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Es geschah morgen


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6 Antworten in diesem Thema

#1 emphyrio

emphyrio

    Nanonaut

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Geschrieben 30 Oktober 2006 - 16:40

Ich habe zu diesem Buch noch nichts gefunden. Falls es schon einen thread gibt, lagere ich es auch gern um!Es geschah morgen - science Fiction aus Indien, Projekte Verlag 188 (2006)Zunächst einmal: dass der Verlag dieses Buch heruasgebracht hat, ist löblich. In der angloamerikanischen Monokultur freut man sich, wenn man mal was anderes findet. Außerdem zeigt es, dass es noch indische Kultur jenseits von Bollywood (ächz!) gibt. Das Buch ist durchgehend illustriert (die Bilder stammen aus der indischen Ausgabe). Die Zeichnungen sehen nicht vordergründig nach SF aus, eher konventionell, aber handwerklich o.k. Mit 14.90 € ist die Anthologie nicht gerade preiswert, aber vermutlich liegt das an der niedrigen Auflage.Das Vorwort des indischen Herausgebers Bal Phondke stimmte mich bedenklich. Er erklärt erst einmal, was er für SF hält (mit zitierten Definitionen) und bescheinigt nebenbei der "westlichen" SF, dass sie sich im dekadenten letzten Stadium befindet in dem Stil mehr zählt als (wissenschaftlicher) INhalt. Starke Töne! (Der russischen SF sagt er nach, sie hätte eine steife Sprache ohne Romantik. Ich vermute, die indischen Übersetzer taugen einfach nichts und scheitern an der ausschweifenden russischen Grammatik.) Irgendwie ist es schlechter Stil, sich erstmal als der einzig wahre Vertreter der SF darzustellen.Das Buch spiegelt diese Meinung wieder. Der überwiegende Teil sind typische Ideengeschichten, die weder auf Figurencharakterisierung noch auf einen guten Plot Wert legen. Etliches liest sich ziemlich hölzern. Dabei sind die Ideen noch nicht einmal besonders neu: verliebte Roboter, künstlich am Leben gehaltene Gehirne oder Gedächtnisübertragungen sind Themen, die die dekadente westliche SF vor dreißig Jahren abgehandelt hat. Wo es doch einmal was neues ist, ist es auch gleich wieder grober UNfug: in einer Geschichte führt eine Sonneneruption, die radioaktives Material über Merkur, Venus und Erde verteilt, dazu dass alles blau aussieht. Der Autor verliert kein Wort über die Radioaktivität und breitet statt dessen Nebensächlichkeiten wie die Farbe des Reises oder die Probleme beim Zeitunglesen aus. Praktischerweise verliert sich der Effekt nach einem Tag von selbst. Das wirkt insgesamt eher altmodisch. Vor fünfzig Jahren hätte man Leser damit verblüffen können.Vier überdurchschnittliche Storys:Überzeugt hat mich "Reise in die Dunkelheit" von Jawadekar. Das Thema Atomkrieg ist zwar auch nicht neu, aber es ist aus der Sicht eines elfjährigen Mädchens sehr überzeugend geschrieben. Es gelingt dem Autor, der abstrakten Katastrophe eine persönliche Form zu geben. Wo in der ersten Story "Eiszeit" lapidar erwähnt wird: die Hälfte der Menschheit starb, erfährt man hier , wie tragisch der Tod einzelner Leute ist.Ebenfalls interessant: "Geburtsrecht" von Gogate. HIer erzählt der Autor von einer WElt, in der die Gehirnwäsche schon vor der Geburt beginnt. Allmächtige Foetus Development Center sorgen dafür, dass ausschließlich brave Staatsbürger geboren werden. Die Story erzeugt eine beängstigende Atmosphäre. Die Auflösung (die Schwangere flieht zu Verwandten in ein einsames Dorf außerhalb der