier unten lebte einst sein Volk?“
„Ja. Die Uhleb nennen dieses verschwundene Reich Tarma-tjo-uhzuba, übersetzt etwa †šLand der Scheinenden Steine†™, wobei uhzub vielmehr ein Ausdruck für etwas ist, das von innen heraus glüht, ein Stern etwa. Die Menschen in Laurussia haben daraus den Begriff Sonnenfindling abgeleitet. So ist dieser Name entstanden. Soviel ich weiß, sind Informationen darüber niemals nach Aotearoa gelangt.“ Sie blickte Krister an. „Das dürfte hiermit revidiert sein.“
„Stimmt. Es gibt Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Der Große Krieg hat sie wie auch immer nach Norden gespült. Darin ist von einem unbekannten Land die Rede, in das das Licht der Xyn keinen Zugang hat und das von geheimnisvoll strahlenden Steinen, den Sonnenfindlingen, erleuchtet ist, so hell, dass ein Mensch bei ihrem Anblick erblindet.“
Avalea nickte. „Richtig, so hieß es auch in Laurussia.“
„Diese Steine hier verbreiten ein helles Licht, sind aber keinesfalls blendend. Womöglich handelt es sich gar nicht um jene Sonnenfindlinge, sondern es gibt eine andere Erklärung für ihre Existenz.“
„Das glaube ich nicht. Sieh es so, diese Steine leuchten seit Jahrhunderten. Ihre Energie ist nicht von unendlicher Dauer und eines Tages werden sie verlöschen und ihr unterirdisches Reich, das sie eine halbe Ewigkeit treu erhellt haben, wieder für alle Zeiten in die endlose Finsternis entlassen.“
„Möglich“, gab Krister zu. „Wichtiger für uns ist aber, hier wieder herauszufinden. Einen Eingang haben wir gefunden. Wo aber ist der Ausgang?“
„Wenn die Legenden stimmen, die sich um Tarma-tjo-uhzuba ranken, ist dieses versunkene Reich gewaltig. Sollten weitere Zugänge existieren, weiß ich nicht, wie wir einen davon finden sollen.“
„Wir sind gezwungen, einen zu finden. Es müssen welche da sein. Die Ar-Nhim sind ja auch nicht mehr hier, sie haben ihr Land irgendwann verlassen. Luke, was tust du da?“
Luke hatte sich dem am nächsten liegenden Sonnenfindling genähert, einem perfekt ovalen Stein von der Größe einer Wassermelone, der nicht mehr besonders hell leuchtete.
„Was werde ich wohl tun? Ich will mir diese Steine einmal näher betrachten.“ Mit neugierigen Fingern begann er, den merkwürdigen Findling zu berühren. Seine Oberfläche war glatt und kühl und fühlte sich wie Glas an. „Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie berührt. Kommt mal her und fasst es an.“
Sie taten es. Sechs Hände legten sich auf den Findling und befühlten ihn von allen Seiten. Luke klopfte mit dem Knöchel seines rechten Zeigefingers dagegen und es klang, als pochte er gegen ein gebranntes, tönernes Gefäß. „Um welches Material handelt es sich?“
„Keine Ahnung“, sagte Krister. „Fühlt sich an wie Glas, ist aber keines.“
„Es ist nicht von dieser Welt. Die Ar-Nhim haben es aus der ihren hierher gebracht.“
„Woher willst du das wissen?“ fragte Luke interessiert. „Aus welcher Welt kommen sie?“
„Das weiß niemand. Der einzige, der darüber noch Auskunft geben könnte, ist Ar-Nhim-Ghaia persönlich. Doch den Ort seiner Verbannung kennen nur die Ermela. Tatsache ist, dass sie irgendwann auf Gondwana auftauchten. So wie die Menschen. Und sie blieben, warum auch immer. Auf viele Fragen gibt es keine Antworten. Diese hier wird sicherlich auch unbeantwortet bleiben.“
„Jedenfalls verfügen wir jetzt über genügend Licht, um unsere Reise fortzusetzen. Ich denke aber, es wird nötig sein, dass wir uns erst einmal noch etwas ausruhen. Was haltet ihr davon?“ Krister erntete ungeteilte Zustimmung. Sie breiteten ihre noch feuchten Decken auf dem kühlen Boden aus und setzten sich. In den Rucksäcken fand sich Vorrat für eine kleine Mahlzeit, die sie hungrig aßen. Dann legten sie sich nieder und versuchten etwas zu schlafen. Luke, der Glückliche, ruhte schon nach wenigen Minuten, doch Krister und auch Avalea fanden keine Ruhe. Aus verschiedenen Gründen. Während sich Krister den Kopf zerbrach, nach welchen Kriterien er sich richten sollte, sie hier wieder lebend herauszubringen, sinnierte Avalea über die einzigartige Entdeckung nach, die ihr zuteil geworden war. Tarma-tjo-uhzuba, das alte Reich der Ar-Nhim, zu finden, war für sie etwas Unvorstellbares gewesen, wie eine Reise zurück in eine längst vergangene Epoche ihres langen Lebens. Alte Erinnerungen und Betrachtungen wurden wach, die sie seit langem vergessen glaubte, und die ihrerseits tief verschüttete Emotionen freilegten. Die Aufregung darüber wollte sich nicht legen und raubte ihr den Schlaf. Um irgendetwas zu tun, erhob sie sich schließlich und blickte zufällig zu Krister hinüber, der mit offenen Augen dalag und sie beobachtete. Ihre ganze Aufmerksamkeit bündelte sich plötzlich auf ihn und