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[Kurzgeschichte] Phönix


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#1 thomas t

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    Yoginaut

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Geschrieben 02 Januar 2006 - 19:37

Der Kreuzer kroch vorsichtig durch die Trümmer und Asteroiden von Cornelias Stern. Sein riesiger perlmuttfarbener Körper glich einem flachgedrückten Tropfen. Acht Ausleger, jeder halb so lang wie der Körper schmückten das Schiff. Zwischen den Auslegern und dem Rumpf spannten sich hauchdünne Häutchen. Das Schild des Kreuzers blitzte immer wieder auf wenn es mit einem Wrackteil oder einem kleinen Asteroiden kollidierte.
Die Armada des Feindes brauchte nur sechs Stunden um das System zu erobern. Nun waren gerade einmal zwei Dutzend Schiffe zurück geblieben. Sie suchten nach Überlebenden jeden Volkes und zerstörten die Produktions- und Förderungsanlagen. Danach würden auch sie sich zurückziehen. Der Feind hatte kein Interesse an diesem System. Einzig die Strahlung von Cornelias Stern war wichtig für den Feind. Sie würde starke und schnelle Zerstörer hervorbringen. Doch das System lag noch viel zu nah an der Front.
Der Kreuzer trieb gerade an einem toten Gegenstück vorbei. In dem Wrack steckte der schlanke, aber längere Rumpf eines groß-terranischen Kreuzers. Auf dessen zernarbten Rumpf konnte man noch das Wort Weishaupt erkennen.
Der feindliche Kreuzer hielt sich nur kurz mit dem Paar auf. Alle Lebewesen dort waren in der Gamma-Explosion des Schwarzen Loches der Weishaupt gestorben.
Als nächstes erreichte der Kreuzer einen Zerstörer, der von groß-terranischen Plasmastrahlern fein säuberlich in zwei Hälften geteilt worden war. Wieder erwarten befanden sich noch Überlebende an Bord.
Der Kreuzer hielt an. Ein kleines eiförmiges Schiff verließ ihn. Die beiden Ausleger des Schiffchens klappten noch nicht einmal in ihre normale Position, so kurz war der Abstand zwischen dem Kreuzer und dem Wrack.
Das Schiffchen war noch nicht einmal zurück gekehrt, da fand der Kreuzer ein kleines sargförmiges Objekt, groß genug für einen Menschen und die Lebenserhaltungssysteme.

Haydeé blinzelte in das ungewohnte Licht als sich der Sarkophagdeckel öffnete. Sie hatte keine Ahnung wie lange sie blind, taub und zur Bewegungslosigkeit verurteilt im Raum getrieben war. Am Höhepunkt der Schlacht war sie aus ihrem kaum beschädigten Ketzer ausgestiegen. Genau wie die Bitte an sie es vorgesehen hatte.
Jetzt erhob sie sich und streifte die Kapuze ihres hautengen Druckanzuges ab. Sie sah sich um.
Die Wände des Raumes waren milchig weiß. Eine Lichtquelle konnte sie nicht erkennen. Genauso wenig irgendwelche Einrichtungsgegenstände.
Dann sah Haydeé ein kleines braunbepelztes Wesen. Es hielt ihren Teaser in der Hand und sah sie mit großen, treuherzigen Augen an. Plötzlich biss es den Lauf der Waffe ab und warf die Teile davon. Dann kramte es Haydeés Kampfanzug und den Tarnmantel aus dem Überlebensfach und reichte ihr beides. In seinem neutralen Zustand sah der Mantel aus als bestünde er aus weißem Rauleder.
Die Frau seufzte während sie sich aus ihrem Druckanzug schälte.
Nachdem sie sich angezogen hatte, die Kapuze des bodenlangen Mantels hatte sie selbstverständlich nicht aufgesetzt, genehmigte sie sich noch einen der fanden Rationsriegeln.
Plötzlich öffnete sich eine Wand. Eine schwarzgepanzerte Kreatur betrat auf vier Beinen den Raum. Ihr langer Schwanz peitschte wild hin und her. Die Kreatur richtete sich auf ihre Hinterbeine auf, schnappte sich Haydeé und trug sie davon durch lange Korridore. Sie wurde wie ein Möbelstück in einem Raum abgestellt.
Sie war nicht allein. In dem Raum befanden sich zwei, vielleicht drei Dutzend Menschen. Darunter eine Handvoll Guardians, die alle ihre Tarnmäntel trugen. Haydeé gesellte sich zu ihnen und grüßte jeden einzelnen mit einem Nicken.
„Du bist doch Haydeé Tebelin, die Anführerin des Ketzergeschwaders“, kam von einem.
„Ja“, gab sie zu.
„Wie kommst du hier her? Ich meine... Ich dachte ihr Ketzer seid Unbesiegbar!“
„Ich war sechs zu eins in der Unterzahl.“ Haydeé versuchte ein verlegenes Lächeln. Sie hatte keine Ahnung ob es ihr gelang, denn in ihrem Inneren schrie förmlich alles nach Lüge. „Wer bist du eigentlich?“
„Ich bin Berthold Kegelmayr.“
Haydeé legte den Kopf schief als die Uniform unter dem Mantel erkannte. „Du bist Techniker?“
„Ich war auf dem Zerstörer Angleton. Wir wurden abgeschossen kurz nach dem die Machiavelli und die Kreuzer gesprungen sind.“
„Du weißt nicht zufälliger weise ob noch andere Ketzer abgeschossen worden sind?“
Berthold schüttelte nur den Kopf und Haydeé sackte in sich zusammen. Sie mochte ihre Geschwaderkollegen, auch wenn es eigentlich ihre Feinde sein sollten. Das eine von ihnen...
„Jetzt ist nicht die Zeit um über verlorene Freunde zu trauern“, wurden ihre Gedanken von einem anderen Guardian unterbrochen. „Jetzt müssen wir uns unseren nächsten Zug überlegen. Seht euch nur die Gemeinen an. Sie warten darauf, dass wir sie herausführen.“
„Und wenn wir es nicht schaffen, dann schafft es niemand“, nickte ein Dritter.