Einflusssphäre der Center) ist dagegen ein bisschen enttäuschend. Das private Glück ist gerettet, und damit ist alles gut.Sharmas "Wiedergeburt" über einen von den Nazis zu Tode gequälten Juden ist eine engagierte und atmosphärisch überzeugende Story, die nur einen Fehler hat: SF ist es bestimmt nicht. In einem Phantastik-Band wäre sie besser aufgehoben. Aber sie ist gut, und man ist dem Autor eigentlich dankbar dafür."Dilemma" von Sujatha variert das alte Paradoxon "Alle Kreter sind Lügner" auf eine spannende Art. Es ist übrigens die einzige Raumfahrtgeschichte, die einzige mit einer Frau in einer entscheidenden Rolle, und wohl diejenige, die am westlichsten daherkommt. Für mein Gefühl die beste Story im Band.Und sonst so? Alle Helden sind Inder. Das ist eigentlich sympathisch und sollte den deutschen Autoren vielleicht zu denken geben. Andererseits wirkt es auch bizarr, wenn Indien reihenweise Professoren hervorbringt, die zum Teil mehrere Nobelpreise (hat es das jemals gegeben?) bekommen. Männer spielen eindeutig die Hauptrolle; Frauen dürfen oftmals nur bezaubernd aussehen und guten Tee kochen. Frauen jenseits der vierzig sind ausschließlich Mütter. Das mag typisch indisch sein, aber im utopischen Sinne ein Armutszeugnis.3 von 19 Geschichten beschäftigen sich mit Zeitreisen, ohne einen neuen Gedanken zum Uralt-Thema beizusteuern. Dreimal geht es um mehr oder minder erotische Beziehungen zwischen Menschen und Androiden, zweimal um die Übertragung von Gedächtnisinhalten mit den bekannten Folgen. Asimovs Robotergesetze werden gern zitiert. In zwei Storys bricht - allen Warnungen üpber globale Erwärmung zum Trotz - eine neue Eiszeit aus, in einer eine globale Dürre. Obwohl der indische Herausgeber so viel Wert auf Wissenschaftlichkeit legt, findet man doch den Satz: "Gott ist eine bewiesene Tatsache".Natürlich weiß man nicht, wie repräsentativ die Auswahl für die aktuelle indische SF ist. Dazu müßte man sie im Detail kennen. Viele Geschichten sind aber ursprünglich in Sprachen geschrieben, von denen ein normaler Europäer noch nicht einmal gehört hat (Oriya, Kannada, Marathi usw.). Einen großen Einfluss hat vermutlich der Herausgeber, der ja gleich am Anfang schreibt, dass er wenig Wert auf stilistische Qualität legt und einen Teil der SF als "pseudowissenschaftlich" und "unindisch" abqualifiziert. Wenn ein einzelner so seine Sammlung zusammenstellt, besteht vermutlich immer die gefahr, dass sie am Ende ihm selbst ähnelt. Dazu kommt, dass fast alle Texte zweimal übersetzt wurden: zunächst ins Englische und dann von Wilko Müller ins Deutsche. Wieviel dabei auf der Strecke geblieben ist, kann man nicht sagen. Ein Übersetzer sollte Storys weder besser noch schlechter machen - theoretisch.Der große Aha-Effekt bleibt leider aus. Wirklich neue Ideen kommen aus der indischen SF kaum. Wegen der kulturellen Unterschiede ist es trotzdem nicht uninteressant. Als Leseempfehlung würde ich sagen: für Indien-Liebhaber und eingefleischte SF-Fans. Kurzbiographien hätten der Sache gut getan. Die Fremdartigkeit der Namen lässt den NIcht-Inder nicht einmal das Geschlecht der Autoren erkennen. Für die Neugier wäre etwas mehr an Information nicht schlecht. Was sind das für Typen? Aus welchen Lebensumständen kommen sie? Immerhin zielt die englische Ausgabe bereits auf ein internationales Publikum. Da wäre sachliche Information vermutlich besser als das ziemlich arrogante Vorwort.

