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Dreharbeiten


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#1 Beverly

Beverly

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Geschrieben 03 Mai 2006 - 18:13

DreharbeitenDer schnurrbärtige Verkäufer schüttelte den Kopf und gab Susanne die Kreditkarte zurück. »It's frozen«, sagte er.»Sorry«, entgegnete sie und gab ihm ihrerseits die silbernen Ohrringe zurück. Schade, sie hatten ihr so gut gefallen, na dann musste sie ihren letzten Gang ohne sie antreten. Susanne war mittelgroß, schlank, fast knochig, mit einem schmalen, blassen Gesicht und tiefschwarzen, schulterlangen Haaren, die sie offen trug. Ihre Augen waren grau und die Lippen hatte sie in einem leuchtenden Rot geschminkt. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit einem schwarzen Hut zum Schutz vor der Sonne und zehn Zentimeter hohe schwarze Pumps. Es sollte alles würdig und dezent sein, auch ohne Schmuck. Susanne nahm ihre Kreditkarte und warf sie nonchalant in den nächsten Papierkorb. Gesperrt und jetzt war es auch egal. Das einfache Hotel, in dem sie die letzten fünf Tage verbracht hatte, war bezahlt und in ihrer Geldbörse befanden sich noch einige hundert Dirhams, genug für das, was sie vorhatte. Sie winkte ein Taxi herbei, sagte zum Fahrer »Burj al-Âlam« und stieg ein.Während die Straßen und Hochhäuser Ain Jadîds an ihr vorbei glitten, erfasste Susanne eine Ruhe und Gelassenheit, wie sie sie lange nicht mehr erlebt hatte. Es passte alles zu ihrem Vorhaben: der blaue Himmel, das urbane Ambiente, die Araber und Ausländer, welche die Straßen bevölkerten. Vor ihr stach der Burj al-Âlam immer höher in den Himmel und schließlich hielt das Taxi im Schatten des über einen Kilometer hohen Bauwerks. Susanne bezahlte den Fahrer und ging zum Portal des Wolkenkratzers. Eine lange Schlange stand vor dem Touristeneingang und auch Susanne stellte sich an und wartete, bis sie zur Kasse kam. Für zweihundert Dirham Eintritt (fünfzig Euro) gelangte sie in das höchste Gebäude der Welt und konnte mit dem Fahrstuhl bis zu seiner Spitze fahren. Stockwerk auf Stockwerk glitt an ihr vorbei: Fünfzig Meter, hundert ... zweihundert ... fünfhundert ... tausend ... 1081 Meter! Zusammen mit Dutzenden Touristen aus aller Welt stieg Susanne aus. Über ihr erstreckte sich grenzenlos blauer Himmel, tief unter ihr und klein wie Bauklötze waren die Häuser Ain Jadîds und vor ihr glitzerte der Persische Golf. Rechts von Susanne war der Zwillingsturm vom Burj al-Âlam, der nach seiner Fertigstellung 1200 Meter hoch werden sollte - Ain Jadîds Antwort auf einen kuwaitischen Wolkenkratzer mit einer geplanten Höhe von 1100 Metern. Doch derzeit ruhten die Arbeiten an dem Turm und Polizisten waren dabei, ein Transparent mit der Aufschrift »ON STRIKE« von seiner Fassade zu entfernen, das streikende Bauarbeiter dort befestigt hatten. Ein schlanker Mann in einer dunklen Hose und einem kurzärmeligen, rot und schwarz gemustertem Hemd mit brauner Haut und lockigen, schwarzen Haaren filmte, wie die Polizisten das Transparent abnahmen und einrollten. Plötzlich traten zwei Männer in dunklen Anzügen zu ihm und zwischen den Dreien kam es zu einem erregten Wortwechsel auf Arabisch. Für Susanne war alles wie ein Traum: die Menschen um sie herum, der Himmel über ihr und der Kilometer leere Luft, der sie noch vom Boden trennte. Sie trat an die Brüstung und schwang ein Bein über sie.»Was machen Sie da?