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Erster Weltkrieg: Trauma stößt Science-Fiction an


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21 Antworten in diesem Thema

#1 Frank

Frank

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Geschrieben 24 August 2006 - 19:45

Liebe Leute,ich verfolge für meine Magisterarbeit zurzeit eine recht gewagte Hypothese: nämlich dass der Erste Weltkrieg bzw. die traumatischen Erfahrungen, die dort (kollektiv) gesammelt wurden - Unwirklichkeit des Szenarios, Kontrollverlust des Einzelnen, Herrschaft der Kriegsmaschine, Sinngebung des Sinnlosen, Krüppelseele, Prothetik etc. - die eigentliche Science-Fiction überhaupt erst angestoßen/initiiert haben, um dieses einschneidende Erlebnis zu verarbeiten ...Sind euch irgendwelche Quellen, Bücher, Texte, bekannt, die diese Hypothese stützen würden ... ICH BRAUCHE SOWAS DRINGEND! Sonst muss ich das wieder kippen. :rofl1:Liebe Grüße!FrankUnd hier mein aktuelles Lieblingszitat:„Es ist, als ob der Tod die Sense auf das alte Eisen geworfen hätte, als ob er nun ein Maschinist geworden wäre. Das Korn wird nicht mehr mit der Hand gemäht. Sogar die Garben werden schon mit der Maschine gebunden - so werden sie auch unsere Millionen Leichen mit Grabmaschinen in die Erde schaufeln müssen - - Verflucht, ich kann den scheußlichen Gedanken nicht los werden. [†¦] Man ist vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb übergegangen. Anstatt des Webstuhls, daran man mit den Händen schaffen saß, läßt man jetzt die großen Schwungmaschinen laufen. Einst wars ein Reitertod, ein ehrlicher Soldatentod. Jetzt ist es ein Maschinentod! [†¦] Von Technikern, von Maschinisten werden wir vom Leben zum Tode befördert. Und wie man Knöpfe und Stecknadeln im Großbetrieb erzeugt, erzeugt man nun die Krüppel und die Leichen im Maschinenbetrieb.“[7][7] Lamszus, Wilhelm: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg/Berlin, 1912, S.19-20

Bearbeitet von Frank, 24 August 2006 - 19:46.

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#2 Jakob

Jakob

    Temponaut

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Geschrieben 24 August 2006 - 21:32

Die Schwierigkeit, die mir dazu spontan einfällt ist, dass für die USA bereits der amerikanische Bürgerkrieg einen Vorgeschmack auf den "modernen Krieg" gegeben hat, und dass der für die USA wahrscheinlich sehr viel traumatischer war als WWI. Konzetrierst du dich denn auf europäische SF?Berücksichtigen müsstest du wohl auch, dass viel von H.G. Wells, was bereits sehr "typische" SF ist, bereits früher geschrieben wurde - insbesondere "War of the Worlds" (1898).Womit ich keinesfalls sagen will, dass an der These nichts dran sein kann - Aber wahrscheinlich gehört das beides zu den Punkten, die du irgendwie am Rande erklären müsstest (bzw. erklären, warum du sie ausnimmst).Viel Erfolg jedenfalls - wenn mir noch Literatur zum Thema einfällt, poste ich sie hier!
"If the ideology you read is invisible to you, it usually means that it’s your ideology, by and large."

R. Scott Bakker

"We have failed to uphold Brannigan's Law. However I did make it with a hot alien babe. And in the end, is that not what man has dreamt of since first he looked up at the stars?" - Zapp Brannigan in Futurama

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  • • (Buch) Neuerwerbung: Julie Phillips, James Tiptree Jr. (Biographie)
  • • (Film) gerade gesehen: Oblivion
  • • (Film) als nächstes geplant: Star Trek Into Darkness
  • • (Film) Neuerwerbung: American Horror Story (Serie)

#3 Tarantoga

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Geschrieben 24 August 2006 - 22:48

Liebe Leute, ich verfolge für meine Magisterarbeit zurzeit eine recht gewagte Hypothese: nämlich dass der Erste Weltkrieg bzw. die traumatischen Erfahrungen, die dort (kollektiv) gesammelt wurden - Unwirklichkeit des Szenarios, Kontrollverlust des Einzelnen, Herrschaft der Kriegsmaschine, Sinngebung des Sinnlosen, Krüppelseele, Prothetik etc. - die eigentliche Science-Fiction überhaupt erst angestoßen/initiiert haben, um dieses einschneidende Erlebnis zu verarbeiten ... Sind euch irgendwelche Quellen, Bücher, Texte, bekannt, die diese Hypothese stützen würden ... ICH BRAUCHE SOWAS DRINGEND! Sonst muss ich das wieder kippen. :rofl1:

Die These ist interessant und sicher ist etwas wahres dran. Es gibt aber auch Fakten die dagegen sprechen. So wurde so ziemlich die ganze Palette des mechanisierten Massenschlachtens ja bereits viel früher von verschiedenen Autoren beschrieben, besonders betonen möchte ich da Jules Verne. Der hatte im Prinzip schon alles von der Luftwaffe bis zum Giftgas im Angebot. Ich für meinen Teile denke, das eher die explosive Entwicklung von Naturwissenschaften und Technik ( mit alle ihren Irrwegen )war, die ursächlich für die Entstehung der modernen SCIFI steht. Ein sehr schönes Buch ( kein SCFI ), das die Zeit aus der Perspektive eines einfachen Bauern beschreibt ist " Die Lebensuhr des Gottlieb Grambauer" von Ehm Welk ( eines meiner Lieblingsbücher) . Sehr interessatn zu sehen in wie kurzer Zeit man vom Kienspan zur Glühlampe gelangt ist.

#4 yiyippeeyippeeyay

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    Interstellargestein

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Geschrieben 25 August 2006 - 00:03

Ich denke Frank meint die Entstehung moderner SF; eine Frage die ja eh die Gemüter erhitzt und viele verschiedene Antworten hervorbringt. Eine britische SF-Größe, der kurz und lang über SF Essays schreibt (Jakob kennt ihn gut!), meint z.B. den Startschuss gab 1915 Kafkas Verwandlung!

Zur Unterstützung der Hypothese: Ich hab genau ein Buch zum 1. Weltkrieg, Strachans moderne Analyse First World War, und noch nicht ganz durchgelesen. Nach 10 Minuten Suche fand ich folgende Sätze im Schlusskapitel (etwas gekürzt weil tippfaul):

In 1929 E.M. Remarque published All Quiet on the Western Front, a book which at a stroke revived the by-then flagging market for war literature. Within a year Remarque's book was translated into 28 languages, sold nearly 4 million copies, and became an academy-award winnig film. And yet it was less about the war than about the problems of a generation unable to reintegrate itself with its post-war society. Its message was one of shattered illusions...

Ich denke also in der Zeit nach dem Krieg, in der ja die weltweite Wirtschaft noch über 10 Jahre lang Achterbahn fuhr, gab es im Westen starke Anlässe der Realität den Rücken zu kehren und die Erlösung in Fantasiewelten (der friedlichen, gut-versorgten Zukunft) zu suchen. Die Kinder der genannten "gebrochenen" Generation schrieben dann in den späten Zwanzigern und Dreißigern die ersten modernen Zukunftsromane (technologische Utopien).