„Habt ihr diese kleinen Wesen gesehen, die die Teaser durchgebissen haben?“, wollte eine andere Guardian wissen.
Haydeé hörte nicht mehr wirklich hin. Sie sah sich die Gemeinen an. Ja, in ihren Augen stand die Angst, aber auch Hoffnung. Die Guardians, so hofften sie, würden alles wieder in Ordnung bringen. Jetzt sah sich Haydeé die Guardians an. Auch wenn in deren Gesichtern keine Angst stand sagte das gar nichts. Sie spekulierten gerade über die Fähigkeiten des Feindes. Wenigstens verwendeten sie Inotal, das die Gemeinen nicht verstanden. Trotzdem kamen sie Haydeé nicht als das vor, was sie sein sollten: mehr als ein Mensch.
Ganz anders fühlte sich Haydeé. Selbst als Rapa bei dem Terroranschlag ums Leben gekommen war, blieb Haydeé ihrem Entschluss treu. Sie stand nun einmal zu ihrem Wort, eine Eigenschaft die sie den Guardians verdankte. Als sie aus ihrem Ketzer ausstieg hatte sie mit allem gerechnet. Nur nicht damit in die Hände des Feindes zu geraten. Niemand wusste wer sie waren. Gehörten sie zum neu-chinesischen Konsortium, zu den Primitiven oder gar zu Groß-Terra? Darum beschloss Haydeé so lange den anderen Guardians zu helfen bis sie wusste wer der Feind wirklich war.
„Sie haben nur unsere Teaser zerstört, oder?“, platzte Haydeé plötzlich in die Diskussion.
„Ähm... ja.“
„Dann haben wir ja noch genügend Waffen.“
„Und wenn nur die Teaser für den Feind gefährlich waren?“, warf Berthold ein.
„Vielleicht ist ihnen unsere Technologie genauso fremd wie ihre uns?“, meinte Haydeé.
„Da ist was dran“, meinte ein anderer Guardian. „Was schlägst du vor?“
„Wir warten auf den richtigen Augenblick.“
Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff, dicht gefolgt von einem Knall. Die Guardians sahen sich gegenseitig an. Niemand wusste was das zu bedeuten hatte. Andererseits gab es auch keine Wiederholung.

Sie mussten ziemlich lange warten. Allerdings schienen sie in diesen Raum nur die Unverletzten zu bringen. Es war nicht gerade sehr wahrscheinlich eine Schlacht wie diese ohne Verletzungen zu überleben. Von der Tür, durch die Haydeé gekommen war, war nichts mehr zu sehen. Es war fast so als hätte sie nie existiert.
Irgendwann ging die Tür doch auf. Vier der schwarzen Kreaturen betraten den Raum. Die Guardians stellten sich zwischen den Kreaturen und den Gemeinen. Haydeé zerbrach eine Betäubungskapsel.
Fast sofort verloren die Gemeinen das Bewusstsein. Die Guardians waren an das Gas gewöhnt und blieben daher unbehelligt. Und die Kreaturen atmeten die Luft als währe sie durch nichts vergiftet.
Das war eigentlich unmöglich! Schon wenige Moleküle reichten um im Gehirn einen Schlafbefehl auszulösen und bei allem was nicht menschlich war funktionierte es sogar noch besser.
Die Kreaturen standen einfach in der Tür und warteten. Die Guardians wechselten Blicke untereinander aus und kamen zu einem Entschluss. Sie gingen alle einen Schritt zurück und breiteten die Hände aus. Dies geschah in der Hoffnung, dass der Feind es als eine Geste der Kapitulation erkennen würde. Denn außer Haydeé trug niemand einen Kampfanzug.
Plötzlich trippelte ein Dutzend unterarmlange Insekten in den Raum. Sie begannen sofort auf allen Menschen herum zu krappeln. Bei Berthold und Haydeé fingen sie zu zirpen an. Diese beiden waren es auch die von den Kreaturen mitgenommen wurden. Alle anderen blieben im Raum.
Die beiden Guardians wurden in einen kleineren Raum gebracht, der ausnahmsweise möbliert war. Ein kleiner runder Tisch und vier fellbespannte Stühle standen da. Ihr Design war absolut fremdartig, aber die Stühle sahen sündhaft bequem aus.
„Wurden dir zufällig die Augen geöffnet?“, fragte plötzlich Haydeé.
„Ja. Von Ahn. Und dir?“
„Ebenfalls.“ Haydeé strich über einen der Stühle. Das Fell war seidig weich. „Was war deine Aufgabe?“
„Ich bekam ein Aquarium mit einer Muschel auf die ich aufpassen sollte.“ Berthold zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung für was die gut war.“
„Ich sollte beim ersten Gefecht außerhalb Alphas aus meinem Ketzer aussteigen um abgeholt zu werden.“
„Dann werden wir beide bald erfahren wer der Feind wirklich ist“, grinste Berthold.
„Ja.“
Ein anderes Wesen löste die Kreaturen ab. Es hatte ungefähr die Größe und die Proportionen eines Menschen. Es trug einen fein geschnittenen seidenen Anzug. Darunter lugte ein metallisch grün schimmerndes Fell hervor, das von schwarzen Flecken durchsetzt war. Das Fell bedeckte selbst das Gesicht in dem goldene Augen mit katzenartigen Pupillen dominierten.
„Orks“, sprach Berthold genau das aus was Haydeé sich dachte.
„Wir diese Wort wissen“, sagte das Wesen in gebrochenem Janteranto. „Seine Bild nein gefallen wir. Wir seien Ox. Ich seien Xatele. Ich euch verstehen gut. Sprechen nein gut jetzt, Zukunft ja. Ihr bald geholt von Covenant.“
„Wer ist das?“
„Ihr wissen mit Primitive.“
Die beiden Guardians sahen sich überrascht an.
