Das erinnert mich an ein Standardargument der Kreationisten, die zu Diskussionen unter NaturwissenschaftlernUnd wir wissen doch alle: selbst wenn sich die beiden größten Koryphäen der Literaturwissenschaft über ein-und denselben Text äußern, kommen zwei Meinungen dabei heraus (ungeachtet "objektiver" Qualitätskriterien).
gern anmerken: Seht Ihr, Ihr seid Euch ja nicht einmal untereinander einig! Als ob die Tatsache, daß es in Detail-
fragen Diskussionen gibt, zugleich bedeutet, daß alle Aussagen beliebig sind. Ein Urteil über ein literarisches Werk
beschränkt sich, so es etwas wert ist, ja nicht darauf, daß man sagt, dies gefällt mir oder dies gefällt mir nicht. Man
kann sich Strukturen, Motive, sprachliche Mittel etc. ansehen und zu Aussagen kommen, die sachlich begründet
und keine Geschmacksaussage sind. Ein Rezensent/Kritiker, der nur ein persönliches Geschmackurteil fällt, das
er aber nicht an sachlichen Aussagen festmachen kann, gibt ein Bekenntnis ab, dem man zustimmen oder das man
ablehnen, mit dem man sich aber nicht auseinandersetzen kann. Literarische Urteile sind natürlich immer von
persönlichen Vorlieben und Kenntnissen eingefärbt, und es gibt in der Literaturkritik/Literaturgeschichte immer
wieder große Ungerechtigkeiten und zu Unrecht vernachlässigte Autoren, aber summa summarum, wenn man
viele fundierte Urteile zusammennimmt, sind sich Literaturkenner doch über die ungefähre Einordnung eines
Autors einig. Niemand, der einen Funken von Literatur versteht, wird eine Rosamunde Pilcher höher einschätzen
als eine Doris Lessing.
Wobei, nebenbei bemerkt, unter fundierter Literaturkritik nicht unbedingt das schwammige Zeug zu verstehen ist,
das sich in unsere Feuilletons breitgemacht hat. Da gibt es ganz andere Leute, die sich auf die Kunst verstehen,
dem Leser einen Autor oder eine Literaturrichtung zugänglicher zu machen und nachvollziehbare Urteile zu fällen;
z.B. der Engländer Malcolm Bradbury, in Deutschland Karlheinz Deschner oder, im engeren Kreis der SF,
James Blish und Damon Knight.
Ich schreibe seit zwanzig Jahren Essays über SF-Autoren und zu meinen Standardaufgaben gehört es dabei,
alle Artikel und Rezensionen über den jeweiligen Autor zu sichten, die ich in die Finger bekomme - nicht nur um
meine eigene zwangsläufig eingeschränkte Perspektive zu justieren, sondern auch um zu verfolgen, wie ein
Autor gesehen wird. Ich habe nicht feststellen können, daß beliebig drauflos schwadroniert sind, im Gegenteil
- auch wenn sie in Detailfragen divergieren, sind sich die Kritiker über grundsätzliche Feststellungen über den
Autor einig. (Manchmal so sehr, daß man Mühe hat, eine originelle Aussage zu finden.) Vor einigen Jahren habe
ich eine Rezension über die Neuausgabe von Kneifels "Das brennende Labyrinth" bei Haffmans geschrieben
und erfuhr hinterher von älteren Kollegen, daß ich unabhängig zu demselben Urteil gekommen bin und sogar
dieselben Stellen zitiert habe wie andere Kritiker zwanzig Jahre vor mir. Ganz so beliebig können die Urteile also
nicht sein. Wenn ich wüßte, daß ich nur meine persönlichen Geschmacksurteile wiedergeben kann, würde
ich jedenfalls keine Essays und Rezensionen mehr schreiben.
Gruß
MKI