#2 Armin

Armin

    Entheetonaut

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Geschrieben 30 Oktober 2006 - 17:25

Ich habe zu diesem Buch noch nichts gefunden. Falls es schon einen thread gibt, lagere ich es auch gern um!

Es gab bislang nur Wilkos Ankündigung, hier.

#3 Uwe Post

Uwe Post

    FutureFictionMagazin'o'naut

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Geschrieben 30 Oktober 2006 - 17:49

Danke für die aufschlussreiche Zusammenfassung!Dass es keine vitae o.ä. der Autoren gibt, ist leider kaum zu ermitteln, wie repräsentativ sie für die indische SF sind.Kannst Du trotzdem zwecks eigener Recherche ein paar Autoren-Namen nennen?Danke schonmal!
Herausgeber Future Fiction Magazine (deutsche Ausgabe) ||| Aktueller Roman: ERRUNGENSCHAFT FREIGESCHALTET ||| uwepost.de ||| deutsche-science-fiction.de

#4 Helmuth W. Mommers

Helmuth W. Mommers

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Geschrieben 31 Oktober 2006 - 09:04

Ich habe zu diesem Buch noch nichts gefunden. Falls es schon einen thread gibt, lagere ich es auch gern um!

Soeben ist eine Rezension in Rattus Libri 10 erschienen: http://www.phantastik-news.de/RL10.pdf

#5 Gast_Michael Iwoleit_*

Gast_Michael Iwoleit_*
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Geschrieben 31 Oktober 2006 - 15:51

Ich beschäftige mich ziemlich intensiv mit indischer Literatur und Kultur, daher werde ich fürs nächste SF-Jahr bei Heyne eine Rezension dieser Anthologie schreiben. Ich weiß noch nicht allzu viel über Science Fiction in Indien und will meiner Rezension nicht vorgreifen, aber mein vorläufiger Eindruck ist: - Ein Großteil indischer SF scheint stark von der Golden Age SF, vor allem Asimov, beeinflußt; von neueren Entwicklungen in der SF ist zumindest in dieser Auswahl von Geschichten wenig zu spüren. Wie in solchen Fällen üblich, sind die Ergebnisse zumeist blasse Nachahmungen schlechter amerikanischer Vorbilder, die schon im Original nicht sonderlich überzeugend waren. Solche Nachahmungen dominieren auch in dieser Anthologie. Die mit Abstand eindrucksvollste Geschichte, "Wiedergeburt" von R.L. Sharma, ist - wie emphyrio richtig anmerkte - keine SF. - Die Einleitung des Herausgebers zeichnet ein ziemlich einseitiges Bild von der SF, Informationen über die Autoren fehlen völlig. Der dokumentarische Wert der Anthologie ist deshalb gering. - Bei allem Lob für den Projekte-Verlag, daß er diese Anthologie dem deutschen Leser zugänglich gemacht hat: Die deutsche Fassung ist, gelinde gesagt, äußerst mäßig. Man merkt dem Text an, daß er von einem unerfahrenen Übersetzer stammt. Abgesehen von unzähligen Anglizismen habe ich auch einige Satzfehler entdeckt, die Dialogpassagen unverständlich machen. Von der Layout- Unsitte, ein ganzes Buch ohne Texteinzüge zu setzen, ganz zu schweigen. Tut mir leid, aber mehr Sorgfalt hätte dem Buch gut getan. Ich habe bei meinem Buchhändler in Delhi das Original bestellt, vielleicht ist der Eindruck dann etwas besser. Fazit: Für einen ersten Einblick interessant, aber nicht uneingeschränkt zu empfehlen. Bei einem Land mit einer so üppigen Literaturproduktion wie Indien würde es mich wundern, wenn es keine jüngeren und ambitionierteren SF-Autoren gibt, die Überzeugenderes anzubieten haben. Mit zwei Autoren, die beide im Hauptberuf Wissenschaftler sind und in den USA arbeiten - Vandana Singh und Anil Menon - bin ich in Zusammenhang mit InterNova in Kontakt. Besonders Anil ist fast allen Autoren in Phondkes Anthologie weit überlegen. Für Nova 12 plane ich ein kleines Special über SF in Indien, und dafür ist eine Übersetzung einer Story von Anil Menon vorgesehen. Vandana Singh ist vom Verlag Penguin India eingeladen worden, eine Anthologie mit indischer SF zusammenzustellen, und sie hat die Chance, es sehr viel besser zu machen. Auf ihrer Website hat sie schon einige Informationen über indische SF gesammelt http://users.rcn.com.../IndianSFF.html Noch eine Anmerkung: > Außerdem zeigt es, dass es noch indische Kultur jenseits von Bollywood (ächz!) gibt. Ich weiß nicht, emphyrio, ob Du es so gemeint hast, wie es dasteht, aber das klingt schon etwas arrogant. Du redest hier immerhin über eine der reichsten und vielfältigsten Kulturen der Welt. Nur ein paar Stichwörter: 23 offizielle Landessprachen, einige davon mit einer eigenenen literarischen Tradition, die 800 Jahre zurückreicht; zwei klassische Musikkulturen, die hindustanische und die karnatische, die der europäischen Klassik mindestens ebenbürtig sind; fünf große Schulen klassischen Tanzes; jahrtausendealte Traditionen des Kunsthandwerks etc. etc. Und ein paar Bollywood-Schinken sollen den Eindruck erwecken, daß es das alles gar nicht gibt? Na ja. Kein Wunder, daß uns die Asiaten manchmal für ungebildete Barbaren halten ;-)) (no offence intended, emphyrio), Ein bißchen off-topic, aber ich erwähn's mal: Es ist ganz lustig, wenn man sich bei Amazon die euphorischen Lobeshymnen auf die erfolgreichsten Bollywood-Schmachtschinken durchliest. Manche Deutsche reagieren auf Bollywood so wie ein Inder, der ein paar Werbespots der Hamburg- Mannheimer gesehen hat und meint, daß er jetzt weiß, wie's in Deutschland zugeht. Da haben sich tatsächlich ein paar Trottel gefunden, die Mira Nairs herrlichen Film "Monsoon Wedding" verrissen haben, weil sie darin die "typisch indische Kultur" vermissen, die sie aus Bollywood-Filmen kennen. Ein Problem bei der Begegnung mit Indien ist die Sprachhürde - die für uns Europäer allerdings höher ist als für die Inder. Viele gebildete Inder bewegen sich locker zwischen drei bis vier Sprachen. Ich werde mich im nächsten Jahr, wenn mein Spanisch etwas flüssiger ist, ans Hindi rantasten. Vielleicht kann ich irgendwann weitere interessante SF aus Indien präsentieren. Ein Tip noch: der möglicherweise bedeutenste indische Beitrag zur SF ist Amitav Ghoshs Roman "The Calcutta Chromosome", ein Wissenschaftsthriller mit phantastischem Einschlag, der auch auf Deutsch erschienen ist. Schöne Grüße Michael