„Wir setzen“, schlug Xatele vor. „Wir viel Zeit. Ihr viel Fragen?“
Die Beiden setzten sich. Haydeé fuhr erschreckt hoch als sie fühlte wie der Stuhl sich unter ihr bewegte. Dann wagte sie einen zweiten Versuch. Nach einer Weile hörte die Bewegung auf und Haydeé saß so gemütlich wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
„Glaubt ihr wirklich diesen Krieg gewinnen zu können?“, begann Berthold nachdem auch er es sich gemütlich gemacht hatte. „Mit jedem Gefecht das ihr gewinnt lernen Groß-Terras Raumadmirale eure Stärken und Schwächen besser kennen. Schon jetzt habt ihr mehr Schiffe verloren als sie. Das Blatt wird sich wahrscheinlich bald wenden.“
Xatele wackelte mir dem Kopf. Haydeé hatte keine Ahnung was diese Geste bei einem Ox bedeutete.
„Wir gewinnen müssen“, sagte er dann. „Wir wissen Bild von Übermensch. Übermensch wissen seien Gott. Gott brauchen Anhänger. Bringen Brand über Galaxie.“
„Und was war das für eine Muschel, um die ich mich kümmern sollte?“, wollte Berthold wissen.
„Muschel uns sagen wo du seien.“
„Durch die Lichtjahre?“
„Ja.“
Berthold lies einen leisen Pfiff los.
„Warum zerstört ihr alle Industrieanlagen?“, fragte Haydeé.
„Wir sie nein brauchen“, meinte Xatele. „Wir uns unterscheiden stark.“
Haydeé nickte. „Daher haben wir nicht erkannt wie weit eure Kolonie auf Wolf entwickelt war.“
Der Ox wackelte wieder mir dem Kopf.
„Wolf seien klein Zivilkolonie.“
„Und Bandit 1?“
„Haben Kampfnest. Wir nein zulassen ihr entdecken.“
„Auf Wolf habt ihr euch nicht zu erkennen gegeben, weil ihr uns kennenlernen wolltet wie wir wirklich sind.“
Wieder ein Kopfwackeln. Haydeé war mittlerweile davon überzeugt, dass es sich dabei um das Äquivalent eines Kopfnickens handelte.
„Und was geschieht mit den Kriegsgefangenen?“, warf Berthold ein.
„Kämpfer wir brauchen. Nein-Kämpfer nach Thetis oder Newton.“
„Wofür braucht ihr die Kämpfer?“
„Ich nein kann erklären in Menschensprache.“ Xatele wirkte ehrlich verlegen.
Ein Knall ging durch das Schiff. Gefolgt von einem Ruck.
„Was war das?“, fragten Haydeé und Berthold wie aus einem Mund.
Xatele lies einen Schwall seltsamer Laute los. Kurz darauf kam von irgendwo her eine Antwort in eben diesen Lauten. „Wir jetzt bei Welt, Thetis ihr wissen“, sagte er dann.
„Ich habe keinen Sprung mitgekriegt, du etwa?“, wollte Haydeé von Berthold wissen.
Dieser schüttelte nur den Kopf. „Keine Träume.“
„Covenant da“, sagte Xatele plötzlich und stand auf. „Ihr folgen.“
Die beiden Guardians folgten dem Ox aus dem Raum. Sie gingen durch schier endlos lange Gänge. Nur ein einziger Ox begegnete ihnen auf ihrem Marsch. Und zwei von den kleinen pelzigen Wesen. Irgendwann blieben sie vor einer milchig weißen Wand stehen. Xatele sagte wieder etwas in seiner Muttersprache. Ihm wurde geantwortet.
„Covenant nein da noch.“
Haydeé nickte. Das bedeutete warten.
Fünf Minuten später lehnte Haydeé mit verschränkten Armen an der Wand. Berthold tigerte ungeduldig auf und ab.
Ein weiterer Ox kam. Ihm folgte etwas das wie eine überdimensionale Mischung aus einer Schildkröte und einer Kellerassel aussah. Es trug den Sarkophag auf dem Rücken.
Die beiden Ox unterhielten sich kurz miteinander, dann verließ der Neuankömmling sie auch schon wieder.
Kurze Zeit später öffnete sich die Wand.

In dem Raum, durch das allgegenwärtige Weiß kaum zu erkennen, stand eine kleine, vielleicht sechzehn Meter lange Raumfähre. Auf dem weißen Rumpf war ein Regenbogen gemalt. Ein großes Sichtfenster zierte den Bug. Am Heck waren drei Flossen angebracht. Haydeé konnte keinerlei Triebwerke erkennen.
Das Schott ging auf. Heraus kam einer der wenigen Aborigines die es nach dem Meteoriteneinschlag in Australien noch gab. Er trug eine weite Hose und ein enges Hemd. Währen seine Sachen nicht schwarz gewesen hätte man sie durchaus für die Tracht von Thor halten können. Ganz anders der Mann der ihm folgte. Die Art und Farbe seiner Kleidung, die weite Haube, unter der sich wahrscheinlich hüftlange Dreads verbargen zeigten ihn deutlich den Rastas zugehörig.
„Irie“, meinte der Rasta und stürmte an alle vorbei auf den Sarkophag zu.
„Ich bin Paul“, lächelte der Aborigine, „der Kapitän der Phönix. Das da drüben ist Bandulu, unser bester Ingenieur und Leiter des Shuriken-Projektes. Lasst euch nicht von seiner Aussprache stören. Er versteht alle wichtigen Sprachen. Aber er hat geschworen so lange nur Patwa zu sprechen bis Neu Zion befreit wurde.“
„Ich bin Haydeé Tebelin.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.
„Wir haben schon lange auf dich gewartet.“ Pauls grinsen wurde noch breiter als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte.
„Ich bin Berthold Kegelmayr.“
Paul tat es nur mit einem Kopfnicken ab.
Berthold sah Haydeé entsetzt an. Immerhin hatte er gerade einem Primitiven seinen Namen verraten. Noch nicht einmal Gemeine kannten die Namen der Guardians.
In diesem Augenblick kam Bandulu zurück.