drängte das noch soeben Gedachte in den Hintergrund. Es war, als fiele ein Vorhang, als wäre das, was sie soeben noch völlig ergriffen hatte, von einer Sekunde auf die andere zur Nebensächlichkeit geworden. Ihr war schon öfter aufgefallen, dass er sie manchmal ansah, sie wurde jedoch aus seinen Blicken nie ganz schlau. Spiegelte sich gerade Verlangen in seinen großen dunklen Augen? Oder handelte es sich um geschickt kaschiertes Misstrauen? Krister Bergmark war für sie ein Mysterium. Während es ihr leicht fiel, Luke oder auch Jack zu durchschauen, ihre Gedanken zu erraten, ihre nächsten Schritte vorauszuahnen, blieb Krister ein verschlossenes Buch, als gäbe es eine Barriere zwischen ihnen, die sie nicht zu durchdringen vermochte. Sie hielt seinem Blick stand, sah ihm von oben herab direkt in die Augen und versuchte, sich in ihn hineinzufühlen, etwas, das ihr nicht zuletzt aufgrund ihrer umfassenden Lebenserfahrung eigentlich stets vorzüglich gelang. Was auch immer es war, zwischen ihr und Krister existierte gleichwohl diese Blockade, eine Mauer, durch die sie nicht hindurchschauen konnte. Das erschreckte und faszinierte sie zugleich. Überhaupt stellte sie an sich, seit sie mit diesen drei Menschen unterwegs war, eine beklemmende Veränderung fest. Die alles übergreifende, tiefe Abneigung der Menschheit gegenüber, die ihr seit sie denken konnte zuteil war, hatte nachgelassen und sich auf unerklärliche Weise Stück für Stück in Sympathie verwandelt. Doch das war es nicht, was sie so sehr beunruhigte, sie innerlich tief beschäftigte, aufwühlte, unerwartet heftig berührte. Die Art, wie Krister sie beobachtete, wie seine Augen jeder ihrer Bewegungen folgten, ohne dass er sich auch nur einen Millimeter bewegte, hatte etwas Unheimliches an sich, etwas Drohendes, das sie anzog und abstieß zugleich. Spontan berührte sie sich mit der Außenfläche ihrer rechten Hand leicht am Hals, eine unterbewusst gesteuerte Geste, deren Bedeutung sie gerne ergründet hätte.
„Wohin gehst du?“ fragte er sie. Er ärgerte sich, sie gerade jetzt, wie sie vor ihm stand, so attraktiv und begehrenswert wie noch nie zu empfinden. Der Drang, sie zu berühren, irritierte ihn. Nicht jetzt, dachte er, nicht in dieser Situation. Doch er konnte sich nicht helfen, ihr gegenüber eine Begierde zu verspüren, ein Verlangen, das er seit langen Tagen unterdrückte. Sie war die einzige Frau, die er seit Wochen zu Gesicht bekam, und schon von dem Tag an, als sie zu ihnen stieß, wusste er, deswegen früher oder später vor einem Problem zu stehen. Aber doch nicht hier! Nicht, wenn sie dem Tod näher waren als dem Leben†¦ oder vielleicht gerade deswegen? Noch dazu ist sie eine Skiava, dachte er, keine vollwertige Frau, ich darf sie damit keinesfalls verwechseln. Lust und Leidenschaft sind für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Ich darf sie damit nicht konfrontieren. Nicht hier. Nicht heute. Niemals.
„Mir ist eine Idee gekommen“, sagte Avalea, ihn weiter unverwandt anblickend. „Ich will einen kleinen Sonnenfindling suchen, den wir als Lichtquelle für alle Fälle mitnehmen können.“
„Ein guter Einfall, so etwas in der Art habe ich mir auch schon gedacht. Ich helfe dir dabei.“ Krister stand auf. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum konnte er nicht einfach nur liegen bleiben und versuchen zu schlafen?
Sie beobachtete jede seiner Bewegungen, als er sich erhob und verstand nicht, warum sich ihr Puls beschleunigte, als führte sie gerade körperliche Arbeit aus. Sein muskulöser Oberkörper erzeugte in ihr Gefühle, die sie nicht kannte, die bisher fremd und verschlossen waren. Das Verlangen, sich ihm zu nähern und seinen Geruch zu atmen, verwirrte sie. Konnte es möglich sein, dass sich das letzte unbekannte Kapitel des Lebens, das ihr aufgrund ihrer unvollkommenen Geburt eigentlich für immer verwehrt bleiben sollte, auf geheimnisvolle Weise aufschlug? War es der richtige Zeitpunkt, das herauszufinden? Krister streifte sein Oberteil über, und sie beobachtete mit steigendem Interesse das Spiel seiner Muskeln, die im Licht- und Schattenspiel der Sonnenfindlinge um sie herum noch ausgeprägter wirkten. Hatte sie das nicht alles schon vorher viele Male gesehen? War es ihr nicht bisher vollkommen gleichgültig gewesen, wie er aussah? Etwas hatte sich verändert, grundlegend. Mit der Offenheit eines unschuldigen Kindes blickte sie zu ihm auf, als er vor ihr stand, und begann unmerklich zu zittern. Berühre mich, flehte sie innerlich. Er stand vor ihr und sah sie aus großen Augen an. Hätte er geahnt, wie es in ihr aussah, würde er vielleicht anderes reagiert haben. Aber er verbat es sich, auch wenn es Überwindung kostete.
