Die Schwierigkeiten, die sich mit elektronisch gespeicherten Daten ergeben, sind dieselben [...]
Das war ja der Duktus meiner Aussage: Seit den präantiken Reichen wurden mehr Texte produziert (manche wurden nie schriftlich fixiert, aber das ist ein anderes Problem), als von den Mächtigen bewahrt wurden.
(spontan hätte ich auch gesagt, dass die Aufgabe eines Staatsarchivs das Archivieren von behördlichen Unterlagen ist. Für Kulturgüter sind doch eher andere Institutionen zuständig).
Das gilt jedenfalls nicht für Deutschland. In einem Archiv werden die Dokumente aufbewahrt, die nicht mehr im regulären Gebrauch sind, aber noch wichtig sein können, wenn gewisse Prozesse nachvollzogen werden sollen. Zeitungsarchive bewahren Zeitungen auf, Firmenarchive Planungs- & Bewertungsdokumentation, Behörden alte Akten. Ein Staatsarchiv bewahrt die Texte auf, die für das Verständnis des Staates - und dazu gehören Gesellschaft und Kultur - von Nöten ist. In der Schweiz mag das anders sein.
Wenn die meisten Leute nicht lesen können und/oder schriftliche Erzeugnisse teuer sind, gibt es davon logischerweise weniger, [...]
(Ja.)
[...] womit auch die Chance, dass sie erhalten bleiben, sinkt.
Nein. Wenn nur wenige Texte lesen können, ist die Produktion automatisch teurer. Daraus folgt, dass der Wert der Texte steigt. Das wiederum bedeutet, dass mehr Aufwand betrieben wird, um den Text zu erhalten.
Wenn nur wenige Texte schriftlich fixiert werden, steigt der Prozentsatz der erhaltenen Texte.
Dagegen: Wenn es zig token eines bestimmten type gibt, dann steigt natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass der type erhalten bleibt. Für den einzelnen token sinkt die Wahrscheinlichkeit.
Jeder, der eine Rumpelkammer, eine Sammlung oder sonstwie eine zunehmende Menge von Materialien hat, wird feststellen, dass der Raum früher oder später eng wird. Darüber hinaus sind die Ressourcen begrenzt: Man bräuchte mehr Geld für mehr Lagerräume, für eine adequate Lagerung, für Pflege der Materialien, für Angestellt. Die hinzukommenden Materialien nehmen immer weiter zu, die Ressourcen, die dafür aufgewendet werden müssen nicht. Das ist das eigentliche Problem. Dann muss man Auswählen, was man behalten will. Das ist schon seit den präantiken Reichen so. Die Digitalisierung verschärft das Problem ob der Schnelllebigkeit (nur). Wenn man wollte - z. B. den Etat für die Bundeswehr, Rente, was auch immer entsprechend kürzte - dann könnte man die Texte zumindest inhaltlich bewahren (was Archivare immer noch nur halb befriedigen würde).
Was ich moniere, ist, dass nicht vernünftig ausgewählt wird.
Ich will mal aus dem Nähkästchen plaudern. Der Fall hat direkt nichts mit Materialbewahrung zu tun, indirekt natürlich schon.
Die Uni Hamburg hatte im FB 08 (u.a. Geschichtswissenschaft) mal den Arbeitsbereich "Geschichte des Nahen Ostens" gehabt. Der ist aus Mangel von Relevanz eingestampft worden. Habt ihr auch den Eindruck, dass die historisch gewachsenen Gepflogenheiten und Bündnisse des Nahen Ostens - dazu gehört z. B. Syrien - für uns ohne Belang sind? Die Uni Hamburg war damals die einzige Deutschlands mit diesem Arbeitsbereich.
So ist das damals gelaufen: Der damalige Senat fand, dass Bildung zu teuer für die Ergebnisse ist und die Uni deshalb mit weniger Geld auskommen muss. Die Uni-Verwaltung fand, dass FB 08 - verglichen mit den Informatikern - zu wenige Drittmittel einwirbt, und deshalb eine Professur gestrichen wird. Die Professoren haben dann den geext, der am schlechtesten vernetzt/unbeliebtesten war.
Ja, es ist bedauerlich, dass man nicht alles aufheben kann, doch es ist ärgerlich, dass nicht vernünftig über das entschieden wird, was zu bewahren ist.
"Cool Fusion? What is 'Cool Fusion'?" - "As Cold Fusion is beyond our grasp, we should reach for something ... less ... cold. Cool Fusion."
- Dr. Karel Lamonte, Atomic Scientist (Top of the Food Chain, Can 1999)