„Iandi nah thought seh dis sarcophagus ah possible!“ Alles in ihm schrie vor Freude über dieses neue Spielzeug. „Yeh mam, a weh yuh got seh technology?“
Haydeé sah Paul fragend an. Sie verstand kein Wort.
„Er will wissen woher ihr diese Technologie habt“, übersetzte dieser.
„Oh.“ Haydeé drehte sich zu Bandulu um. „Im Ruinenfeld von Neu China haben wir vor Jahren eine außerirdische Kampfmaschine gefunden, die da seit mindestens zehntausend Jahren vor sich hin moderte. Der Pilot war mumifiziert und lag in so einem Sarkophag. Von ihm haben wir alles Wissen.“
„Wie fliegt dieses Ding eigentlich?“, mischte sich Berthold ein und deutete auf die Fähre.
„Mit gravomagnetischen Impulsen“, meinte Paul lakonisch.
„Das ist unmöglich! Kein Fusionsreaktor bringt genügend Energie dafür auf!“
„Wir haben auch einen Quantenreaktor.“ Er zuckte mit den Schultern als wäre es das normalste auf der Welt. „Den könntet ihr auch haben, wenn ihr eure KI†™s nicht vernichtet hättet. Obwohl“, fügte er nachdenklich hinzu, „man muss den Kopf schon voller komischer Drogen haben, um auf die Idee zu kommen aus zwei gegeneinander rotierenden Metallscheiben Energie zu ziehen.“

Nachdem der Sarkophag verstaut war betraten die Vier die Fähre. So weiß das kleine Schiff auch von außen war, so bunt war es innen. Naturnahe aber trotzdem fast schon psychedelisch wirkende Gemälde bedeckten jeden Quadratzentimeter der Innenwände des einzigen Raumes. Einige Tische und Stühle standen in einer lockeren Anordnung herum. Hätte Haydeé nicht gewusst, dass sie sich im Inneren einer Fähre befand, sie hätte geglaubt in einer Bar zu sein. Doch für eine Fähre fehlte eine winzige Kleinigkeit.
„Wo ist das Cockpit?“, wollte Haydeé wissen.
„Wir brauchen keins“, grinste Paul. „Dieses Schiff wird von einer KI der Stufe zwei gesteuert.“ Dann sagte er etwas in einer Sprache die Haydeé noch nie gehört hatte.
Das Schiff antwortete ruhig in der selben Sprache.
„Wir werden gut fünfzig Minuten zur Phönix brauchen“, informierte sie Paul. „Wollt ihr in der Zwischenzeit etwas trinken? Oder andere Drogen? Bandulu zieht eines der besten Gräser von ganz Lemuria.“
„Danke. Nur einen Fruchtsaft bitte“, sagte Haydeé
„Für mich auch“, meinte Berthold.
„Ihr seid ja Guardians“, sagte Paul. „Ich vergaß.“
Er schenkte jedem ein Glas voll ein. In der Zwischenzeit beobachtete Haydeé durch das Panoramafenster wie sich eine Wand öffnete. Dahinter breitete sich die kristallene Schwärze des Weltraums aus. Paul setzte sich als die Fähre aus dem Kreuzer glitt. Erst eine Minute später bemerkte Haydeé das sie nicht schwebte.
„Ihr habt künstliche Gravitation in einer Fähre?“, wunderte sie sich.
„Natürlich, bei diesem Antrieb“, murmelte Berthold. „Es ist das selbe Prinzip.“ Er machte einen Schluck von seinem Saft und beugte sich dann vor. „Was genau passiert mit den Kriegsgefangenen?“
„Früher oder später fragen das alle.“ Pauls Lächeln verschwand. „Die Ox benötigen Gehirne als CPU für ihre Großkampfschiffe. Normalerweise verwenden sie Kriminelle. Als die Vorbereitungen für den Krieg begannen griffen sie auch auf Freiwillige zurück. Doch der Krieg brach zu früh aus. Sie müssen ihren Bedarf decken.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Das ist ja schrecklich“, flüsterte Haydeé.
„Nichts ist perfekt“, meinte Paul. „Da fällt mir ein Pia will dich noch vor unserem Sprung sprechen. Als sie hörte wen wir abholen lies sie es sich nicht nehmen mit uns zu kommen. Es ist das erste mal, das sie ihren Coven außerhalb einer Ratssitzung verlässt.“
„Pia?“
„Eine der geachtetsten Persönlichkeiten von ganz Lemuria.“
„OK.“ Berthold schlug beide Hände zusammen. „Was ist Lemuria?“
„Unsere Operationsbasis. Die einzige Kolonie, die wir vor euch geheimhalten konnten.“
„Und wie komme ich zu dieser Ehre?“, wollte Haydeé wissen.
„Ganz einfach: Du bist die Sternenreiterin.“

Die Stunde dauerte lang. Vor allem weil Haydeé nicht selbst fliegen konnte. Das stimmte nicht ganz. Eigentlich, weil niemand flog. Irgendeine strohdumme Maschine hatte das Kommando und damit auch die Macht über ihr Leben. Haydeé behagte das überhaupt nicht.
Paul tat sein bestes um das Unwohlsein seiner Passagiere zu zerstreuen. Er erzählte von dem Leben auf Lemuria. Von den Wäldern, Wüsten und Ozeane auf dieser Welt. Als ein weißer vierstrahliger Stern im Panoramafenster erschien berichtete er über die Shuriken, KI-Kampfdrohnen die jeden Zerstörer begleiteten und von der bemannten Version, die Haydeé anführen sollte. Weil ein Sarkophag einfach eine viel kürzere Reaktionszeit hatte als jeder noch so schnelle Computer.
Schließlich tauchte der Zerstörer auf. Ein vierhundert Meter langer weißer Strich vor dem mit Diamantstaub überzogenen schwarzen Kristall des Weltraums. Wären die drei überdimensionalen Flossen am Heck, jeder halb so lang wie das ganze Schiff, nicht gewesen, man hätte den Zerstörer leicht für einen Pfeil halten können.