Sie begaben sich zusammen auf die Suche nach einem kleinen Sonnenfindling und mussten auch nicht lange suchen, um einen passenden zu finden. Er hatte die Größe eines Kinderkopfes und wog so gut wie nichts. Als Avalea sich niederkniete, um ihn hochzunehmen, verrutschte ihr bereits an einigen Stellen zerrissenes Kleid und entblößte Teile ihres makellosen Rückens. Sonnengebräunte Haut kam zum Vorschein, ein Anblick, der Krister den Atem raubte. Der Wunsch, sie zu berühren, wurde übermächtig. Mit zaghaften Fingern strich er sanft über die entblößte Stelle ihres Rückens, die sich so unwahrscheinlich zart und begehrenswert anfühlte. Sie verharrte in gebückter Haltung, den Findling in beiden Händen haltend, nur ihr Kopf wandte sich wie in Zeitlupe um und fand seinen Blick. Er las Angst und Verlangen in ihren Augen, wie vor Jahren bei Sava, als sie sich ihm zum ersten Mal hingab. Konsterniert zog er seine Hand zurück. Wie konnte sie etwas Derartiges empfinden? Ihr Blick müsste kalt sein, erwartungslos, gleichgültig, ja sogar feindlich†¦ aber er war es nicht.
Sie empfand!
Sie war in der Lage, Lust zu verspüren. Er bezeichnete sich nicht gerade als Experten, was Frauen betraf, aber er kannte dieses Augenspiel und spürte sehr wohl, was in Avalea vorging. Skiavas verfügen nicht über Sexualität, das war etwas, was ihm unter anderem im Gedächtnis geblieben war, als er über sie in den Aufzeichnungen von Radan geblättert hatte. Sie waren von Menschen geschaffen worden, um zu dienen, gezüchtete Sklaven, billige Arbeitskräfte, willenlose Lustobjekte, furchtlose Kampfmaschinen, den körperlichen wie mentalen Voraussetzungen beraubt, sich fortzupflanzen. Steinerne Kälte, das war es dann auch, was er in den Augen der anderen Skiavas in Hyperion gesehen hatte, empfindungslos gegenüber dem anderen oder dem eigenen Geschlecht. Auch Avalea war lange so gewesen. Doch sie war es nicht mehr. Etwas hatte sich dramatisch verändert.
Sie blickten sich einige Sekunden lang an, sie hielt seinem Blick stand. Es schien fast so, als begänne sie jeden Augenblick selbst die Initiative zu ergreifen. Am Ende war es Krister, der die Beherrschung wiedergewann und, um Herr der Situation zu bleiben, ein wissendes Lächeln aufsetzte, das in seiner Konsequenz brutal wirken musste. Seine Augen spiegelten zudem genau das wider, was er in diesem Augenblick empfand: Überlegenheit. Avalea kannte diesen überheblichen Blick, erinnerte sich sehr wohl an die Demütigungen, die sie vor Ewigkeiten hinnehmen musste, nie verheilte Wunden, die noch immer in ihrem Innersten schmerzten. In diesem Moment hasste sie Krister. Sie hätte ihm am liebsten den leuchtenden Stein, den sie in den Händen hielt, ins Gesicht geworfen, doch eine andere Seite ihrer Existenz, die im Lauf der langen Jahrhunderte gereift war, hielt sie zurück. Trotz der aufgewühlten Emotionen war ihr eines völlig klar: Auseinandersetzung und Streit waren in der misslichen Lage, in der sie sich befanden, überflüssig und lebensgefährlich. Nur einen kurzen Augenblick funkelten ihre Augen wild auf, nur für den Zeitraum eines Atemzugs ließ sie ihre wahren Gefühle ihm gegenüber durchscheinen, bevor ihre Klarsicht sie zur Besonnenheit mahnte.
Doch Krister hatte die Warnung wohl verstanden.