1929 war zufällig auch das Jahr in dem Gernsback den Terminus SF erfand. Und 4 Jahre später (s. Beitrag #8 dort) wurde Superman ersonnen als Gegenidee zu den Allmachtsfantasien der Nazis...

Bearbeitet von yiyippeeyippeeyay, 25 August 2006 - 00:21.

/KB

Yay! Fantasy-Reimerei Mitte August...
[..] Verzweiflung beschlich sie im Stillen.

Da ergriff eins der kleinsten das Wort:

"Wenn sich all unsere Wünsche erfüllen,

dann wünschen wir einfach mit Willen

die Wünsche-Erfüllung fort!"

Sie befolgten den Rat und von Stund an war

wieder spannend das Leben und heiter.

Die Kinder war'n froh wie vor Tag und Jahr

und vielleicht gar ein wenig gescheiter.

(BewohnerInnen der Stadt der Kinder, aus der "Geschichte vom Wunsch aller Wünsche", aus Die Zauberschule & andere Geschichten, Neuauflage im Thienemann-Verlag, S. 93, von Ende)


#5 Pixelprimat

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Geschrieben 25 August 2006 - 00:34

Meine These ist, dass die SF immer am Puls der Zeit war. Was war in den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern? Große Weltraumepen mit Aliens und Kolonien im Weltall. Meines Erachtens kein Zufall, denn in etwa diese Zeit fallen ja auch Roswell, Sputnik, Gagarin und das Apolloprojekt. Was kam danach? Cyberpunk, Computer und Cyberspace. Kein Wunder, entwuchs da doch der Computer seinen Kinderschuhen, da wurde das Internet etabliert. Was haben wir jetzt? Das Klonen macht sich in der SF breit, das ja das 21. Jhd. so ungeheuer umkrempeln soll, und einiges andere, was wir erst in ein paar Jahren einordnen können, weil wir die Zukunft noch nicht kennen. Geben wir es doch zu, die Zukunft macht uns Angst. Sie hat uns immer Angst gemacht, denn sie wird nicht so sein wie das Jetzt. Sie bietet so viele Möglichkeiten, so viele Gefahren. Es kommen Veränderungen auf uns zu, die wir nicht immer voraussagen können, die wahrscheinlich schädlich sind, an die wir uns anpassen müssen und die wir deshalb der Menschheit lieber jetzt sofort vorstellen, bevor uns die neue Wirklichkeit überrollt.Das ist für mich der Gedanke der SF. Gut möglich, dass man vor 100 Jahren auch so dachte. Allgemeine Skepsis gegenüber Technisierung war damals sehr weit verbreitet. Man muss sich eben vor Augen halten, dass unzählige Menschen vor allem aus den unteren Schichten durch die Industrialisierung (die zu diesem Zeitpunkt ja noch längst nicht abgeschlossen war) ihre Arbeit, ihre Einkommensquelle verloren, in den Städten ihr Glück suchte und dort gezwungen war, in Slums unter unmenschlichen Bedingungen zu wohnen, während reiche Kapitalisten die Situation ausnutzten um durch Massenarbeitslosigkeit die Löhne zu drücken, um mehr, mehr, mehr, noch mehr Profit zu machen. (Entschuldigt, dass es sich anhört wie kommunistische Propaganda, ich will nur veranschaulichen ;) )Dass ein großer Krieg, ein Weltkrieg, kurz bevorstand, war damals eigentlich allen Menschen längst bewusst. Sein Ausbruch war nur eine Frage der Zeit. Ebenfalls klar war, welche Mittel man in ihm verwenden würde, denn der Rüstungswettlauf war ja schon seit mehreren Jahren im vollen Gange, wurde auch unverhohlen der Bevölkerung propagiert. Außer vielleicht dem Panzer waren eigentlich alle Waffen des sich ankündigenden Krieges schon erfunden und ihr Einsatz getestet, lange bevor der Krieg begann. Man musste also wahrlich kein SF-Autor sein, um sich auszumalen, wie die Zukunft der Menschen aussehen würde: bezogen auf den Arbeiter, das wegrationalisierte Opfer der Industrialisierung, und den Soldaten, Opfer furchtbarer neuer Kriegsmaschinerien. Insofern wieder: mE war auch hier die SF wieder "nur" am Puls der Zeit. (Übrigens glaube ich, dass Kriege immer brutal und entmenschlichend sind, egal ob Menschen mit Maschinengewehren getötet werden oder mit Holzkeulen.)Was ich dir allerdings voll abkaufen würde ist die These, dass der Erste Weltkrieg ein einschneidendes Ereignis (auch) für die SF war und ihre Entwicklung begünstigt hat. Zugegeben, meine SF-Kenntnisse über diesen Zeitraum haben ziemlich große Lücken. Aber fakt ist, dass der Krieg die technologische Entwicklung innerhalb kürzester Zeit rapide weitergebracht hat: danach herrschte natürlich Goldgräberstimmung unter Wissenschaftlern und Phantasten, die neue, friedlichere Einsatzmöglichkeiten der neuen Techniken suchten, ihr Potenzial erkannten, sie weiterenwickelten und für den kleinen Mann zugänglich machten. Und denken wir nicht nur an die Technik, sondern auch an die sozialen Folgen: z.B. die Errichtung der sozialistischen Diktatur in Russland. Da muss ich sofort an die Dystopien denken, die einen solchen Überwachungs- und Gleichschaltungsstaat beschreiben, z.B. Samjatins "Wir", Ausgangsbasis für "1984" und "Brave New World".Diese Entwicklungen brachten nicht nur Gutes mit sich, sie machten eben auch vielen Menschen Angst - wie schon im zweiten Absatz beschrieben. Dazu kommt sicherlich auch yip's These, dass es zwischen den Kriegen wahrlich genug Gründe gab, der Realität den Rücken zu kehren. (Wenn man das als Argument betrachten will. Ich persönlich glaube nicht, dass SF der Realitätsflucht dient, sondern dass sie stattdessen zeitgenössische Probleme fokussiert. Für Realitätsflucht gibts Fantasy und Daily Soaps :rofl1: )Stellen wir außerdem fest, dass zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg auch die letzten weißen Flecken auf der Erde kartografiert wurden. Die Erde, da bekannt, ist nicht mehr gut genug für große Abenteuer. Also steckt sich der Mensch ein neues Ziel. Der Weltraum... unendliche Weiten... ;)

Bearbeitet von Pixelprimat, 25 August 2006 - 00:51.

...mfg Talh/Pixelprimat

#6 Nessuno

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Geschrieben 25 August 2006 - 07:47

Liebe Leute, ich verfolge für meine Magisterarbeit zurzeit eine recht gewagte Hypothese: nämlich dass der Erste Weltkrieg bzw. die traumatischen Erfahrungen, die dort (kollektiv) gesammelt wurden - Unwirklichkeit des Szenarios, Kontrollverlust des Einzelnen, Herrschaft der Kriegsmaschine, Sinngebung des Sinnlosen, Krüppelseele, Prothetik etc. - die eigentliche Science-Fiction überhaupt erst angestoßen/initiiert haben, um dieses einschneidende Erlebnis zu verarbeiten ...