«Der Mann, mit blonden, schulterlangen Haaren, in weißer Hose und hellgelben T-Shirt sprach Deutsch. Susanne wandte den Kopf zu ihm und lächelte: »Ich scheide aus dem Leben und gibt es dafür einen schöneren Ort als diesen hier?«»Tun Sie das nicht!«»Warum nicht?« Noch immer lächelte Susanne und heiter erklärte sie: »Für mich ist in dieser Welt kein Platz mehr. Wissen Sie, ich habe studiert, einige Jahre gearbeitet und dann nichts mehr gefunden. Als ich gemerkt habe, dass es mit mir zuende geht, habe ich von meinem letzten Geld die Reise hierher bezahlt. In den paar Tagen, wo ich hier war, habe ich mich sogar hier nach Arbeit erkundigt, doch es hat nicht sollen sein. Die Welt will mich nicht mehr und so gehe ich.« Sie schwang das andere Bein über die Brüstung.»Sie haben doch noch das ganze Leben vor sich!«»Ich habe das hier.« Susanne öffnete ihre Geldbörse, in der sich nur noch einige Münzen befanden. »Meine Kreditkarte wurde gesperrt und mein Konto war schon bei meiner Abreise aus Berlin überzogen. Für meine Bank bin ich schon tot. Nun denn ...«Sie glitt von der Brüstung und stand auf dem Sims, der sich davor erstreckte, die Hände noch auf dem Geländer. »Machen Sie das nicht!«, rief der Mann und legte seine Hände auf ihre. Die Vergeblichkeit seiner Geste erheiterte sie. Sanft entzog sie ihm ihre Hände und setzte zum letzten Schritt ihres Lebens an.»Dann komme ich mit!«, erklärte er.Ganz in seine Arbeit vertieft filmte Abduh die Polizisten, welche die von den streikenden Bauarbeitern am Zwillingsturm angebrachten Transparente entfernten. Plötzlich lag eine schwere Hand auf seiner Schulter und er wurde herumgerissen. Vor ihm standen zwei bullige Sicherheitsleute. »Was Sie da tun, ist verboten!«, sagte einer.»Ich bin Journalist«, erklärte Abduh und holte seinen Presseausweis hervor.»Pah, Journalist!«, sagte der Sicherheitsmann und schnaubte verächtlich. Das brachte Abduh in Rage: »Ja, Journalist und Sie werden mich nicht daran hindern, meine Arbeit weiter zu machen!«»Die Hälfte von euch sind gekaufte Lügner, die andere Hälfte Unruhestifter«, sagte der Sicherheitsmann und sein Kollege ergänzte: »Wie ein Lohnschreiber sieht er nicht aus, also ist er ein Unruhestifter. Egal, her mit der Kamera!« Er streckte seine Hand nach Abduhs Kamera aus, doch Abduh zog sie ihm weg und machte sich daran, wieder den gegenüberliegenden Turm zu filmen. Beim Schwenk über die Plattform fiel sein Blick auf eine Frau, die zur Brüstung ging und ein Bein über sie schwang. Die beiden Sicherheitsleute folgten Abduhs Blick und erbleichten unter ihrer braunen Haut. »Scheiße, die will hier Selbstmord machen!«, flüsterte einer. Ein Mann trat zu der Frau und redete sie in einer Sprache an, welche die beiden Sicherheitsleute nicht verstanden. »Was reden die da?«, fragte der eine. »Deutsch«, antwortete Abduh leise. »Er versucht, sie davon abzuhalten.«»Kann sie das nicht bei sich zu Hause machen?«, jammerte der andere. »Mist! Wenn sie springt, sind wir unsere Jobs los.«'Und der Turm hat einen schlechten Ruf', dachte Abduh. 