Ohne ein weiteres Wort kehrten sie in einigem Abstand voneinander zu ihrem kleinen Lager zurück, wo Luke den Schlaf der Gerechten schlief. Krister legte sich auf seine Decke ihr gegenüber nieder und schloss ohne ein weiteres Wort die Augen. Ob er ruhte, konnte Avalea nicht erkennen, die sich schweigend daran machte, ein Stück Seil aufzutrennen und aus den einzelnen Fasern eine Art Netz um den Findling zu weben. Der matt leuchtende Stein stellte eine hervorragende Lichtquelle dar, der ihnen noch gute Dienste leisten konnte. Nach getaner Arbeit umwickelte sie eine der alten heruntergebrannten Fackeln mit dem Rest des Garns und befestigte mit geschickten Fingern den eingesponnenen Sonnenfindling an dem Ende, wo sich einst der mit Harz getränkte Stoff befunden hatte. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Perfekt. An Licht sollte es ihnen hier unten zukünftig nicht mehr mangeln, mochte kommen was wollte. Nachdenklich betrachtete sie die beiden schlafenden Menschen und wusste nicht mehr, ob sie einen großen Fehler begangen hatte, sich ihnen anzuschließen, Teil ihrer absonderlichen Reise zu werden. Aber hatte sie eine Wahl gehabt? Ihr Schicksal würde sich zusammen mit ihnen erfüllen, auf die eine oder andere Weise. Schließlich spürte auch sie, wie müde sie im Grunde war, legte sich hin und fiel alsbald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Sie hatten sich zur Ruhe begeben, als viele hundert Meter über ihnen bereits der Morgen graute. Ohne ein Frühstück machten sie sich auf den Weiterweg, auch wenn keiner genau wusste, was darunter zu verstehen war. Das gigantische unterirdische Gewölbe, das versunkene Imperium der Ar-Nhim, war in seinen Ausmaßen nicht einmal abzuschätzen. Von Sonnenfindlingen durchsetzt, tat sich vor ihnen ein hell beschienenes, unterirdisches Märchenland auf, so weit das Auge reichte. Mit nichts zu vergleichen, was sie bisher zu sehen bekommen hatten, wanderten sie durch ein verlorenes, ödes Phantasiereich, das kein Ende nehmen wollte. Irgendwann wichen die Felswände so weit ab, dass nur noch weites, unbegrenztes Land vor ihnen lag, das sich durchaus auch an der Oberfläche hätte befinden können, würde sich nicht weit über ihnen ein dunkler, mit Sonnensteinen besetzter Himmel spannen, der zwar verblüffend einem sternenklaren, nächtlichen Firmament ähnelte, jedoch im Gegensatz zu diesem bedrückend eingrenzend wirkte. Nicht der geringste Laut ließ sich hier unten vernehmen, kein noch so kleines Vögelchen sang sein Lied, kein Insekt summte, kein Windhauch spielte im Haar oder rauschte in den Ohren. Es herrschte Totenstille. Nur ihre Schritte waren zu hören, der einzige Begleiter in einer ansonsten verstummten und erstarrten Welt.
Stunden um Stunden vergingen und nichts um sie herum veränderte sich. Irgendwann erreichten sie den Punkt, an dem sie sich zurücksehnten in die Enge des Tunnelsystems, das sie hierher gebracht hatte. Die unfassbare Weite dieses toten Landes legte sich wie ein dunkler Schleier auf ihr Gemüt und weitete sich aus zu einer nicht greifbaren, aber allgegenwärtigen Bedrohung, die immer mehr an Intensität gewann.
„Ich halte es nicht mehr lange durch“, klagte Luke. „Hier wird man ja wahnsinnig.“
„Eine wirklich lebensfeindliche Umgebung“, bestätigte ihn Krister. „Hier unten kann kein Leben gedeihen. Ich frage mich, wie die Ar-Nhim, wer immer sie gewesen sein mögen, es hier ausgehalten haben.“
Avalea begrüßte den Beginn einer Konversation, da sie die letzten langen Stunden überwiegend schweigend marschiert waren, und klinkte sich ein. „Viel weiß ich nicht über die Ar-Nhim. Aber es muss ihnen hier gefallen haben. Wenn man den Aufzeichnungen der Forscher Hyperions glauben darf, haben sie einige Jahrhunderte in dieser Tiefe gelebt.“
„Unfassbar. Was haben sie hier nur all die Jahre gemacht?“ Luke schüttelte den Kopf.
„Gelebt†¦ und gewartet.“
„Gewartet? Worauf?“
„Darauf, eines Tages zurückzukehren.“
„Stimmt, das habe ich auch gelesen“, erinnerte sich Krister. „Das Volk der wartenden Riesen, das eines Tages beschloss, nicht länger in der Tiefe auszuharren und die Oberfläche Gondwanas zu erobern.“
Avalea lachte spöttisch. „Diese Version klingt so unverbesserlich vermenschlicht. Erobern. Das ist etwas, das wohl nie aus den Hirnen der Menschen auszulöschen ist. Eroberung. Macht. Krieg.“
Krister fühlte sich angegriffen. „Deine Kritik an den Menschen ist verständlich, aber unangebracht“, meinte er, um einen neutralen Ton in seiner Stimme bemüht. „Auch du bist ein Mensch.“ Das hatte er so eigentlich nicht sagen wollen, als Anerkennung oder gar Kompliment konnte Avalea es gar nicht auffassen, im Gegenteil.