In Ansätzen (und mit der Ergänzung, dass die "Versailler Schmach eine Lawine von Zukunftskriegsromanen ausgelöst hat, in denen die Deutschen Revanche nehmen) haben diese These bereits Fisher und Hermand aufgestellt. Vgl. FISHER, Peter Steven: Fantasy and Politics: Visions of the Future in the Weimar Republic, 1918-1933, Diss. Harvard, Cambridge 1985. Auch: Madison: The University of Wisconsin Press, 1991. HERMAND, Jost: Der alte Traum vom neuen Reich: Völkische Utopien und Nationalsozialismus. 2. Aufl. Weinheim: Beltz Athenäum, 1995. Es ist außerdem nicht ganz unproblematisch, deine Theorie von der Auswirkung des 1. Weltkriegs auf die Science Fiction mit einem Zitat aus einem Werk von 1912 zu belegen ... Wenn du weitere Literatur brauchst, schreib mir ne PN. Nessuno

Bearbeitet von Nessuno, 25 August 2006 - 11:21.


#7 Frank

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Geschrieben 25 August 2006 - 12:12

Ah! Vielen Dank erstmal! Mal sehen, ob ich's mir hinbiegen kann ... Muss Gottseidank nicht allzu sehr in die Tiefe gehen, ich brauche halt nur eins, zwei Zitate, die idealerweise aussagen:"Ein Großteil der Motive und Konflikte der gängigen Science-Fiction-Literatur gehen aus den Erfahrungen, dem Trauma des Ersten Weltkriegs hervor".

Bearbeitet von Frank, 25 August 2006 - 12:13.

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#8 Gast_Jorge_*

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Geschrieben 25 August 2006 - 18:16

Weitere Literatur

Brian W.Aldiss "Der Milliarden Jahre Traum"(Trillion Year Spree: The History of Science Fiction) Kapitel 6 Die Flucht aus den Städten Wells Zeitgenossen Kapitel 8 In den Klauen des Zeitgeistes Die dreißiger Jahre Zitat -Die "scientific romance", die ihre Blüte in den Werken von Shiel, Griffith und H.G. Wells erlebte, sollte kurz darauf mit der Science Fiction der SF-Magazine verschmelzen. Ihre Traditionen waren durch den weltkrieg von 1914-18 und das Kleinerwerden der Welt geschwächt worden. Ihre -wenn auch begrenzte- Wirkung hatte immer auf eine intelligente Leserschaft der Mittelschicht gezielt. Die amerikanische Science Fiction kam aus anderen Wurzeln, sprach einfachere Leserschichten an.Ihre Wurzeln lagen hauptsächlich in den für Jungen geschriebenen Abenteuergeschichten von Senarens, Garis und anderen, in den alten "dime novels". Zu einer Zeit, als sich die amerikanische "scientification" anschickte, höhere intellektuelle Niveaus zu infiltrieren, fiel die Scientific Romance in England in die Jugendliteratur zurück. Ein Großteil der Scientific Romance war beharrlich düster im Ton, genau wie die Scientification von einem beharrlichen Optimismus beherrscht wurde. Der "Große Krieg", wie er genannt wurde, bis ein größerer Weltkrieg ausbrach, dauerte vier Jahre lang, soweit es die europäischen Mächte betraf. Die Verluste an Menschenleben betrugen etwa 12000000, von denen nur 325876 Amerikaner waren. Das Gefühl des hilflosen Zorns in Britannien und die Erfahrung der Desillusionierung durch den Krieg ging tief.- John Clute "Science Fiction - Die illustrierte Enzyklopädie" (S.46-55) 1910-1919: Die Welt im Krieg 1920-29: Kriegsnachwehen The Cambridge Companion to Science Fiction (S.28-31) Brian Stableford Science fiction before the genre Proliferation and diversification Dieter Wuckel "Science Fiction" (S.100-138) Die Entfaltung der Science Fiction nach dem ersten Weltkrieg Zitat -Der erste Weltkrieg war für die wissenschaftliche Phantastik aller europäischen Länder ein wesentlicher Einschnitt, nur in den USA gab es für die Entwicklung der Gattung keine Zäsur-

#9 yiyippeeyippeeyay

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Geschrieben 25 August 2006 - 18:58

Hm, die These scheint ein wenig auf einer Gegenargumente-Sandbank auf zu laufen... Zur Not kannst du ja die ganze Arbeit überzeugend in deiner Richtung vorstellen, und dann am Ende schreiben: "Dieser wie eine Magisterarbeit aussehende Text ist mein Versuch eine neue Art von SF - self-annihilating credible science fake (s.a.cred. SF) - zu erschaffen. Bitte das Gelingen dieses Versuchs ehrlich bewerten." :(

Bearbeitet von yiyippeeyippeeyay, 25 August 2006 - 19:01.

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Yay! Fantasy-Reimerei Mitte August...
[..] Verzweiflung beschlich sie im Stillen.

Da ergriff eins der kleinsten das Wort:

"Wenn sich all unsere Wünsche erfüllen,

dann wünschen wir einfach mit Willen

die Wünsche-Erfüllung fort!"

Sie befolgten den Rat und von Stund an war

wieder spannend das Leben und heiter.

Die Kinder war'n froh wie vor Tag und Jahr

und vielleicht gar ein wenig gescheiter.

(BewohnerInnen der Stadt der Kinder, aus der "Geschichte vom Wunsch aller Wünsche", aus Die Zauberschule & andere Geschichten, Neuauflage im Thienemann-Verlag, S. 93, von Ende)


#10 Frank

Frank

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Geschrieben 27 August 2006 - 14:46

So, ich hab das Dilemma jetzt folgendermaßen gelöst. Sagt doch bitte mal, wie stichhaltig ihr das findet. Ich will eben nur einen sauberen Übergang vom Ersten Weltkrieg zum Automatenzeitalter von Ri Tokko konstruieren ...


2.2.3.7.) Nachkriegsdepression und Utopie



Nach dem desaströsen Ausgang des Ersten Weltkriegs stellt sich Ernüchterung und Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeiten des technischen Fortschritts ein. Die Visionen von der Beflügelung der Menschheit durch ihre Maschinen sind nicht in Erfüllung gegangen, tief sitzen die traumatischen Erfahrungen des mechanisierten Krieges:



„Die ursprüngliche Idee der Menschenverbrüderung durch Technik hatte sich als tragische Fehleinschätzung weniger der technischen Möglichkeiten, als der menschlichen Fähigkeiten erwiesen. Dem Menschen war die Herrschaft über die Technik entglitten; die Maschine wurde nun zum Sinnbild eines Schicksals, das ihn in sinnlosen Mechanismen gefangennahm. Dabei bildeten die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und der industrielle Produktionsprozeß eine Analogie.“[1]



Was folgt, ist eine geistige Verdrängung der schier unerträglichen sozialen und politischen Realität[2]. Man flüchtet sich in Traumwelten, in denen die Visionen einer besseren Zukunft noch gelebt werden können:



„[Ü]brig blieben nichts als Traum und Neurose, eine Welt voller Illusionen, die sich durch einen alles beherrschenden Negativismus charakterisierte. Die Phantasie wurde zur treibenden Kraft allen Handelns und Melancholie zur allgemeinen Stimmung.“[3]



Geschichtsmüdigkeit greift um sich; man kehrt den undurchsichtigen realen sozialen und politischen Vorgängen den Rücken zu, richtet seine Aufmerksamkeit auf Bereiche, die mehr Stabilität und Dauer versprechen[4], und befasst sich verstärkt mit Szenarien einer idealen Weltordnung - möglichen Auswegen, die aus dieser depressiven Nachkriegsperiode herausführen: Es sind Utopien, die im „Jahrhundert der Naturwissenschaft“[5] herangereift sind und nun ihr ganzes Potenzial ausspielen sollen:



„[E]in Traumbild [wird] hineingezaubert, das über diese konfuse, geschichtliche Realität triumphieren soll. Man konstruiert einen Zustand, der die Kulmination, die Blüte, den Abschluß des historischen Prozesses bilden soll.“[6]



Hierbei kristallisieren sich zwei grundverschiedene utopistische Kraftlinien heraus, die miteinander konkurrieren: die sozialistische und die biologische[7]. Erstere entfaltet im Proletariat seine volle Wirkung; dieser „wirtschaftliche, marxistisch-kommunistische Strang“[8] zeigt ihnen, wie das (von ihrem Standpunkt aus) ungerechte Klassensystem dauerhaft überwunden werden kann.