#6 Armin

Armin

    Entheetonaut

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Geschrieben 31 Oktober 2006 - 16:11

Kannst Du trotzdem zwecks eigener Recherche ein paar Autoren-Namen nennen?

1. Jayant V. Narlikar - The ice age cometh 2. Bal Phondke - The imposter 3. Laxman Londhe - Einstein the second 4. Subodh Jawadekar - A journey into darkness 5. Niranjan S. Ghate - The man 6. Arun Mande - Ruby 7. Shubhada Gogate - Birthright 8. Anish Deb - Catastrophe in blue 9. Sirshendu Mukhopadhyay - Time 10. Niranjan Sinha - The elevation 11. Sujatha - Dilemma 12. Rajashekar Bhoosnurmath - Venus is watching 13. Sanjay Havanur - The lift 14. Debabrata Dash - An encounter with God 15. Mukul Sharma - Twice upto a time 16. R.N. Sharma - The second coming 17. Kenneth Doyle - Rain 18. Devendra Mewari - Goodbye, Mr. Khanna 19. Arvind Mishra - The adopted son

#7 emphyrio

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Geschrieben 31 Oktober 2006 - 19:55

Abgesehen von unzähligen Anglizismen habe ich auch einige Satzfehler entdeckt, die Dialogpassagen unverständlich machen.

Das war mir auch aufgefallen, aber da sind die Großverlage nun auch nicht gerade leuchtende Beispiele.

Vandana Singh ist vom Verlag Penguin India eingeladen worden, eine Anthologie mit indischer SF zusammenzustellen, und sie hat die Chance, es sehr viel besser zu machen. Auf ihrer Website hat sie schon einige Informationen über indische SF gesammelt

Danke für den Link! Das kann nur besser werden. > Außerdem zeigt es, dass es noch indische Kultur jenseits von Bollywood (ächz!) gibt.

Ich weiß nicht, emphyrio, ob Du es so gemeint hast, wie es dasteht, aber das klingt schon etwas arrogant.

Ich wollte nicht ganz Indien beleidigen. Aber in den Medien wird man mit den wirklich grausamen Bollywood-Produktionen derzeit geradezu überflutet, sodass man den Eindruck haben kann, aus dem Land kommt nichts als bunte Schnulzen. Leider war die SF-Sammlung kein wirklich überzeugendes Gegengewicht. Man würde es sich wirklich wünschen.

Ein Problem bei der Begegnung mit Indien ist die Sprachhürde - die für uns Europäer allerdings höher ist als für die Inder. Viele gebildete Inder bewegen sich locker zwischen drei bis vier Sprachen.

Würde ich nicht unbedingt als europäischen Makel sehen. Viele von uns sprechen auch drei Sprachen oder auch vier, nur halt nicht Hindi oder Tamil - das braucht man so selten.


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