„Ich bin kein Mensch“, erwiderte sie stolz. „Ich bin eine Skiava. Mag sein, dass ich äußerlich aussehe wie ein Mensch, aber innerlich unterscheiden wir uns voneinander wie die Nacht vom Tag.“
„Mag es sein wie es ist“, versuchte Krister das unangenehme Thema zu umgehen. „Eroberung und Krieg sind nicht nur in den Köpfen der Menschen zu finden. Oder hältst du die Opréu für ein friedliebendes Volk? Die Völker Gondwanas kennen auch nichts anderes, als ihre Ziele letzten Endes mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen.“
Avalea schickte sich an, etwas zu sagen, schluckte die Worte aber hinunter und meinte stattdessen: „Es gibt so vieles, was ihr Menschen nicht wisst.“
„Dann kläre mich auf!“ forderte Krister, und es klang aggressiver als er zeigen wollte. „Vom ersten Tag an lässt du durchblicken, wie unwissend und dumm wir Menschen angeblich sind. Ich habe das satt!“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht die richtige Zeit und der richtige Ort, über dieses Thema zu diskutieren. Dinge sind in Bewegung, von denen selbst ich die Zusammenhänge nur langsam erahnen kann.“
„Schon wieder!“ Krister blieb abrupt stehen. „Ich kann es nicht mehr hören. †šSelbst ich†™! Glaubst du, so unendlich mehr zu wissen als wir?“
„Ah, ich glaube es nicht nur, ich bin mir ganz sicher“, entgegnete Avalea völlig ruhig. „Oder bist du der Ansicht, dir in deinen wenigen Lebensjahren auch nur einen Hauch von Wissen oder gar Begriffsvermögen angeeignet zu haben? Die Menschen sterben bevor sie auch nur die kleinsten Zusammenhänge begreifen. Sie sind beschränkt. Zäh und bemerkenswert überlebensfähig, aber dennoch beschränkt. Ich wandele seit annähernd 470 Jahren durch diese Welt. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet? Natürlich kannst du es nicht. Du kannst nicht einmal erfassen, was hinter dieser Zahl steht.“
Krister schwieg betroffen. Natürlich hatte sie Recht. Sie verfügte über eine annähernd zwanzigfache Lebenserfahrung als er... wenn das, was sie sagte, auch der Wahrheit entsprach. „Ich kann nur schwer glauben, dass du so alt bist“, gestand er nicht zum ersten Mal. „Du siehst kaum älter aus als Luke und ich hier.“
„Ihr könnt das auch nicht begreifen. Manchmal verstehe ich selbst es kaum.“ Es schien, als entspannte sich die Situation, doch dann kehrte erneut tiefe Verbitterung in Avaleas Stimme, als sie sagte: „Doch auch daran sind die Menschen schuld. Die Menschen und ihre unsäglichen Verbrechen, die sie denen angetan haben, die sie als minderwertig betrachten. Dazu zählen nicht nur wir Skiavas. Alles Leben auf Gondwana ist in ihren Augen inferior, angefangen bei den Uhleb über die Opréu bis hin zu den Ermela. Alles wollen sie sich untertan machen, nicht einen Funken Ehrfurcht vor heterogenem Leben gibt es in ihnen.“ Sie bedachte Krister mit einem durchdringenden Blick, der ihn auf unangenehme Weise an das erinnerte, was sich gestern zwischen ihnen abgespielt hatte. „Ihr wisst ja bereits, dass in Hyperion vordergründig an der Verlängerung des menschlichen Lebens geforscht wurde. Wie ihr seht, man war erfolgreich. Gratulation. Das Ergebnis steht vor euch.“
Krister blickte zu Boden. Er sah zwar keinen plausiblen Grund, sich schuldig zu fühlen, doch er war ein Mensch, ein Mensch wie die, die - vor einer halben Ewigkeit zwar - jene unglaublichen Experimente zu verantworten hatten. Doch diese Tatsache genügte, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Hatte er sich nicht noch gestern überlegen gefühlt? Sich als natürlich geborener Mensch über die Skiavas gestellt, alleine aus der Tatsache heraus, dass sie ihre Existenz den Auswüchsen irregeleiteter menschlicher Wissenschaft verdankten, der Wissenschaft einer Rasse, der er zufällig angehörte? Sie musste es geahnt, musste die Arroganz in seinen Augen gesehen haben, aus der er keinen Hehl gemacht hatte, nur um ihr seine strittige Überlegenheit zu demonstrieren. Und da schämte er sich zutiefst. Allein die Erinnerung daran, wie offen und ehrlich sie ihn angesehen hatte, ohne Hintergedanken, ohne Tücke, ohne Arglist - und es war gerade diese Offenheit gewesen, die ihn abgeschreckt hatte - ließ ihn vor Verlegenheit auf den Boden blicken, in den er am liebsten versunken wäre. Alles Misstrauen, das er ihr gegenüber empfunden hatte, fiel von ihm ab. Er sah sie an, und sein gereinigter Blick traf auf Avaleas, die diesen wohlwollend erkannte.
„Natürlich sind nicht alle Menschen gleich schlecht“, räumte sie ein. „Ihr aus dem Norden seid anders. Menschen zwar, aber anders. Ich kann euch nicht für das in die Verantwortung nehmen, was in Laurussia passiert ist. Dennoch, trotz meiner langen Lebensjahre, fällt es mir noch immer schwer, meine Zweifel euch gegenüber abzulegen.“ Jetzt lächelte sie. „Aber das zeigt mir, dass ich ungeachtet meines hohen Alters noch lernfähig bin.“
Krister blickte sie an. Er wollte etwas sagen, sich für gestern entschuldigen, ihr bedeuten, wie sehr er das, was vorgefallen war, bedauerte, aber sie streckte nur ihren rechten Arm aus und legte ihm zwei Finger auf die Lippen. „Schschsch“, machte sie. „Sag nichts.“
Und Krister schwieg.
„Jetzt gehen wir weiter.“ Avalea wandte sich zum Gehen. „Wohin auch immer uns dieser Weg führt.“
Luke versuchte zwar noch, die Zusammenhänge aus dem soeben Geschehenen aus Krister herauszulocken, doch er wehrte kurz angebunden ab. Irgendwann später einmal, murmelte er ihm zu, eine Antwort, mit der sich Luke zunächst nicht abspeisen lassen wollte, aber ein Blick in Kristers Gesicht sagte ihm deutlich, jetzt nicht weiter in ihn zu dringen.