Letztere wird vom Bürgertum erst zögernd, dann mit wachsender Begeisterung aufgenommen: die Idee des Herrenmenschen, der quasi als darwinistisches Endprodukt die Menschheit überragt. Gepaart mit der „Revancheidee der Nationalisten“[9], wird daraus der arische Heros, der als deutscher Weltbeherrscher blutige Rache an seinen Feinden ausübt. Ihm gehört die Zukunft[10], die glorreich werden soll, aber - wie wir wissen - nur in einer neuen, noch größeren Katastrophe des 20. Jahrhunderts endet: dem Zweiten Weltkrieg:



„The radical nationalists wrote their political fantasies in order to keep the martial values alive and to propose that the spiritual legacy of war could become the foundation for the reinvigorated, prosperous, and harmonious Germany. In the visionary literature, private and public aims were identical ... The right-wing visionaries, the intellectually and morally crippled products of a disastrous war, thus transformed themselves into the vanguard of an even more catastrophic future.†[11]



Bis zum Ende der Weimarer Republik entsteht eine „Flut sozialer Entwürfe von links und rechts“[12], darunter auch Das Automatenzeitalter von Ludwig Dexheimer, der das Bild einer utopischen Gesellschaft entwirft, wo Mensch und Maschine vollständig miteinander in Einklang leben - entstanden aus einer „seit langem tätige[n] soziale[n] Evolution, die mit der Kraft und Sicherheit eines Naturgesetzes die menschliche Gesellschaft zum Idealzustand führt.“[13]

An dieser Stelle wird die Kongruenz zwischen politischer Ideologie und utopisch-phantastischer Zukunftsvision deutlich, die so charakteristisch für die moderne Science-Fiction ist: Aufgrund der aktuellen politischen, sozialen, technischen und kulturellen Situation bzw. ihrer zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten wird eine Zukunft der menschlichen Gemeinschaft extrapoliert[14]. Herbei nimmt die Analyse bzw. mögliche Überwindung gegenwärtiger Missstände der Gesellschaft eine wichtige Stellung ein. Im Umkehrschluss heißt das:



Science-Fiction spiegelt immer nur die jeweilige Gegenwart wider.



Daraus lässt sich folgende These ableiten: Wenn auch die Anfänge der eigentlichen Science-Fiction im 19. Jahrhundert liegen und Jules Verne als einer ihrer Hauptvertreter angesehen werden kann, hat der Erste Weltkrieg mit seinen negativen kulturhistorischen und sozialen Folgen doch entscheidenden Einfluss auf die weitere Ausprägung dieser Literaturgattung. Neben den positivistischen Abenteuern, die mithilfe der technischen Errungenschaften denkbar geworden sind - Reisen zum Mond, Tauchfahrten ins Meer etc. - haben sich neue, pessimistische Szenarien herausgebildet: Es handelt sich um Dystrophien, die - wie die neuen Utopien - nicht bloß unterhalten, sondern in erster Linie aufklären wollen. Beide, Dystrophie und Utopie, setzen sich kritisch mit den Umständen ihrer Zeit auseinander:



„Die Handlung dient vielmehr dazu, ihn bei der Stange zu halten, ihm schwer verdauliche Kost bekömmlich aufzubereiten. Eigentlich geht es weniger um den Protagonisten, seine Konflikte, sein Leben. Es geht um die neue Gesellschaft, ihre Struktur, ihre Geschichte. Sie ist der eigentliche Gegenstand des Buches. Der Autor will den Leser belehren und bekehren, er verfolgt ein erzieherisches Ziel. Daher sticht der didaktische Zeigefinger mehr oder weniger in allen Werken durch“[15].



Als Beispiele können Metropolis von Thea von Harbou oder The machine stops von E.M. Forster angeführt werden; beides sind Dystrophien. Auf der anderen Seite steht Das Automatenzeitalter, eine technische Utopie, die ich im Folgenden kurz vorstellen möchte.

[1] Braun u. Kaiser, S.255

[2] Vgl. Ekstein, Modris: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Hamburg, 1990, S.433f

[3] Ebd.

[4] Vgl. Döblin, Alfred: Die Deutsche Utopie von 1933 und die Literatur. In: Muschg, Walter [Hrsg.]: Alfred Döblin. Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten, 1989, S.368

[5] Ebd. S.371

[6] Ebd. S.368

[7] Vgl. Ebd. S.371

[8] Ebd.

[9] Ebd. S.373

[10] Vgl. Ebd.

[11] Fisher, Peter Steven: Fantasy and Politics. Visions of the Future in the Weimar Republic, 1918-1933. Madison, 1991, S.226

[12] Both, Wolfgang: Die sozialistischen Utopien seit Bellamy. URL: http://www.epilog.de...opie/Index.html

[13] Bülow, Ralf in der Einführung zu: Tokko, Ri: Das Automatenzeitalter. Ein prognostischer Roman. Berlin, 2004, S.9

[14] Vgl. Ebd.

[15] Both, Wolfgang: Die sozialistischen Utopien seit Bellamy. URL: http://www.epilog.de...opie/Index.html

Bearbeitet von Frank, 27 August 2006 - 15:24.

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#11 Nessuno

Nessuno

    Giganaut

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Geschrieben 27 August 2006 - 15:48