„Das ist die Phönix“, sagte Paul voller Stolz. „Unser fünfter Zerstörer der Mo'Faia-Klasse. Mein Schiff.“
Sie flogen an der Phönix vorbei, wendeten hinter dem Heck und hielten auf den dort installierten Hangar zu. Haydeé staunte nicht schlecht als sie hinter den geöffneten Hangartoren Menschen ohne Raumanzüge sah.
„Ja, wir haben Kraftfelder die stark genug sind“, schmunzelte Paul. „Aber wir können noch immer keine Schilde erzeugen.“
Die Fähre landete. Als Haydeé die Fähre verließ zählte sie elf Personen. Sie sah Mahatmaner, Thoraner und Rastas alle in der für sie typischen Trachten. Doch waren diese schwarz anstelle eines farbenfrohen Mix.
„Meine Besatzung“, stellte Paul die Anwesenden vor.
„Sind das nicht etwas wenige?“, meinte Berthold.
„Mich hat er natürlich ausgelassen“, lies sich plötzlich eine körperlose Stimme vernehmen. Sie klang ein bisschen beleidigt.
„Wer hat das Gesagt?“ Die beiden Guardians wichen entsetzt zurück.
„Ich. Das Schiff.“
Das Entsetzen in den Augen der Guardians wurde noch größer.
„Ihr braucht wirklich keine Angst zu haben“, versuchte Paul sie, wieder einmal, zu beruhigen. „Die KI unterstützt uns nur in den Routinearbeiten. Ohne sie könnten wir dieses Schiff gar nicht führen.“
„Ich werde wie immer unterbewertet.“ Haydeé glaubte so etwas wie gespielte Resignation in der Stimme der Phönix zu hören.
Währenddessen sprach Bandulu mit einigen von der Mannschaft. Vier folgten ihm zur Fähre, luden den Sarkophag ab und brachten ihn weg.
„Gut“, klatschte Paul, „ich will so schnell wie möglich von Thetis weg, aber Pia will zuerst Haydeé sehen. Iwan, würdest du unseren Gast zu ihr bringen?“
„Natürlich.“
Haydeé folgte dem Mann durch lange Gänge, deren Wände ähnlich bemalt waren wie die in der Fähre. Laut seiner Kleidung war Iwan ein Thoraner. So wie es aussah neben dem Kapitän der einzige auf dem Schiff.
„Du bist sicher der Pilot dieses Schiffes. Falls es hier so etwas wie eine Brücke gibt“, versuchte Haydeé mit ihm ins Gespräch zu kommen.
„Ja, wir haben eine Brücke“, antwortete Iwan. „Obwohl es eigentlich mehr ein Cockpit ist. Aber ich habe noch nie in meinem Leben ein Schiff geflogen. Ich bin der Arzt hier.“
„Tatsächlich?“, wunderte sich Haydeé. „Bei einer so kleinen Besatzung hast du sicher viel zu tun.“
„Wie man's nimmt.“ Er blieb vor einer Tür stehen. „Wir sind da“, sagte er während er anklopfte.
Die Tür öffnete sich.
Sie mochte Mitte vierzig, vielleicht auch jünger, vielleicht auch älter sein. Das lies sich bei diesem wettergegerbten Gesicht schwer sagen. Um Augen und Mund zeichneten sich Falten ab, die darauf hindeuteten, dass sie gerne und viel lachte. Was sie jetzt aber ganz und gar nicht tat. Zwischen den Brauen und in den Augenwinkeln waren je drei Punkte tätowiert. Ein paar Strähnen ihres wasserstoffblonden Haares waren zu dünnen Zöpfen verfilzt und mit Holzperlen geschmückt. Ihre Augen waren von exotischen Drogen grünlich verfärbt. Sie sah so absolut gar nicht nach dem aus was Haydeé sich vorgestellt hatte.
„Du bist schwanger“, sagte Pia, nachdem sie Haydeé von oben bis unten gemustert hatte.
Haydeé legte überrascht die Hand auf ihren Bauch.
„Komm rein“, lud Pia sie ein.
Haydeé folgte der ausgestreckten Hand in einen großen aber spartanisch eingerichteten Raum. Als die Mahatmanerin die Tür hinter ihr schloss drehte sie sich um und sagte: „Woher weist...“
„Wärst du nicht schwanger hätte ich dich auf der Stelle getötet.“
„...etwas das noch nicht einmal ich...“, fuhr Haydeés Mund fort während ihr Gehirn das soeben gehörte verarbeitete. „Was!?“
„Setze dich doch.“
Völlig verstört lies sich Haydeé auf einen der beiden einzigen Stühle nieder. Seit sie ihren Ketzer verlassen hatte verlief nichts, aber auch gar nichts so wie sie es erwartet hatte. Hatte sie überhaupt etwas erwartet?
„Kaffee? Tee?“, wollte Pia wissen.
„Kaffee.“
Pia verschwand hinter einer Anrichte.
„Ich bevorzuge den Selbstgemachten“, hörte Haydeé. „Dieses Automatengesöff kann doch kein Mensch trinken.“
Kurz darauf kam sie mit einer Kanne wieder aus deren Deckel ein langer Stiel ragte. Auf dem schwarzen Wasser schwamm eine dicke Schicht Kaffeepulver.
„In meiner Familie geht seit Jahrhunderten das Gesicht um, musst du wissen“, sagte Pia während sie sich setzte. „Als meine Urgroßmutter das erste Mal den Boden Mahatmas berührte prophezeite sie eine dunkle Hand, die nach Mahatma greift. Doch eine Wächterin, die keine Wächterin ist würde uns befreien. Die Sternenreiterin.“ Pia drückte den Stiel in die Kanne und senkte damit das Pulver auf den Boden. Dann schenkte sie beiden ein. „Das Problem mit Prophezeiungen ist, je genauer sie werden und je mehr Leute davon wissen desto ungenauer werden sie. Ich hoffe du verstehst wenn ich dich jetzt bitten muss niemandem etwas von diesem Gespräch zu sagen.“
Haydeé nickte.