'Als Anziehungspunkt für Selbstmörder.' Während seines Germanistikstudiums in Berlin hatte er von einem Hochhaus gehört, von dem schon Dutzende in den Tod gesprungen waren. Das war nur ein hässlicher, niedriger Klotz aus dem vorigen Jahrhundert gewesen, nicht zu vergleichen mit dem Burj al-Âlam. Die Lebensmüden aus aller Welt würden hierher kommen und ein spektakuläres Ende suchen ... Während er überlegte, hatte er die Frau und den Mann gefilmt und ihre Unterhaltung aufgezeichnet. Die Frau hatte kein Geld und war deshalb völlig verzweifelt und nun sagte der Mann, dass er mitkommen würde. War das nur ein Trick oder wollte er sie tatsächlich beim Sprung in den Tod begleiten? ?Sie sollten ins Bett gehen und ficken, bevor sie so einen Scheiß machen!?, dachte Abduh. ?Aber nein, sie sind so verklemmt, dass sie lieber ihr Leben wegwerfen.? Es musste etwas geschehen!»Es sind Dreharbeiten«, flüsterte er zu den beiden Sicherheitsleuten. »Sagen Sie das, damit es keine Unruhe gibt.«»Du hast uns nichts ...!«, begann der eine, doch sein Kollege unterbrach ihn: »Lass ihn, vielleicht weiß er einen Ausweg.«Die beiden Sicherheitsleute gingen zu den Menschen, die entsetzt auf den Mann und die Frau starrten, und verkündeten ihnen das Märchen von den Dreharbeiten. Die Menschen entspannten sich, einige lächelten sogar, nur wenige blickten skeptisch.So ruhig, als ob er wirklich ein ausgefallenes Roadmovie drehen würde, ging Abduh näher an die beiden heran, filmte sie mal mit dem Zoom, mal in der Totalen. Schließlich beugte er sich über die Brüstung, um sie aus der Nähe zu filmen und machte Handzeichen, als ob er ihnen Regieanweisungen geben würde. Sie beachteten ihn nicht und der Mann redete so, als ob er tatsächlich mit ihr springen wollte! Ganz ruhig und gelassen stieg Abduh über die Brüstung, rutschte auf dem Sims bis zum Rand und kniete sich hin, um die beiden von vorne aufzunehmen. »Nein!«, rief Susanne. »Warum solltest du mitkommen?«»Glaubst du, du bist die Einzige, der es beschissen geht?«»Nein, aber das ist nicht mehr wichtig«, antwortete Susanne. »Es ist alles wie im Traum, als ob ich schon auf der anderen Seite wäre.«?Jetzt redet sie wirklich irre?, dachte Abduh.»Es gibt keine ?andere Seite?«, entgegnete der Mann. »Es gibt garnichts mehr und das ist auch gut so.« Er lächelte nun so wie sie. »Vergessen, Ruhe und Frieden.«Susanne erwiderte sein Lächeln und er streckte ihr die Hand entgegen. Sie nahm sie und es war doch viel schöner, den letzten Gang nicht allein zu machen. Sie hob ihren Fuß, um den letzten Schritt ihres Lebens zu machen ...»Ihr wart prima, ganz große Klasse!« Der dunkle Mann kniete vor ihnen, eine Kamera auf der Schulter. Obwohl er wie ein Araber aussah, sprach er Deutsch und lächelte sie ganz selbstverständlich an. »Die Szene ist im Kasten, nun lasst uns lieber wieder rüber gehen.« Vorsichtig richtete er sich auf, stieg über die Brüstung und half nun Susanne hinüber. Der andere Mann folgte ihr und der Araber sagte: »Ihr habt wirklich gut gespielt.«Abduh war enorm erleichtert, dass er die beiden vom Sims weggelockt und auf die andere Seite der Brüstung gebracht hatte. Nun kamen die beiden Sicherheitsleute auf sie zu, zweifellos, um die beiden zu verhaften. Wenn dabei herauskäme, dass der Selbstmordversuch nicht gespielt war, wäre Abduhs Mühe umsonst gewesen. So flüsterte er den beiden zu: »Seid jetzt zerknirscht und reuig, wenn die Wachen euch Vorhaltungen machen.« Den Sicherheitsleuten sagte er schnell: »Ermahnt sie, aber nehmt sie bloß nicht fest, dann wäre alles umsonst. Alle müssen glauben, dass es nie einen Selbstmordversuch gegeben hat und alles nur Filmaufnahmen sind.