Die Odyssee durch die Unterwelt begann zu einem Martyrium zu mutieren. Eine Zeitlang hatten sie sich noch locker unterhalten, doch dann wurden sie des Sprechens müde und irrlichterten schweigend weiter. Allmählich kehrten die drückenden Sorgen zurück, wurden sie sich wieder der lebensbedrohlichen Lage bewusst, in der sie sich befanden. Licht gab es zwar nun in Hülle und Fülle, doch ihr immer weiter abnehmender Wasservorrat zeigte ihnen deutlich die Präsenz eines weiteren, nicht zu unterschätzenden Feindes: Durst. Der Hunger, den sie verspürten, ließ sich noch gut ignorieren, doch ohne Wasser gestaltete sich ein Weiterkommen unmöglich. Sie hofften nicht ohne berechtigten Grund, irgendwann auf eine Quelle oder einen unterirdischen Wasserlauf zu stoßen, doch bislang waren keine Anzeichen davon zu hören oder zu sehen. Mitten in der knochentrockenen, unheimlichen Leere, die sie umgab, beschlossen sie schließlich, eine Rast einzulegen. Ihre Beine, obschon das Laufen seit Wochen gewohnt, schmerzten und verlangten nach einer Pause. Müde und ausgelaugt ließen sie sich auf dem nackten Boden nieder. Luke öffnete seinen Rucksack und kramte nach der Wasserflasche. Mit einem Satz hüpfte Teddy, der kleine Fego, heraus, kletterte auf Lukes Schulter, hangelte sich über seine Brust nach unten und kam auf seinem linken Knie zur Ruhe, wo er schnatternd zu betteln begann.
Krister betrachtete die Szenerie belustigt. „Ist das Vieh immer noch bei dir?“ fragte er halb scherzend.
„Natürlich!“ Luke nahm einen kleinen Schluck aus der Flasche und kraulte den Fego hinterm Ohr, der diese Geste der Zuneigung sichtlich genoss. „Na, Kleiner, bist du aufgewacht? Du hast Hunger, stimmt†™s?“
„Da ist er nicht der einzige.“ Krister rieb sich die schmerzenden Unterschenkel. „Was gäbe ich für eine schöne warme Mahlzeit!“
Luke ließ den Fego an seiner Wasserflasche nippen. Heftig schnatternd schleckte das Tier die Flüssigkeit auf. Dann hüpfte es wieder auf Lukes Knie zurück, machte Männchen und blickte sein Herrchen unverwandt an. Ganz klar. Teddy war hungrig. Aber es gab nichts mehr. Bei ihrer letzten Rast hatten sie das wenige, was noch übrig gewesen war, aufgegessen. Da schlief Teddy noch tief und fest, doch dieser Zyklus schien nun beendet zu sein. Bettelnd saß er weiter auf Lukes Knie und schien mitteilen zu wollen: „Hier bin ich. Ich bin jetzt wach. Füttere mich!“
„Armer Teddy“, sagte Luke und streichelte den kleinen Fego, der neugierig an Lukes Händen schnupperte, ganz in Erwartung eines Leckerbissens. „Tut mir leid, kleiner Kerl, aber mitgegangen, mitgefangen. Wir haben alle nichts mehr.“
„Im Notfall werden wir uns deinen Teddy wohl schmecken lassen müssen“, warf Krister ein.
Luke lachte. „Du liebe Zeit, der ist doch nur Haut und Knochen. Dumm, dass gerade jetzt sein Wachzyklus beginnt. Sein Hunger muss gewaltig sein.“
Das war er in der Tat. Schnell begriff der Fego, dass es bei Luke nichts zu holen gab. Also wandte er sich an Avalea, dann an Krister. Vergeblich. Er untersuchte alle Rucksäcke, fand hier und da einen kleinen Krümel, den er, in beiden Vorderpfoten haltend, hastig verspeiste. Doch selbst für einen kleinen Fego waren das nur Appetitanreger. Somit machte er sich auf die Suche nach Nahrung und begann, den Boden um sie herum abzusuchen.
„Sehr frustrierend“, sagte Avalea, „das Tier bei der Nahrungssuche zu beobachten. Kann ihm keiner beibringen, seine Energien lieber zu sparen?“
Sie saßen teilnahmslos da und beobachteten den Fego, der mit wachsender Frustration um sie herum sprang. Das lenkte sie ein wenig von ihrer Situation ab, ein Umstand, den sie dankbar annahmen. Doch die Realität ließ sich nur für wenige Momente ausblenden. Schon bald erinnerte Krister daran, dass es Zeit wurde, weiterzugehen. Bevor die Müdigkeit sie übermannen konnte, brachen sie auf. Sie legten in den nächsten Stunden Kilometer um Kilometer zurück, setzten mechanisch einen Fuß vor den anderen, in der Hoffnung, wie auch immer und wo auch immer endlich auf etwas zu treffen, das Veränderung versprach. Schon für Höhlenwände, ganz stinknormale felsige Höhlenwände, wären sie dankbar gewesen. Aber nichts veränderte sich. Das verfluchte Totenreich der Ar-Nhim schien grenzenlos zu sein. Unendlich langsam schlich die Zeit dahin. Irgendwann meinte Avalea plötzlich, etwas habe sich verändert. Hatte das Licht um sie herum nicht ganz langsam abgenommen, war schwächer geworden? Jetzt, wo sie darauf achteten, ließ es sich nicht von der Hand weisen. Die Zahl der Sonnenfindlinge um sie herum hatte sich tatsächlich verringert, es wurde zunehmend dunkler. Langsam zwar, aber stetig. Je weiter sie in diese eine bestimmte Richtung gingen - Krister wertete dies erleichtert als Bestätigung, dass sie nicht die ganze Zeit im Kreis gelaufen waren - desto mehr nahm die Helligkeit ab.