„Gut. Mit den Wächtern sind natürlich die Guardians gemeint. Wusstest du, dass dein Vater sieben Jahre mit dem Lotus-Syndrom lebte? Also erst starb nachdem du fünfzehn wurdest?“
Haydeé riss überrascht die Augen auf.
„Rechtlich gesehen bist du keine Guardian. Das Konsortium hat deinen Vater in Sicherheit gebracht. Sie wollten mit seiner Hilfe einen Impfstoff gegen das Lotus-Syndrom entwickeln. Es ist ihnen nicht gelungen. Doch nebenbei haben sie alles getan um dich zur Sternenreiterin zu machen. Allein, du bist es nicht.“ Pia machte einen Schluck von ihrem Kaffee. Dann sah sie zur Tür während sie weiter sprach: „Es gibt drei Nicht-Wächterinnen: Die Sternenreiterin, die Wegbereiterin und die Schlange. Alle drei fliegen ein Schiff ohne Cockpit. Die Sternenreiterin trägt ein Armband, das sich nicht abnehmen lässt und die Wegbereiterin ist schwanger wenn sie zu uns kommt.“
„Und die Schlange?“
„Sie ist unsere Feindin. Aber ich weiß leider kein Erkennungszeichen.“
„Ich verstehe.“ Haydeé nippte an ihrem Kaffee, hob dann anerkennend die Augenbrauen und wagte einen größeren Schluck. Mittlerweile hatte sie sich gefangen. Zumindest nach außen hin. „Wenn du also die Zukunft kennst, kannst du mir sagen wie dieser Krieg ausgehen wird.“
„Eben nicht“, lächelte Pia gequält. „Der Krieg hat viel zu früh begonnen, daher ist es vollkommen ungewiss wie der Krieg endet. Nur eins ist sicher“, Pia umfasste ihre Tasse mit beiden Händen. „Wenn wir verlieren wird es in zweihundert Jahren keine Menschen mehr geben.“
„Was? Warum?“
„Ich weiß es nicht und das macht mir Angst. Und selbst wenn wir gewinnen ist unser Überleben keineswegs gesichert.“ Pia schüttelte den Kopf. „Dunkle Vorahnungen bringen uns nicht weiter. Du solltest jetzt zum Kapitän gehen und ihm sagen, dass wir springen können. Ich weiß, er will so kurz wie möglich in dem System bleiben.“
Die Guardian stand auf und reichte Pia die Hand zum Abschied. Dann ging sie zur Tür.
„Einen Augenblick noch!“, wurde sie aufgehalten. „Ich muss dir noch etwas unangenehmes sagen, aber ich glaube du solltest es wissen. Wenn die Schlange zu uns kommt wirst du sterben. Ich kann leider nicht sagen wann es so weit ist oder wie es geschieht. Aber falls es dich beruhigt: Dein Sohn wird Großes leisten.“

Esoterischer Schwachsinn, dachte Haydeé während sie zur Brücke ging. Das Schiff hatte eine sehr brauchbare Wegbeschreibung abgegeben, auch wenn es ihr zu viel quatschte. Aber das was Pia gesagt hatte wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Obwohl sie wusste, dass es sich dabei um drogeninduzierte Halluzinationen handelte. Doch die anderen schienen an Pias Prophezeiungen zu glauben. Wenn genügend Menschen an etwas glaubten konnte es für die betreffenden Personen durchaus Wirklichkeit werden. Nur, wenn sie danach handelten taten sie meist das Falsche. So hatte sie es zumindest auf der Akademiestation gelernt.
Als sie die Brücke erreichte erkannte Haydeé wie recht Iwan hatte. Sie war kaum größer als das Cockpit einer Taurus-Fregatte, und diese Schiffe waren immerhin nur einhundert Meter lang. Im Cockpit der Phönix thronte der Kapitän in der Mitte. Direkt davor war der Platz des Piloten, rechts die Navigation, links die Sensoren. Das Cockpit verfügte auch über ein kleines Sichtfenster, das wohl eher dekorativen denn praktischen Nutzen hatte. Es war für nur vier Personen konstruiert, einem drittel der gesamten Besatzung.
„Wo ist Berthold?“, fragte sie Paul.
„Im Maschinenraum. Er konnte nicht warten sich das alles anzusehen.“ Paul sah Haydeé an. „Können wir starten?“
Haydeé nickte. „Pia hat es erlaubt“, fügte sie hinzu.
„Das war nur zu unserem Schutz“, erwiderte er. Dann drehte er sich wieder zu seiner Besatzung: „Statusbericht?“
„Wir halten bei 34,678 zu 123,31 zu 8,703“, meldete der Rasta von der Navigation. „Eine Lichtsekunde außerhalb der Strahlungsgrenze.“
„Unsere Geschwindigkeit beträgt nach wie vor Null, relativ zu Thetis“, sagte der Mahatmaner im Pilotensitz.
„Gut“, meinte Paul. „Alles für den Sprung bereitmachen!“
„Starte Sensorabtastung“, meldete die Mahatmanerin von den Sensoren. „Zeit bis zum Sprung: zwei Minuten.“
Haydeé ließ einen Pfiff der Bewunderung los, wusste sie doch wie lange groß-terranische Schiffe brauchten um alle Daten für einen Sprung zu sammeln.
„Ich geh dann mal schlafen“, ließ das Schiff vernehmen.
Haydeé sah Paul mit großen Augen an.
„Du kennst sicher die Probleme die es mit automatischen Systemen kurz nach einem Sprung gibt“, erklärte der Kapitän. „Nun, bei KI†™s sind diese Probleme viel größer.“
„Wie groß?“
„Das willst du nicht wissen.“
„Wir haben alle Positionsdaten für den Sprung“, kam es schließlich von den Sensoren.
„Sprung!“, befahl Paul.
Tief im inneren des Schiffes änderten die Magnetfelder und um die zentrale Singularität ihre Intensität und begannen damit die Gravitation zu fokussieren. Hinter dem Sichtfenster wurde es schwarz, als sich der virtuelle Ereignishorizont aufbaute.