« Die Sicherheitsleute glotzten Abduh an, als ob sie überlegten, ihn gleich mit einzukassieren, doch dann lief alles nach Plan.»It was very dangerous what you have done!«, sagte eine Wache zu der Frau und die blickte reuig zu Boden: »Sorry for causing trouble.«»It was a bet«, sekundierte der Mann. »A bet, if we dare to go to the edge.«»Don't do such things again!«Während die Wachen die beiden rüffelten, filmte Abduh fleißig weiter, um dann endlich die Kamera in seiner Tasche zu verstauen und zu sagen: »So, die Szene hätten wir.«Ein Junge, acht oder neun Jahre, der mit seinen Eltern die Szene auf der Plattform beobachtet hatte, wandte sich an die Frau, machte eine Geste, wie wenn er mit einem Kugelschreiber schrieb und sagte: »Autogramm.«Schnell reichte Abduh ihr seinen Notizblock und einen Kugelschreiber und tatsächlich schrieb sie ihren Namen darauf. Ebenso tat es der Mann. Abduh las »Susanne Bergner« und »Jan Möers« und lächelte: »Susanne, Jan, ihr wart großartig! Beide!«Im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten läutete Abduhs Mobiltelefon. Am anderen Ende der Leitung war der Chef des Sicherheitsdienstes vom Burj al-Âlam: »Haben Sie die beiden?«»Ja, ich habe sie und es ist alles in Ordnung«, beruhigte Abduh ihn. »Unternehmen Sie nichts weiter und halte Sie um Himmels willen Ihre Leute zurück. Wir haben Dreharbeiten gemacht, klar?!«»Ja, klar. Sie haben uns sehr geholfen, wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«»Ich tat nur, was nötig war. Auf Wiedersehen.«»Auf Wiedersehen.«Das Mobiltelefon ihres Begleiters läutete und obwohl Susanne nichts von dem Gesprochenen verstand, begriff sie, worum es ging. Um ihren Selbstmord. Fast hätte sie ihr Leben weggeworfen und während ihr Leiden vorbei gewesen wäre, hätte es für ihre Familie und ihre Freunde erst begonnen! Mit weichen Knien sank sie gegen die Wand des Fahrstuhls. Jan empfand ähnlich und er war ganz blass geworden. Für ihren Abgang, der ihr jetzt kindisch und töricht schien, ein fremdes Land zu wählen, machte es noch schlimmer! Sie konnte froh sein, dass ihr Lebensretter so getan hatte, als ob sie einen Film drehten. Film ... sie hatte sich sogar in der hiesigen »Filmstadt« beworben, doch ohne Erfolg. Es gab Millionen und Abermillionen Frauen wie sie: jung, gebildet, arbeitslos. Blieb ihr also nichts weiter übrig, als wieder nach Berlin zurück zu fahren, das Ticket für die Rückreise lag noch in ihrem Hotelzimmer.Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich. Sie waren im Erdgeschoss und viele Menschen umringten Susanne und Jan. Ach ja, auch von unten hatte man sie vor der Brüstung gesehen, wenn auch winzig klein. Und sie war ja eine Schauspielerin bei etwas ausgefallenen Dreharbeiten. So setzte sie ein Lächeln auf und schritt durch die Menschenmenge, als sei das für sie die natürlichste Sache der Welt. 'Wie lange soll diese Scharade noch dauern?', fragte sie sich.»How do you feel there above?«, fragte ein Reporter und sie antwortete: »It was exciting and wonderful. Only one step to the next world.«»We were on the edge«, sagte Jan.»Could you tell me details of your film project?«»Now it is confidential. But it will be a road movie. Fast and exciting, people, who do unexpected things.