„Sie werden immer weniger“, bestätigte Luke zum wiederholten Mal. „Was kann das bedeuten?“
Neue Hoffnung machte sich breit. Die Veränderung war immerhin ein Anzeichen dafür, dass auch hier unten die Gesetze des Wandels galten. Das Land um sie herum versank immer mehr in Dunkelheit, seine schier unendliche Weite entzog sich beständig ihren Blicken, bis sie auf die Leuchtkraft des einen Sonnenfindlings angewiesen waren, den Avalea zu einer Fackel umfunktioniert hatte. Krister, der wieder voran ging, trug ihn. Erst jetzt, wo alles um sie herum wieder in Finsternis versank, merkten sie, wie gering der Lichtschein war, der von dem einen Findling ausging. Das offene Feuer einer Fackel konnte er nicht ersetzen, aber immerhin strahlte er stark genug, um den Weg zu weisen. Nach einer Weile blieb Krister stehen und deutete vor sich auf den Boden.
„Seht nur“, sagte er. „Ist das nicht auch ein Sonnenstein? Ja, in der Tat, das ist einer. Er ist verloschen.“
Sie blickten hinunter auf das dunkle Oval des erkalteten Sonnenfindlings. Krister hatte Recht. Die Energie des Steins war wohl irgendwann zu Ende gegangen und sein Leben verglimmt wie das einer Kerze, deren Wachs aufgebraucht war. Jetzt, mit geschärftem Blick, bemerkten sie noch mehrere vergan
gene Sonnensteine, die ihren Weg kreuzten. Der Verdacht drängte sich auf, dass nicht die Zahl der Steine insgesamt abgenommen hatte, sondern die Anzahl derer, die noch über Leuchtkraft verfügten. Was konnte das bedeuten? Avalea fand eine stichhaltige Erklärung, die sie auf das Alter dieses Teils von Tarma-tjo-uhzuba zurückführte. Womöglich befanden sie sich in einem deutlich älteren Abschnitt, dessen Sonnenfindlinge bereits erloschen waren. Damit würde sich ihre Theorie bestätigen und dieses rätselhafte Land in absehbarer Zeit wieder in ewiger Finsternis versinken.
„Zappenduster“, resümierte Luke theatralisch. „Ich weiß nicht, was mir besser gefallen hat. Der ganze Scheiß mit oder ohne Beleuchtung.“
„Wenn ich nur ums Verrecken wüsste, ob das jetzt ein gutes Zeichen ist oder nicht. Ich krieg hier drinnen langsam den Koller. Hey, was ist denn das?“
Sie blieben stehen. Vor ihnen lagen unzweifelhaft die sterblichen Überreste eines Lebewesens. Der erste greifbare Hinweis darauf, dass sich tatsächlich einmal Leben welcher Art auch immer nach hier unten verirrt hatte. Das Skelett verfügte über enorme Ausmaße. Die Helligkeit des Sonnenfindlings reichte nicht aus, es in seiner ganzen Komplexität sichtbar zu machen. Es handelte sich jedoch zweifellos nur um ein einziges Exemplar, das hier irgendwann sein Dasein ausgehaucht hatte.
„Sind das die Überreste eines Ar-Nhim?“ fragte Luke mit angehaltenem Atem.
Avalea nickte. „Zweifellos. Keine Kreatur, die Gondwana je hervorgebracht hat, verfügt über diese gewaltigen Ausmaße.“
„Unfassbar!“ Luke kniete sich nieder und berührte etwas, das aussah, wie der überdimensionale Oberschenkelknochen eines Menschen. „Ihre Gliedmaßen ähneln denen humanen Lebens. Wie außergewöhnlich. Du liebe Zeit, diese Dimensionen sind gewaltig. Seht nur! Dieses Schenkelbein ist gute zwei Meter lang. Das Wesen, zu dem dieses Skelett gehörte, muss gigantisch groß gewesen sein.“
„Ja, das stimmt“, pflichtete ihm Avalea bei. „Die Ar-Nhim erreichten eine Höhe von über acht Metern.“
Krister gab einen leisen Pfiff von sich. „Hast du je ein lebendes Exemplar mit eigenen Augen gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, dafür bin selbst ich zu jung.“
Zu dritt schritten sie die gesamte Länge des Skeletts ab, das in der Tat ziemlich genau den Maßen entsprach, die Avalea genannt hatte. Die Ähnlichkeit mit dem Knochenbau eines Menschen war frappierend, zumindest was die unteren Extremitäten anging. Vom Beckenknochen an aufwärts änderte sich das ganze jedoch. Panzerartige Platten, die am ehesten an die verschiedenen Knochenteile des menschlichen Schädels erinnerten, stützten einmal den gesamten Bauchraum bis hoch zur Brust. Eine Art Wirbelsäule, die hinter den Panzerplatten hervorspitzte, wies wiederum verblüffende Parallelen auf, wenn auch die einzelnen Wirbel selbst in merkwürdige dornenartige Fortsätze ausliefen, deren Nutzen Luke beim besten Willen nicht deuten konnte. Ein Brustkorb mit den entsprechenden Rippenbögen fehlte vollständig. Massige Knochenplatten, ähnlich denen im Bauchbereich, jedoch noch mächtiger, schützten einst die dahinter liegenden wichtigen Organe. Auf sechs gewaltigen Halswirbeln, deren Enden sich in immensen Dornenfortsätzen verjüngten, musste einmal ein enormer Kopf gesessen haben. Wie gesagt, musste. Was auch immer diesem Exemplar zugestoßen war, sein Tod dürfte nicht natürlichen Ursprungs gewesen sein. Der Schädel, vom Rumpf abgetrennt, lag einige Schritte vom Rest des Skeletts entfernt und blickte aus schwarzen Augenhöhlen in die entgegen gesetzte Richtung. Er war ein Monstrum. Grotesk in seinen Ausmaßen. Krister hielt den Sonnenstein so hoch wie möglich, um die ganze bizarre Szenerie auszuleuchten. Fassungslos standen sie davor. Für Minuten vergaßen sie ihre missliche Lage und saugten die neuen Eindrücke in sich auf.