Als sich der virtuelle Ereignishorizont abbaute tauchten die Sterne hinter dem Sichtfenster wieder auf. Haydeé musste sich festhalten um den Schwindel zu überstehen, der sich immer nach einem Sprung einstellte.
Etwas schreckliches war während des Sprungs geschehen. Haydeé wusste nicht mehr was genau es war, nur das es furchtbar war. Es war wie ein Alptraum, der ein, zwei Augenblicke vor dem Erwachen endete. So sehr sie sich auch bemühte, Haydeé wusste sie würde sich nie daran erinnern können.
Paul schüttelte sich kurz. „Position?“, fragte er dann.
„Wir sind vier Lichtminuten von Lemuria entfernt“, meldete der Navigator. „Eine Lichtminute außerhalb der Strahlungsgrenze.“
„Gut. KI reaktivieren und einen Kurs nach Lemuria mit 30 Ge setzen.“
„Setze Kurs. Wir erreichen Lemuria voraussichtlich in sechs Stunden und neun Minuten.“
„Guten Morgen!“, sagte die Phönix. „Alle meine Systeme liegen im grünen Bereich. Wie war der Sprung?“
„Etwas schlimmes ist geschehen“, sagte Haydeé noch bevor jemand anderes etwas sagen konnte.
„Was?“ Das Schiff war schneller als Paul, der offensichtlich das Selbe fragen wollte.
„Ich weiß nicht was, aber ich bin mir sicher, dass es geschehen ist.“
„Wahrscheinlich ist nur jemand aus der Besatzung durchgedreht“, meinte Paul. „Wer weiß wie lange dieser Sprung gedauert hat, subjektiv gesehen. Und dir ist sicher bekannt, dass nicht alle das aushalten können.“
Natürlich war es ihr bekannt. Es waren sogar Gerüchte von Kurieren im Umlauf, die sich kurz nach Eintritt in den Sprung umbrachten und dann am Ziel quicklebendig auftauchten. Einfach weil keine Zeit verging. Darum nickte sie nur.

„Gute Nacht“, sagte das Schiff eine halbe Stunde später.
„Was ist da los?“ Paul stand auf. „Phönix, melde dich!“
„Die KI hat abgeschaltet“, kam es von den Sensoren. „Anscheinend glaubt sie wir würden einen Sprung vorbereiten.“
„Bei Gäa!“, rief der Pilot aus. „Ich habe keine Kontrolle mehr über das Schiff! Wir bremsen mit Maximalschub!“
„Wie viel ist das?“, wollte Haydeé wissen.
„Sechzig Ge“, sagte Paul. „Alarmstufe Violett! Masch...“ Er brach zusammen. Genauso wie alle anderen Primitiven auf der Brücke.
Haydeé erkannte den Geruch des Betäubungsgases sofort. Damit blieb nur noch ein einziger Tatverdächtiger übrig: Berthold.
Haydeé berührte die sensitive Stelle an ihrem Hemd. Ihr Kampfanzug, der bis jetzt eher lose an ihr herabhing, legte sich plötzlich hauteng um sie. Jacke, Hemd, Hose und Stiefel verschmolzen zu einer Einheit. Der Kragen reckte sich nach oben, bedeckte ihr Gesicht und versteckte ihre Augen hinter grünen Flecken. Dann schloss sie den Tarnmantel, holte die Handschuhe aus den Ärmeltaschen, setze die Kapuze auf und zog den Schleier herunter. Von einen Augenblick auf den Anderen löste sie sich in Luft auf.
Haydeé stürmte von der Brücke. Ihr war durchaus bewusst, dass sie nur eine viertel Stunde hatte um Berthold zu finden, ihn auszuschalten und das rückgängig zu machen was auch immer er getan hatte. Bei der Größe dieses Schiffes war das schier ein Ding der Unmöglichkeit. Trotzdem ließ sie sich davon nicht beirren. Sie wäre sonst nie eine Guardian gewesen. Sie würde dort anfangen wo er sich zuletzt aufgehalten hatte: Im Maschinenraum. Das Problem war nur, sie hatte keine Ahnung wo sich dieser befand.
Trotzdem lief sie unbeirrt weiter, vorbei ein Wandgemälden, die sie noch nie gesehen hatte und die ihr dennoch vage bekannt vorkamen. Wann immer sie zu einer Kreuzung kam blieb sie nicht stehen, sondern lief einfach in die Richtung weiter die ihr richtig erschien. Tatsächlich erreichte sie nach wenigen Minuten den Maschinenraum.
Entgegen jeder Erwartung war Berthold darin. Er saß mit dem Rücken zu ihr und tat anscheinend gar nichts.
„Wusstest du, dass man sich mit genügend Übung an den Sprung erinnern kann?“, fragte er in dem Augenblick als sie eintrat. Dann erst drehte er sich zu ihr um. Er trug eine metallene Sensorbrille. „Es dauerte eineinhalb Jahre bis ihr mich enttarnt habt. Das war genügend Zeit um die Systeme des Schiffes in und auswendig kennen zu lernen. Du hast keine Ahnung wovon ich rede.“, sagte er noch als er ihren verständnislosen Blick bemerkte.
„Warum?“, fragte sie statt einer Antwort.
„Warum ich die Phönix entführe? Aus dem selben Grund aus dem du zu den Primitiven gehst: Ich will die Schwachen beschützen.“
„Aber wir beschützen die Schwachen nicht. Wir beuten sie aus.“
„Bist du wirklich so naiv?“ Berthold schüttelte den Kopf. „Das ist das Schicksal der Schwachen! Sie werden ausgebeutet und genießen dafür Schutz. So war es immer, so wird es immer sein. Außerdem, wenn du ein System zerstörst folgt darauf immer Chaos und Anarchie. Es sei denn du etablierst sofort ein System das noch härter ist als das Vorhergehende.“
„Aber aus dem Chaos kann auch etwas Gutes wachsen!“
Berthold schüttelte wieder den Kopf: „Dieses Gespräch haben wir bereits geführt. Ich kenne all deine Argumente und weiß das wir nie auf einen grünen Zweig kommen. Also lass es uns am besten gleich beenden.“ Mit diesen Worten streifte er seinen Tarnmantel ab und begab sich in Kampfposition.