«Ja ein Roadmovie und ihr arabischer Begleiter lächelte bei diesen Worten wie über einen besonders guten Einfall. Schade, dass er nicht gefilmt hatte, wie sie ihre gesperrte Kreditkarte einfach so in den Papierkorb geworfen hatte. Doch nun zerstreuten sich die Menschen um sie. Der Reporter wandte sich einigen Arbeitern zu, die ein Transparent auf den Platz vor dem höchsten Gebäude der Welt geschmuggelt hatten und es jetzt entrollten: »WE WANT JUSTICE!« Auch ihr Begleiter filmte nun die Arbeiter. Doch als Susanne dachte, dass die Scharade von den Dreharbeiten vorbei sei und es für sie Zeit wäre zu gehen, sagte er: »Susanne, lauf vor dem Transparent her, das sieht gut aus. Ich heiße übrigens Abduh, von Beruf Unruhestifter und Journalist.«Gemessenen Schrittes ging Susanne vor dem Transparent, das so hoch war wie sie selbst, und verdeckte einen Buchstaben nach dem anderen. Abduhs Kamera folgte ihr und schließlich drehte sie sich um, winkte und lächelte in seine Kamera. »Sehr schön«, meinte Abduh, die Umstehenden applaudierten und einer der Arbeiter sagte etwas in einer Sprache, die Susanne nicht kannte. Aber schon kamen Sicherheitsleute aus dem Portal, die Arbeiter falteten hastig ihr Transparent zusammen und verschwanden und Abduh sagte: »Jetzt lasst uns besser gehen. Für heute haben wir denen genug Unannehmlichkeiten verursacht und die können richtig gemein werden.«»Hör mal Abduh«, begann Susanne. »Du hast uns sehr geholfen und wir werden es auch nicht wieder tun und schon gar nicht hier. Aber jetzt ist es Zeit für uns, zu gehen und ...« »Nein!«, unterbrach er sie heftig. »Es ist noch nicht vorbei!« Ruhiger fuhr er fort: »Ich will eure ganze Geschichte.« Er lächelte: »Das Roadmovie ist noch nicht fertig! Und ich möchte ein Happy End!«»Also gut.« Susanne platzte heraus: »Bevor ich hierher kam, war ich bei einem Schmuckhändler und habe meine gesperrte Kreditkarte in den Papierkorb geworfen!«»Sehr gut.« Abduh lachte. »Weißt du noch, wo der Laden liegt?«»Es war nicht weit von meinem Hotel, die Straße hieß Maktaba Road.«Im Schmuckladen gab der Verkäufer Susanne ihre Kreditkarte zurück, die er aus dem Papierkorb geholt hatte. Aber er erlaubte Abduh nicht, die Szene in seinem Laden nachzustellen. »Wir sind ein seriöses Geschäft«, erklärte er, »und kein Filmstudio!«»Dann stellen wir das halt in der Filmstadt nach«, sagte Abduh zu Susanne. Die Ohrringe, die sie nicht bezahlen konnte, kaufte Abduh als Requisite. Seine Kreditkarte war stets gedeckt.Danach suchte Susanne zum zweiten Mal die östlich, außerhalb der Stadt gelegenen Filmstudios auf. Abduh mietete ein Faltstudio, wo ein Techniker mittels einiger Eingaben aus einem zuvor weißen Raum einen Schmuckladen machte. »So richtig?«, fragte er und Susanne antwortete: »Es war etwas heller, die Vitrinen standen weiter auseinander und der Verkaufstisch war niedriger und aus Holz, nicht aus Kunststoff.« Der Techniker tippte auf sein Pult und Requisiten änderten ihre Form oder falteten sich zusammen, um wieder hinter Wänden und Decken zu verschwinden, während andere zum Vorschein kamen. Schmuckstücke, die aus Hologrammen bestanden, leuchteten in den Vitrinen und Susanne sagte: »Ja, so sah der Laden aus.