Der monströse Schädel wirkte sogar jetzt noch, Jahrhunderte nach dem Ende seiner eigentlichen Existenz, bedrohlich und Angst einflößend. Dazu trugen nicht zuletzt die gewaltigen vier Fangzähne bei, jeder mindestens so lang wie der ausgestreckte Zeigefinger eines ausgewachsenen Mannes, die aus Ober- und Unterkiefer wie bleich schimmernde Dolche ragten. Dazu mussten die Ar-Nhim über riesenhafte Sehorgane verfügt haben, allein die leeren Augenhöhlen boten genug Platz, um bequem den Kopf eines Kindes aufzunehmen.
„Unfassbar, was für ein Maul!“ Krister näherte sich dem Ungetüm von der Seite und berührte ehrfürchtig die panzerartigen Schädelplatten, die an einigen Nahtstellen aufgeplatzt waren. „Der konnte einen Menschen mit Leichtigkeit in Stücke reißen.“
„Von was sie sich wohl ernährt haben.“ Der Anblick der knöchernen Überreste weckte den Wissenschaftler in Luke. „Dem Gebiss nach handelt es sich eindeutig um eine Raubtiergattung, um einen Jäger. Ich frage mich nur, was sie hier unten gejagt haben mögen.“
Darauf wusste nicht einmal Avalea eine Antwort.
„Hast du je einen lebenden Ar-Nhim gesehen?“ fragte Krister sie. Er versuchte, den massigen Totenschädel anzuheben, doch wollte es ihm nicht gelingen. War er einfach zu schwer oder verließen ihn allmählich die Kräfte?
„Natürlich nicht. Sie sind lange vor der Ankunft der Menschen wieder von Gondwana getilgt worden. Die Ermela dulden keine fremden Rassen auf ihrem Planeten.“
„Aber sie dulden wohl die Menschen“, hielt Krister entgegen. „Sonst hätten sie schon vor Jahrhunderten das Schicksal der Ar-Nhim geteilt.“
Hier schickte sich Avalea an, eine Antwort zu geben, hielt dann aber inne und sagte nichts. Wieder einmal hielt sie Informationen zurück, die Krister nur zu gerne erfahren hätte. Zu einer anderen Zeit würde er mit ihr angefangen haben zu streiten, doch fehlte ihm schlicht die Energie dazu. Er versuchte nicht einmal mehr, sie zu provozieren, doch blieb sein Blick lange auf ihrem Gesicht haften. Sie ignorierte ihn und betrachtete stattdessen den makabren Fund.
„Glücklicherweise sind sie ausgestorben“, resümierte Luke schließlich, der den unheimlichen Schädel ausgiebig von allen Seiten untersuchte. „Der Gedanke, hier unten auf lebende Vertreter dieser Spezies zu treffen, ist nicht gerade angenehm.“
Daraufhin blickten sich drei Augenpaare wie auf ein geheimes Kommando hin an. Alle dachten das gleiche. Woher nahmen sie die Gewissheit, anzunehmen, dass tatsächlich alle Ar-Nhim, jeder einzelne seiner Art, tot sein sollte? Konnten nicht doch einige, wenn auch nur wenige, in diesem grenzenlosen unterirdischen Reich überlebt haben? Befanden sie sich vielleicht ganz in ihrer Nähe, beobachteten sie sie bereits seit wer weiß wie langer Zeit, nur darauf lauernd, in einem günstigen Moment zuzuschlagen?
„Ach was, ich bin davon überzeugt, dass keines von den Monstern mehr am Leben ist!“ Kristers zuversichtlicher Stimme gelang es, die mit neuer Angst aufgeladene Atmosphäre ein Stück weit zu entspannen. „Bevor uns ein Ar-Nhim kriegt, besiegt uns der Durst. Los, gehen wir weiter. Ich habe genug gesehen.“
Doch von diesem Moment an begleitete sie zu all dem Ungemach noch die nicht greifbare Furcht vor einem - wenn auch unwahrscheinlichen - überraschenden Angriff aus dem Dunkeln.

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