Hallo Frank,ich nehme an, dir ist mehr an Kritik als an Lob gelegen, daher beschränke ich mich auf letzteres. :thumb: Es ist natürlich problematisch, die Zeit vom Ende des 1. Weltkriegs (1918) bis Ri Tokko (1930) auf wenige Stichworte wie Depression und Misstrauen gegenüber Technik zu reduzieren. Das Bild ist wesentlich komplexer, sodass die Aussage, dass es im Wesentlichen die sozialistische und biologische utopische Traditionslinie gegeben habe, schlichtweg verkehrt ist (es gibt für die Weimarar Zeit nicht einmal ein Dutzend linke Utopien, dagegen Hunderte von relativ apolitischen Technikphantasien). Aber wenn du schon die These vertreten willst, dann solltest du andere Beispiele wählen. Weder The Machine stops (1909!) noch Metropolis (als Buch, das nach eigenem Bekunden im Vorwort nicht politisch sein will) noch Das Automatenzeitalter sind typische Werke dieser Zeit. Das zum Grundsätzlichen.Noch ein paar Einzelheiten: - "stellen" (nicht "stellt") sich Ernüchterung und Pessimismus- "Kongruenz zwischen politischer Ideologie und utopisch-phantastischer Zukunftsvision deutlich, die so charakteristisch für die moderne Science-Fiction ist": Warum dies gerade für die moderne Science Fiction charakteristisch sein soll, verstehe ich nicht. Das Gegenteil ist doch eher der Fall. Wie viele echte Utopien bzw. utopische Romane des 21. Jahrhunderts kennst du? 99 % hat doch mit politischer Ideologie nix zu tun.- "Geschichtsmüdigkeit greift um sich": angesichts der Beliebtheit von Spengler & Co. scheint mir dies nicht belegbar zu sein.- "Letztere [biologische Kraftlinie] wird vom Bürgertum erst zögernd, dann mit wachsender Begeisterung": Ich glaube, das Buch von Jost Hermand behauptet das glatte Gegenteil.- "positivistischen" Abenteuern: Meinst du positiv? Positivistisch ist doch etwas anderes ...- "Dystrophie"? Du meinst sicherlich Dystopie. Dystrophie ist die Ernäherungsstörung.- Du solltst auf jeden Fall noch neben dem Buch von Hermand das Werk von TZSCHASCHEL, Rolf: Der Zukunftsroman der Weimarer Republik: Eine geisteswissenschaftliche Untersuchung. Wetzlar: Förderkreis Phantastik in Wetzlar e. V., 2002 (= Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar; 30) zitieren.Nessuno

#12 Frank

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Geschrieben 27 August 2006 - 16:10

Hallo Frank,

Das Bild ist wesentlich komplexer, sodass die Aussage, dass es im Wesentlichen die sozialistische und biologische utopische Traditionslinie gegeben habe, schlichtweg verkehrt ist

Soviel zu meiner Auslegung von Döblins Aufsatz ... *örks* :thumb:

Weder The Machine stops (1909!)

Oh, da hab ich echt Bockmist gebaut ... in meinem Propyläen wird das in einem Atemzug mit "Berge, Menschen, Giganten" (1924) von Döblin genannt - hab nicht richtig gelesen ... *hüstel*

noch Metropolis (als Buch, das nach eigenem Bekunden im Vorwort nicht politisch sein will)

Bitte? Da schau ich aber mal nach ...

Das Automatenzeitalter sind typische Werke dieser Zeit. Das zum Grundsätzlichen.

Ja, gut, aber Automatenzeitalter entsteht ja zu der Zeit, dann darf ich das doch auch dort einordnen, gell? Oje, ich seh schon; alles wieder viel komplexer als ich das so auf die Schnelle haben will ... :thumb:

"positivistischen" Abenteuern: Meinst du positiv? Positivistisch ist doch etwas anderes ...

Im Sinne von "technikbejahende" ... hab's geändert.

- "Dystrophie"? Du meinst sicherlich Dystopie. Dystrophie ist die Ernäherungsstörung.

Dystopie natürlich, ist auch raus.

- Du solltst auf jeden Fall noch neben dem Buch von Hermand das Werk von TZSCHASCHEL, Rolf: Der Zukunftsroman der Weimarer Republik: Eine geisteswissenschaftliche Untersuchung. Wetzlar: Förderkreis Phantastik in Wetzlar e. V., 2002 (= Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar; 30) zitieren.

Ja, das muss ich wohl tiefer in die Materie eintauchen, sonst brechen mir diese drei Seiten das Genick ...

Bearbeitet von Frank, 27 August 2006 - 16:18.

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#13 Nessuno

Nessuno

    Giganaut

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Geschrieben 27 August 2006 - 16:23

noch Metropolis (als Buch, das nach eigenem Bekunden im Vorwort nicht politisch sein will)

Bitte? Da schau ich aber mal nach ...

Unbedingt! Ich glaube, das Motto lautet: »... Dieses Buch dient keiner Tendenz, keiner Klasse, keiner Partei ...« (oder so ähnlich)

Das Automatenzeitalter sind typische Werke dieser Zeit. Das zum Grundsätzlichen.

Ja, gut, aber Automatenzeitalter entsteht ja zu der Zeit, dann darf ich das doch auch dort einordnen, gell?

Sicher. Aber ich kenne kein zweites vergleichbares Werk wie "Das Automatenzeitalter" aus dieser Zeit. Das dürfte auch der Grund sein, warum die Kollegen von Shayol es ausgegraben haben. Ich wollte auch nur sagen, dass es sehr untypisch für die Science Fiction der Weimarer Zeit ist und daher vielleicht nicht sehr gut geeignet ist, um eine allgemeinere These zu untermauern. Nessuno PS.: Nur keine Panik, Frank, ich habe ja nur meine Kritikpunkte geäußert und das Positive unkommentiert gelassen. Das kommt davon, wenn man Spezialisten fragt ... quot capita, tot sententiae, wie mein alter Lateinlehrer zu sagen pflegte ... (hüstel)

#14 Frank

Frank

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Geschrieben 27 August 2006 - 16:45