Haydeé tat es ihm gleich. Mit der Sensorbrille konnte er sie sowieso sehen. Als sie den Tarnmantel ablegte stand Berthold einem dunkelgrauen Dämon gegenüber.
„Mit dem Kampfanzug bist du mir gegenüber eindeutig im Vorteil“, lächelte Berthold und entspannte sich. „Andererseits...“ Irgendetwas fiel von den Ärmeln in seine Hände. „...haben die Primitiven einen Virenangriff mit anschließender Enterung vorausgesehen.“
Zwei Nischen öffneten sich und heraus kamen Waffen von einer Art wie Haydeé sie noch nie gesehen hatte.
Haydeé sprang sofort in die Höhe. Fünf Meter weiter oben hielt sie sich allein mit Hilfe molekularer Anziehungskräfte an der Decke fest. Kaum hatte sie ihre neue Position erreicht als sie auch schon von einem orangenen Strahl knapp verfehlt wurde. Die Hitze konnte sie selbst durch die zweite Haut des Kampfanzuges spüren. Verfolgt von den Strahlen krappelte sie sie die Decke entlang und verschanzte sich schließlich hinter einem Vorsprung.
„Das sind Plasmawaffen!“, hörte sie Berthold. „Wir brauchen noch große Teilchenbeschleuniger um einen einigermaßen stabilen Strahl zu erzeugen. Die Primitiven nicht. Ist doch irgendwie lustig, oder?“
Haydeé wagte einen Blick aus ihrer Deckung. Auf dem Boden sah sie Berthold und eine der beiden Waffen, die sich langsam in eine bessere Schussposition bewegte. Die Andere war nicht zu sehen.
„Eigentlich muss ich dich nur die nächsten zehn Minuten in deiner Deckung halten um zu gewinnen!“
Haydeé maß die Entfernung zwischen ihr und Berthold. Es war nur eine grobe Schätzung, bei weitem nicht so genau wie in einem Ketzer. Aber es musste reichen. Sie war sich ziemlich sicher, wenn sie Berthold ausschaltete würden auch die Waffen inaktiv werden. Sie ließ sich fallen.
Genau einen Augenblick zu spät.
Der Strahl traf sie in den Rücken. Durch den Kampfanzug war ihr Schrei kaum zu hören bevor sie mit voller Wucht auf den Boden prallte.
Langsam näherte sich Berthold der dunkelgrauen Gestalt, die leblos auf dem Rücken lag.
„Dann hält das Teil doch nicht so viel aus“, murmelte er während er seinen Fuß in ihre Seite bohrte.
Plötzlich schossen ihre Füße in die Höhe, packten ihn am Hals und zogen ihn nach unten. In seinem Fall verlor Berthold beide Steuergeräte.
Haydeé sprang auf, sah Berthold wie er sich wieder auf die Beine kämpfte und schlug zu. Erst als sie den Wiederstand spürte bemerkte sie, dass sie zu tief gezielt hatte.
Berthold taumelte zurück während er verzweifelt versuchte ein nicht existierendes Band zu entfernen, das ihm die Luft abschnürte. Haydeé beobachtete noch wie er an der Wand zu Boden sackte, noch immer verzweifelt um Luft kämpfend. Dann sank sie selbst auf die Knie. Sie tastete ihren Rücken ab. Der Kampfanzug hatte gehalten, doch die Hitze war durchgedrungen und hatte ihr eine Brandwunde beschert die sie noch tagelang plagen würde.
Haydeé konzentrierte sich. Für einen endlosen Augenblick wurde sie vom Schmerz zerrissen. Einen Atemzug später war es vorbei. Haydeé spürte nichts mehr.
Sie stand auf und ging zu einem Terminal. Wie viel auch immer Berthold erfahren hatte, er hatte wohl keine Zeit gehabt die Schriftsprache der Primitiven zu erlernen und sich darum alles auf diesem Terminal ins Janteranto übersetzen lassen. Sie brauchte nur wenig Zeit um sich zurecht zu finden und die Triebwerke abzuschalten.
Dann erst berührte sie wieder die sensitive Stelle auf dem Anzug. Der Kopfschutz und die Handschuhe verschwanden wieder im Anzug der aber Hauteng blieb. So konnte er der Wunde besser beim heilen helfen.
Sie blickte noch einmal zu Berthold. Mittlerweile hatte er seinen Kampf aufgegeben. Haydeé wartete darauf, dass sie etwas fühlte. Irgendetwas. Aber da war nichts. Berthold war nur ein Feind den sie ausgeschaltet hatte. Nichts mehr und nichts weniger. Aber sie musste etwas fühlen. Sie wollte etwas fühlen. Immerhin hatte sie gerade ihren ersten Guardian getötet und es würde garantiert nicht ihr letzter sein.
Als sie es endlich akzeptierte drehte sie sich um und ging zum Cockpit.

Im Cockpit hörte sie bereits eine unbekannte Frauenstimme in der Sprache die Paul einmal benutzt hatte. Haydeé stieg über die Bewusstlosen zum Sitz des Kapitäns. Sie musste lange suchen bis sie etwas fand, das die Kommunikation aktivierte.
„Hier ist Haydeé Tebelin an Bord der Phönix“, sagte sie. „Wer spricht?“
Sie musste gut zehn Sekunden auf eine Antwort warten.
„Ich bin Kapitän Jai-Pin an Bord der Kali. Wir sind noch drei Lichtsekunden von euch entfernt und nähern uns mit Maximalschub. Was ist geschehen?“
„Wir hatten eine Krise, aber die ist jetzt schon wieder vorbei. Die Besatzung wird wohl noch schlafen wenn ihr angekommen seid. Und, ähm...“ Haydeé holte tief Luft. „...wie reaktiviere ich die KI?“
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  • (Buch) gerade am lesen:Hammilton: The Dreaming Void


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