«Der Schauspieler, der als Verkäufer fungierte, trat hinter den Tresen und wieder war Susanne auf ihrem letzten Gang. Die Kasse hatte alle Funktionen einer echten Kasse und noch immer war Susannes Kreditkarte gesperrt. Bedauernd, doch gelassen gab sie die Ohrringe zurück und warf nonchalant ihre Kreditkarte zum zweiten Mal in den Papierkorb.»Sehr schön!«, rief Abduh. »Heute machen wir Schluss, morgen filmen wir, wie du zum Burj al-Âlam kommst.«Susanne verbrachte in ihrem Hotelzimmer eine unruhige Nacht. Vor ihrem vermeintlich letzten Gang hatte sie wunderbar geschlafen und sich danach wie in Trance angekleidet und auf den Weg gemacht, doch nun war sie müde und zerschlagen. Die Dusche erfrischte sie ein wenig und dann dachte sie an Abduh. Eigentlich war er süß und hatte zugleich etwas, was sie nicht definieren konnte, ihn aber aus der Masse der gewöhnlichen, nach berechenbaren Mustern handelnden Menschen heraushob.Es klopfte: »Ich bin?s, Abduh.«Heute trug er traditionelle Kleidung, bewegte sich aber mit den langen weißen Gewand und dem Turban auf dem Kopf ebenso selbstverständlich wie gestern in Hemd und Hose. »Ich bin gar nicht da«, sagte er und lächelte. »Es ist wieder gestern und du bist auf dem Weg zum Burj al-Âlam.«So durchlebte Susanne wieder ihren letzen Gang. Sie zog sich an, schminkte und frisierte sich und verließ das Hotel. Sie rief ein Taxi, fuhr zum Burj al-Âlam, betrat den Wolkenkratzer und fuhr im Lift nach oben. Auf der Plattform war alles wie gestern - der endlos blaue Himmel, das Glitzern des Persischen Golfes, der Zwillingsturm und die winzig kleinen Häuser tief unten. Nur wenige eilige Schritte trennten sie von Erlösung und Vergessen ... Abduh rief: »Schluss, es war super!« Er machte noch einige Aufnahmen von Jan und dann ging es wieder in die Filmstadt. Im Faltstudio stellten sie kurze Szenen von Susannes Jobsuche in Ain Jadîd nach, die sie in eine deutsche Schule, ein Hotel, ein Reisebüro und die Filmstadt selbst geführt hatte. Viermal Absagen und Kopfschütteln und von der Angestellten im Filmstudio kam der Satz: »Wir haben über zwei Millionen Bewerbungen in unserer Datenbank, tut mir Leid.«»Da bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Welt mich nicht mehr braucht«, erzählte Susanne.»Und jetzt?«, fragte Jan. »Fühle ich mich ein bisschen besser.«»Ich werde den fertigen Film auf meine Website stellen«, erklärte Abduh. »Als Referenz macht sich sowas immer gut. Unter www.abduh-salim.aj im alten Internet und erde-ain-jadid-abduh-salim-letzter-gang im Datennetz.«Er, Susanne und Jan waren am Busbahnhof von Ain Jadîd. Wegen der immer mehr gestiegenen Ölpreise konnten sich Susanne und Jan keinen Flug leisten und so mussten sie mit Bus und Eisenbahn nach Deutschland zurückkehren. Ehe sie in den Bus zur Endstation der Golfbahn stiegen, umarmte Abduh Susanne und Jan, als ob sie alte Freunde wären und winkte ihnen nach, bis ihr Bus um eine Ecke bog.Sie gelangten auf die Autobahn und ließen die Stadt hinter sich. Auf die Hochhäuser von Ain Jadîd folgten endlose Reihen von Solarpaneelen, dann Wüste. Susanne machte es sich in ihrem Sitz bequem und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Nach all dem Sand, auf dem nichts wuchs, freute sie sich wieder auf die grünen Hügel Deutschlands. Das Honorar, das ihr Abduh für die Aufnahmen gezahlt hatte, würde ihr über den ersten Monat helfen und danach würde sie weiter sehen.

Bearbeitet von Beverly, 03 Mai 2006 - 18:24.



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