So, ich hab das jetzt soweit mal nach deinen Anmerkungen abgefedert ... Wird aber nochmal aufgegraben, wenn die Fremdleihe mir die nötigen Bücher hinspuckt. :thumb: -------------------------2.2.3.7.) Nachkriegsdepression und UtopieNach dem desaströsen Ausgang des Ersten Weltkriegs stellen sich Ernüchterung und Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeiten des technischen Fortschritts ein. Die Visionen von der Beflügelung der Menschheit durch ihre Maschinen sind nicht in Erfüllung gegangen, tief sitzen die traumatischen Erfahrungen des mechanisierten Krieges:„Die ursprüngliche Idee der Menschenverbrüderung durch Technik hatte sich als tragische Fehleinschätzung weniger der technischen Möglichkeiten, als der menschlichen Fähigkeiten erwiesen. Dem Menschen war die Herrschaft über die Technik entglitten; die Maschine wurde nun zum Sinnbild eines Schicksals, das ihn in sinnlosen Mechanismen gefangennahm. Dabei bildeten die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und der industrielle Produktionsprozeß eine Analogie.“ Was folgt, ist eine geistige Verdrängung der schier unerträglichen sozialen und politischen Realität . Man flüchtet sich in Traumwelten, in denen die Visionen einer besseren Zukunft noch gelebt werden können:„[Ü]brig blieben nichts als Traum und Neurose, eine Welt voller Illusionen, die sich durch einen alles beherrschenden Negativismus charakterisierte. Die Phantasie wurde zur treibenden Kraft allen Handelns und Melancholie zur allgemeinen Stimmung.“ In der Folgezeit treten verstärkt Szenarien einer idealen Weltordnung zutage - mögliche Auswege, die aus dieser depressiven Nachkriegsperiode herausführen: Es sind neue Utopien, die im „Jahrhundert der Naturwissenschaft“ herangereift sind und nun ihr ganzes Potenzial ausspielen sollen:„[E]in Traumbild [wird] hineingezaubert, das über diese konfuse, geschichtliche Realität triumphieren soll. Man konstruiert einen Zustand, der die Kulmination, die Blüte, den Abschluß des historischen Prozesses bilden soll.“ Neben einer ganzen Reihe von relativ apolitischen Technikphantasien kristallisieren sich auch zwei ideologische Utopiestränge heraus, die miteinander in direkter Konkurrenz stehen: die sozialistische und die biologische. Erstere entfaltet im Proletariat seine volle Wirkung - dieser „wirtschaftliche, marxistisch-kommunistische Strang“ zeigt ihnen, wie das (von ihrem Standpunkt aus) ungerechte Klassensystem dauerhaft überwunden werden kann. Letztere wird vom Bürgertum aufgenommen: Es ist die Idee des Herrenmenschen, der quasi als darwinistisches Endprodukt die Menschheit überragt. Gepaart mit der „Revancheidee der Nationalisten“ , wird daraus der arische Heros, der als deutscher Weltbeherrscher blutige Rache an seinen Feinden ausübt. Ihm gehört die Zukunft , die glorreich werden soll, aber - wie wir wissen - nur in einer neuen, noch größeren Katastrophe des 20. Jahrhunderts endet: dem Zweiten Weltkrieg:„The radical nationalists wrote their political fantasies in order to keep the martial values alive and to propose that the spiritual legacy of war could become the foundation for the reinvigorated, prosperous, and harmonious Germany. In the visionary literature, private and public aims were identical ... The right-wing visionaries, the intellectually and morally crippled products of a disastrous war, thus transformed themselves into the vanguard of an even more catastrophic future.† Bis zum Ende der Weimarer Republik entsteht also eine „Flut sozialer Entwürfe von links und rechts“, ferner auch das Buch "Das Automatenzeitalter" von Ludwig Dexheimer, eine für diese Zeit eher ungewöhnliche Utopie, die das Bild einer Gesellschaft entwirft, wo Mensch und Maschine vollständig miteinander in Einklang leben - entstanden aus einer „seit langem tätige[n] soziale[n] Evolution, die mit der Kraft und Sicherheit eines Naturgesetzes die menschliche Gesellschaft zum Idealzustand führt.“ An dieser Stelle wird die Ähnlichkeit zwischen politischer Ideologie und utopisch-phantastischer Zukunftsvision deutlich, die sich als Subgenre im Bereich der Science-Fiction etabliert: Aufgrund der aktuellen politischen, sozialen, technischen und kulturellen Situation bzw. ihrer zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten wird eine Zukunft der menschlichen Gemeinschaft extrapoliert . Herbei nimmt die Analyse bzw. mögliche Überwindung gegenwärtiger Missstände der Gesellschaft eine wichtige Stellung ein. Im Umkehrschluss bedeutet das auch:Science-Fiction spiegelt immer nur die jeweilige Gegenwart wider.Daraus lässt sich folgende These ableiten: Wenn auch die Anfänge der eigentlichen Science-Fiction im 19. Jahrhundert liegen und Jules Verne als einer ihrer Hauptvertreter angesehen werden kann, hat der Erste Weltkrieg mit seinen negativen kulturhistorischen und sozialen Folgen doch entscheidenden Einfluss auf die weitere Ausprägung dieser Literaturgattung. Neben den technikbejahenden Abenteuern, die mithilfe der neuen Errungenschaften denkbar geworden sind - Reisen zum Mond, Tauchfahrten ins Meer etc. - haben sich neue, pessimistische Szenarien herausgebildet: Es handelt sich um Dystopien, die - wie die neuen Utopien - nicht bloß unterhalten, sondern in erster Linie aufklären wollen. Beide, Dystopie und Utopie, setzen sich kritisch mit den Umständen ihrer Zeit auseinander:„Die Handlung dient vielmehr dazu, ihn bei der Stange zu halten, ihm schwer verdauliche Kost bekömmlich aufzubereiten. Eigentlich geht es weniger um den Protagonisten, seine Konflikte, sein Leben. Es geht um die neue Gesellschaft, ihre Struktur, ihre Geschichte. Sie ist der eigentliche Gegenstand des Buches. Der Autor will den Leser belehren und bekehren, er verfolgt ein erzieherisches Ziel. Daher sticht der didaktische Zeigefinger mehr oder weniger in allen Werken durch“ .Das Automatenzeitalter von Ri Tokko (Pseudonym von Ludwig Dexheimer) ist eine technische Utopie mit didaktischem Anspruch, die ich im Folgenden kurz vorstellen möchte.

Bearbeitet von Frank, 27 August 2006 - 17:17.

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#15 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 27 August 2006 - 18:23

die - wie die neuen Utopien - nicht bloß unterhalten, sondern in erster Linie aufklären wollen.

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Was meinst du mit "neuen Utopien". Bereits Thomas Morus "Utopia" (daher der Name dieser Literaturgattung) war nicht auf bloße Unterhaltung ausgelegt.

hat der Erste Weltkrieg mit seinen negativen kulturhistorischen und sozialen Folgen doch entscheidenden Einfluss auf die weitere Ausprägung dieser Literaturgattung.

Das leuchtet mir nur dann ein, wenn du die Zeit bis spätestens 1945 meinst. Denn ab den fünfziger Jahren dominiert die amerikanische Science Fiction in Deutschland. So startet Walter Ernsting die erfolgreichen Heftreihen, die Übersetzungen aus dem Englischen bringen. So bringt Jorge weiter oben eine Quelle, die die These vertritt, dass die SF in den USA nicht durch den 1. Weltkrieg beeinflusst wurde. Daher würde ich den Einfluss des Weltkrieges als räumlich und zeitlich eingeschränkt ansehen.

#16 Gast_Jorge_*

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Geschrieben 28 August 2006 - 20:42

Weitere Literatur

The Cambridge Companion to Science Fiction (S.28-31)
Brian Stableford
Science fiction before the genre
Proliferation and diversification

"In France as in England however, the Great War was a drastic interruption inhibiting the genre`s development and lending encouragement to its sceptical and pessimistic elements.
Elsewhere in Europe, where no traditions of scientific romance had taken root before the importation of Verne and Wells, the Great War had even more dramatic effects. Although the German Wellsian, Kurt Lasswitz, produced three speculative novels, including the monumental Auf zwei Planeten(On Two Planets, 1897), his influence - and that of the highly imaginative Paul Scheerbart, whose Astrale Noveletten were collected in 1912 - was effaced by the war and its aftermath. The Russian revolutions of 1917 interrupted a burgeoning tradition including such innovative works as Valery Brussof`s futuristic fable "Respublika yuzhnavo kresta"(1905) and rocket pioneer Konstantin Tsiolkovsky`s ground-breaking account of extraterrestrial colonization Vne zemli(Out of the Earth,1916). The futuristic socialist rhetoric of Alexei Tolstoi`s Aelita (1922) founded a very different tradition, although Mikhail Bulgakov managed to produce the fine Wellsian satire "Rokovyè yaitsa"(The Fatal Eggs, 1922) before being silenced.
Because the USA came late into World War I and was remote from its battlefields, the interruption of the domestic tradition of American speculative fiction was much less pronounced. Even more important the effect of the war on American attitudes to technological progress was much less caustic. As in Europe, the development of late nineteenth-century American speculative fiction had been handicapped by the lack of convincing narrative frames.
...
The ready availability in the USA of cheap paper made from woodpulp encouraged the rapid growth of "pulp magazines" specializing in garish melodramas, which inherited the commercial genres identified by the dime novels. One of the many new sub-genres developed in this medium consisted of unhibited extraterrestrial adventure stories, pioneered by Edgar Rice Burroughs` extraordinarily influential "Under the Moons of Mars" (1912; reprinted as A Princess of Mars).
...
It was the gaudy exotica of pulp fiction rather than these more earnest speculative fictions that provided the backcloth for Hugo Gernsback`s invention of the new genre of "scientification"
...
While it was still gestating in its pulp womb, therefore, American sf had already brought about a zygotic fusion of European scientific romance and American other-wordly exotica, lightly leavened with casually extravagant tall tales of scientific miracle-making. It was from this point that the collaborative work of horizon-expansion, social extrapolation and moral resophistication which has been the labour and triumph of modern science fiction began anew."

Ich habe die Seiten 28-31 hier mal verkürzt wiedergegeben.

#17 Frank

Frank

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Geschrieben 28 August 2006 - 20:51

Vielen Dank für euren Einsatz, ich bin echt begeistert! :lol: Hab heute auch noch 10 Bücher zum Thema nach Hause geschleppt, die Kunst ist jetzt nur, alles richtig und punktgenau zusammenzuhämmern, ohne, dass es meinen engen Rahmen sprengt ... diese ganze Utopie-Sache ist nämlich in keinster Weise mein Kernthema - wenn auch richtig interessant ... Hab mir heute mal "Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit" von Ernst Bergmann ausgeliehen ... da bin ich echt gespannt drauf! ;)
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#18 Nessuno

Nessuno

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Geschrieben 28 August 2006 - 21:01

Hab mir heute mal "Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit" von Ernst Bergmann ausgeliehen ... da bin ich echt gespannt drauf!  :lol:

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Das ist eines der ganz üblen Kuriosa, der Autor war ja Professor und Mitunterzeichner der »Confessio germanica« der Deutschen Glaubensbewegung, die nach dem Willen ihrer Anhänger 1933 von Hitler zur Staatsreligion bestimmt werden sollte. An manchen Stellen bleibt einem schon die Spucke weg, etwa wenn ein deutschreligiöser Pfarrer folgendes predigt: "Und er sagte, daß dereinst, ›ahnungsgrauend, todesmutig‹, der große Morgen anbrechen werde, und daß kein Deutscher zu vornehm und edel sei, um für Deutschland, dieses große und heilige Land - in dem das auserwählte Volk Gottes auf Erden lebe, wie schon der Name ›Deutsche‹, d. h. Gottesleute (Thuata), besage - in den Tod zu gehn.«

Nessuno

#19 Frank

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Geschrieben 29 August 2006 - 10:56

Was mir auch noch "gut" von diesen bizarren rechtsradikalen Schwärmereien gefällt: „Köln, den 27.Juli 1960. [†¦] Es gibt keine Not und Armut mehr im Volk.“[1]„Es war wohl einer der genialsten Schachzüge des Kanzlers, zwischen der katholischen und der protestantischen Kirche die Deutschkirche als gleichberechtigt zuzulassen [.] [†¦] Sie gewinnt täglich an Boden, diese Hakenkreuzkirche[.]“[2]„[Die] letzten Irrenhäuser [wurden], aus Mangel an Belegschaft geschlossen. Sämtliche Räume des riesigen Gebäudekomplexes konnten an kinderreiche Familien vermietet werden. Wo bisher die Idioten aus den Fenstern grinsten, da sieht man jetzt lachende Kinderzöpfchen, ein Anblick, der einem das Herz erfreut.“[3][1] Bergmann, Ernst: Deutschland das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie. Breslau, 1933, S.127[2] Ebd. S.128[3] Ebd. S.130-131:lol: ;) @Jorge: Kannst du mir mal bitte die Literaturangabe geben? Vielleicht kann ich noch was davon "reinquetschen" ...

Bearbeitet von Frank, 29 August 2006 - 11:00.

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#20 Gast_Jorge_*

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Geschrieben 29 August 2006 - 13:16

@Jorge: Kannst du mir mal bitte die Literaturangabe geben? Vielleicht kann ich noch was davon "reinquetschen"

Welche davon?

#21 Frank

Frank

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Geschrieben 29 August 2006 - 14:04

"In France as in England however, the Great War was a drastic interruption inhibiting the genre`s development and lending encouragement to its sceptical and pessimistic elements. Elsewhere in Europe, where no traditions of scientific romance had taken root before the importation of Verne and Wells, the Great War had even more dramatic effects.

Das hier habe ich verwendet ... :thumb:
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#22 Frank

Frank

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Geschrieben 29 August 2006 - 16:43

Also, nachfolgend der letzte Stand von heute --- aber ich habe mich jetzt doch dazu durchgerungen, dieses Kapitel vollständig zu knicken; da liegt mE einfach zu viel im Argen und wie gesagt: Das ist überhaupt nicht mein Kernthema. http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/cool.png :blink: Aber, hey: ICH HAB WAS GELERNT! :thumb: :P ----- 2.2.3.7.) Nachkriegsdepression und Utopie Nach dem desaströsen Ausgang des Ersten Weltkriegs stellen sich Ernüchterung und Pessimismus in Bezug auf die Möglichkeiten des technischen Fortschritts ein. Die Visionen von der Beflügelung der Menschheit durch ihre Maschinen sind nicht in Erfüllung gegangen, tief sitzen die traumatischen Erfahrungen des mechanisierten Krieges: „Die ursprüngliche Idee der Menschenverbrüderung durch Technik hatte sich als tragische Fehleinschätzung weniger der technischen Möglichkeiten, als der menschlichen Fähigkeiten erwiesen. Dem Menschen war die Herrschaft über die Technik entglitten; die Maschine wurde nun zum Sinnbild eines Schicksals, das ihn in sinnlosen Mechanismen gefangennahm. Dabei bildeten die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und der industrielle Produktionsprozeß eine Analogie.“[1] Was folgt, ist eine geistige Verdrängung der schier unerträglichen sozialen und politischen Realität[2]. Viele flüchten sich in Traumwelten, in denen die Visionen einer, auch vom Krieg erhofften, besseren Zukunft noch gelebt werden können: „[Ü]brig blieben nichts als Traum und Neurose, eine Welt voller Illusionen, die sich durch einen alles beherrschenden Negativismus charakterisierte. Die Phantasie wurde zur treibenden Kraft allen Handelns und Melancholie zur allgemeinen Stimmung.“[3] In der Folgezeit treten verstärkt Szenarien einer idealen Weltordnung zutage - mögliche Auswege, die aus dieser depressiven Nachkriegsperiode herausführen: Es sind Utopien, die im „Jahrhundert der Naturwissenschaft“[4] herangereift sind und nun ihr ganzes Potenzial ausspielen sollen: „[E]in Traumbild [wird] hineingezaubert, das über diese konfuse, geschichtliche Realität triumphieren soll. Man konstruiert einen Zustand, der die Kulmination, die Blüte, den Abschluß des historischen Prozesses bilden soll.“[5] Neben einer ganzen Reihe von relativ apolitischen Technikphantasien entstehen bis zum Ende der Weimarer Republik auch eine „Flut sozialer Entwürfe von links und rechts“[6] - dabei kristallisieren sich zwei ideologische Utopie-Hauptstränge heraus, die miteinander in direkter Konkurrenz stehen: die sozialistische und die biologische[7]. Erstere entfaltet im Proletariat seine volle Wirkung - dieser „wirtschaftliche, marxistisch-kommunistische Strang“[8] offenbart ihnen, wie das (von ihrem Standpunkt aus) ungerechte Klassensystem dauerhaft überwunden werden kann. „Doch die Zeit ist politisch wach, gerade auch nach dem Krieg: auf der einen Seite sehnt man sich nach realisiertem Sozialismus, auf der anderen Seite werden Ingenieure zu Weltherrschern ausgerufen.“[9] Im Bürgertum wuchert die Idee vom Herrenmenschen, der quasi als darwinistisches Endprodukt die Menschheit überragt. Gepaart mit der „Revancheidee der Nationalisten“[10], wird daraus der arische Heros, der als deutscher Weltbeherrscher blutige Rache an seinen Feinden ausübt. Ihm gehört die Zukunft[11], die kriegerisch und glorreich werden soll, aber - wie wir wissen - nur in einer neuen, noch größeren Katastrophe des 20. Jahrhunderts endet: dem Zweiten Weltkrieg: „The radical nationalists wrote their political fantasies in order to keep the martial values alive and to propose that the spiritual legacy of war could become the foundation for the reinvigorated, prosperous, and harmonious Germany. In the visionary literature, private and public aims were identical ... The right-wing visionaries, the intellectually and morally crippled products of a disastrous war, thus transformed themselves into the vanguard of an even more catastrophic future.†[12] Diese nationalsozialistischen Visionen tragen äußerst bizarre Blüten: Es werden „verzückte Blicke in die Zukunft des Nazi-Reiches [geworfen], und zwar bis zu den Jahren 1960, 1975 und 2000“[13]. Um einen Einblick in diese rechtsradikalen Schwärmereien zu geben, nachfolgend drei Zitate aus der Vision von Ernst Bergmann: „Köln, den 27.Juli 1960. [†¦] Es gibt keine Not und Armut mehr im Volk.“[14] „Es war wohl einer der genialsten Schachzüge des Kanzlers, zwischen der katholischen und der protestantischen Kirche die Deutschkirche als gleichberechtigt zuzulassen [.] [†¦] Sie gewinnt täglich an Boden, diese Hakenkreuzkirche[.]“[15] „[Die] letzten Irrenhäuser [wurden], aus Mangel an Belegschaft geschlossen. Sämtliche Räume des riesigen Gebäudekomplexes konnten an kinderreiche Familien vermietet werden. Wo bisher die Idioten aus den Fenstern grinsten, da sieht man jetzt lachende Kinderzöpfchen, ein Anblick, der einem das Herz erfreut.“[16] An dieser Stelle wird die Ähnlichkeit zwischen politischer Ideologie und utopisch-phantastischer Zukunftsvision deutlich, die sich als Subgenre im Bereich der Science-Fiction etabliert: Aufgrund der aktuellen politischen, sozialen, technischen und kulturellen Situation bzw. ihrer zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten wird eine Zukunft der menschlichen Gemeinschaft extrapoliert[17]. Herbei nimmt die Analyse bzw. gewünschte Art der Überwindung gegenwärtiger Missstände eine wichtige Stellung ein - sei es durch ideologische, biologische, soziale, technische oder sonstige Verfahrensweisen. Es ist also schlüssig, einen direkten Zusammenhang zwischen der „frühen spekulativen Literatur“[18] und dem Genre der Science-Fiction herzustellen: „Die utopischen Schriften haben sich dabei als der am stärksten prägende Einfluss gezeigt. Sie wiesen der Science-[F]iction den Weg, sich heute sowohl mit naturwissenschaftlich technischen wie auch politisch-sozialen Möglichkeiten zu beschäftigen. Sie gaben auch den Anstoß, diese Möglichkeiten entweder in einem utopischen Wunschbild oder einer gegenutopischen Angstversion zu schildern.“[19] Demnach lässt sich folgende These formulieren: Wenn auch die Anfänge der eigentlichen Science-Fiction im 19. Jahrhundert liegen und Jules Verne als einer ihrer Begründer angesehen werden kann[20], hat der Erste Weltkrieg mit seinen negativen kulturhistorischen und sozialen Folgen doch entscheidenden Einfluss auf die weitere Ausprägung dieser Literaturgattung. Neben den technikbejahenden Abenteuern, die mithilfe der neuen Errungenschaften denkbar geworden sind - Reisen zum Mond, Tauchfahrten ins Meer etc. - haben sich neue, kritische Szenarien herausgebildet[21]: “In France as in England however, the Great War was a drastic interruption inhibiting the genre`s development and lending encouragement to its sceptical and pessimistic elements. Elsewhere in Europe, where no traditions of scientific romance had taken root before the importation of Verne and Wells, the Great War had even more dramatic effects.†[22] Ob Utopie oder Dystopie, beide Formen wollen nicht bloße Unterhaltung bieten, sondern in erster Linie den Leser aufklären. Sie setzen sich kritisch mit den Umständen ihrer Zeit auseinander: „Die Handlung dient vielmehr dazu, ihn bei der Stange zu halten, ihm schwer verdauliche Kost bekömmlich aufzubereiten. Eigentlich geht es weniger um den Protagonisten, seine Konflikte, sein Leben. Es geht um die neue Gesellschaft, ihre Struktur, ihre Geschichte. Sie ist der eigentliche Gegenstand des Buches. Der Autor will den Leser belehren und bekehren, er verfolgt ein erzieherisches Ziel. Daher sticht der didaktische Zeigefinger mehr oder weniger in allen Werken durch“[23]. [1] Braun u. Kaiser, S.255 [2] Vgl. Ekstein, Modris: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Hamburg, 1990, S.433f [3] Ebd. [4] Döblin, Alfred: Die deutsche Utopie von 1933 und die Literatur. In: Alfred Döblin. Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten/Freiburg im Breisgau, 1989, S.371 [5] Ebd. S.368 [6] Both, Wolfgang: Die sozialistischen Utopien seit Bellamy. URL: http://www.epilog.de...opie/Index.html [7] Vgl. Ebd. S.371 [8] Ebd. [9] Biesterfeld, Wolfgang: Die literarische Utopie. Stuttgart, 1982, S.89 [10] Ebd. S.373 [11] Vgl. Ebd. [12] Fisher, Peter Steven: Fantasy and Politics. Visions of the Future in the Weimar Republic, 1918-1933. Madison, 1991, S.226 [13] Hermand, Jost: Ein Volk von österlich Auferstehenden. Zukunftsvisionen aus dem ersten Jahr des Dritten Reiches. In: Gnüg, Hiltrud [Hrsg.]: Literarische Utopie-Entwürfe. Frankfurt. A. M. 1982, S.268 [14] Bergmann, Ernst: Deutschland das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie. Breslau, 1933, S.127 [15] Ebd. S.128 [16] Ebd. S.130-131 [17] Vgl. Ebd. [18] Graaf, Vera: Homo Futurus. Eine Analyse der modernen Science-fiction. Hamburg/Düsseldorf, 1971, S.30 [19] Ebd. [20] Vgl. Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung. Wien/Köln/Weimar, 1996, S.29f. [21] Vgl. Ebd. S.28 [22] Stableford, Brian: Science fiction before the genre. Proliferation and diversification. In: The Cambridge Companion to Science Fiction, S.28 [23] Both, Wolfgang: Die sozialistischen Utopien seit Bellamy. URL: http://www.epilog.de...opie/Index.html
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