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Welche Zukunft wollen wir ?


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465 Antworten in diesem Thema

#1 fremowolf

fremowolf

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Geschrieben 11 Dezember 2008 - 19:57

Hallo alle Besucher !Ich moechte eine Diskussion eroeffnen ueber eine Frage, die mich beschaeftigt : "Wie sollte eine gute Zukunft aussehen ?"Fast alle Darstellungen der SF-Literatur und des Films sind "negativ", d.h., sie stellen eine irgendwie "boese" Zukunft dar. Die typischen Szenarien sind :"Nach dem Atomkrieg" ("post doomsday", z.B. Film "The Day after"), "Nach dem Umweltkollaps" (z.B. "Schafe blicken auf"), Diktatur ("1984", "Kallocain", "Der Report der Magd", "Wir", usw.), Verbloedung ("Brave New World"), Missbrauch (Filme "Die Insel", "Soylent Green"), sozialer Horror (Filme "Bladerunner", "Escape from New York").Ich bin kein "grohsser" Leser von SF-Literatur (hier ist IMMER "hard"-SF gemeint, also (halbwegs) realistische Zukunft, nie Mystery und nie ferne Planeten usw.). Ich habe nur bekannte Filme und Buecher genannt.Mir ist nur ein einziger "positiver" und recht schwacher Film bekannt : "Bicentennial Man", der ausserdem keine neue Gesellschaft zeigt, nur einen netten Roboter. Darueber, ob man "I, Robot" als positiv einschaetzen sollte, kann man streiten. Ebenso ueber "Artificial Intelligence". Im ersten Fall siegt mit Will Smith nur die Menschheit ueber die Roboter, wobei die Frage, ob die Roboter mit ihrer Behauptung, die Menschen seien dumm und boese, Recht haben, nicht weiter verfolgt wird. "Wir Menschen sind im Recht, weil wir wir sind und keine Blechbuechsen !" ist praktisch die Antwort. Im zweiten Film siegen die guten und weisen Roboter, und die Menschheit geht an ihrer eigenen Dummheit zugrunde - ob an Atomkrieg oder an Umweltkatastrophe wird nicht gesagt.Fazit : In allen diesen Buechern und Filmen wird nie auch nur der Versuch gemacht, eine wuenschenswerte Zukunft vorzustellen. Doch ja, ein Gegenbeispiel faellt mir ein : Callenbachs "Ecotopia", das aber etwas langweilig und nur fuer ueberzeugte Gruene attraktiv ist. Und vielleicht die Kurzgeschichte "Forgetfulness" von Joe Campbell von 1937, die aber ueber das tatsaechliche Leben in der als positiv bezeichneten Welt nichts mitteilt.Huxley's letzter Roman "Eiland" (1962) und Skinner's "Walden Two" (1948) sind "selige Inseln", d.h., sie versuchen garnicht, sich eine moderne Welt im Ganzen ("eine Welt fuer dich und mich") zu denken, sondern sie zeigen praktisch eine Landkommune, die sich um die Probleme der modernen Welt nicht mehr kuemmert.Mir ist kein Versuch bekannt, ausser eben Ecotopia, weder als Roman oder Novelle, noch als Film, der eine Vision einer realen modernen Welt mit Industrie usw. enthaelt, wo aber eine gute Entwicklung entweder erreicht oder zumindest plausibel auf dem Wege ist.Meine Vermutung : Solche Visionen werden heute nach den Kriegen und Verbrechen des vorigen Jahrhunderts generell als unglaubwuerdig empfunden. Der letzte Traum dieser Art, "der real existierende Sozialismus", ist im Katzenjammer gescheitert - und zwar nicht so sehr am "boesen Kapitalismus", vielmehr an der eigenen Unfaehigkeit, noch irgendwen zu ueberzeugen. Was verdanken wir denn heute, zwanzig Jahre nach deren Ende, den ehemals kommunistischen Laendern ? Nichts ! Alles, was heute weltweit erfolgreich ist - Rockmusik und Internet ebenso wie Jeans und Coke und Computerspiele - stammt aus dem Kapitalismus.Man steht also ratlos zwischen einem gescheiterten linken Traum und einer recht gut funktionierenden liberalen Gesellschaft, die man aber aus einer moralischen Trotzhaltung nicht anerkennen mag. Wer heute noch den Kommunismus anpreist, gilt als Fossil, aber wer den Liberalismus anpreist gilt als naiv oder als Ausbeuter. Weil also beide Optionen als "unmoeglich" gelten, bleibt nur noch "das Negative", der Verdruss und das frustrierte Noergeln an allem.Das Negative ist ausserdem billig : Der korrupte Politiker, der verrueckte General, der verrueckte Wissenschaftler, der gierige Kapitalist, der die Umwelt fuer Profit zerstoert - das sind alle James Bond Schurken und Karikaturen, die mit der Realitaet wenig zu tun haben. Mit solchen Klischees fertigt man SF-Dutzendware. Das sind Kasperlefiguten fuer das linke Kindertheater. Aber als Kritik der real existierenden Verhaeltnisse reichen sie allemal wie der Teufel in der Sonntags-Predigt. Nur die bessere SF ist immerhin bemueht, die strukturellen Probleme zu zeigen, die sich aus unseren Wuenschen selbst ergeben : Der Anbieter ist ja nur erfolgreich, weil die Kunden seine Drogen, Autos, Musik, Religion usw. haben wollen. Mit einem Buddha oder Sokrates macht man keine Geschaefte.Ich glaube, die SF-Autoren sind einfach ueberfordert. Eine positive Utopie zu schreiben verlangt heute ein Wissen und Koennen, das keiner drauf hat.Gerechterweise muss man sagen, dass die Utopien von Plato und Morus, von Cabet und Bellamy und Morris nicht besser gewesen sind : Sie alle meinten, mit einem zentralistischen Kommunismus und der Abschaffung des Geldes koennten alle Probleme der Menschen behoben werden. Interessant ist aber, dass in diesen damals noch als positiv empfundenen Utopien eine moderne Kunst und Literatur nicht mehr moeglich ist, weil man sie nicht braucht. Wozu braucht eine Gesellschaft Shakespeare oder Dickens, wenn sie Gewalt und Armut abgeschafft hat ? Es gibt in solchen Utopien nur noch "affirmativen" sozialistischen Realismus und "Kurpark-Musik". Alles Andere ergaebe ja keinen Sinn mehr. Der Mensch in diesen Utopien wird zum gluecklichen Herdenvieh, das mit allem versorgt ist. Auch der Transhumanismus scheint mir nichts Besseres anzubieten.Was machen wir aus dem "Recht auf Unglueck", das "der Wilde" gegen den Welt-Controller Mustafa Mond in Huxleys "Brave New World" einfordert ? Das klingt nicht sehr ueberzeugend. Aus Ratlosigkeit hat sich "der Wilde" dann auch erhaengt. Er spuerte, dass er den vernuenftigen Argumenten des Controllers nichts entgegen zu setzen hatte. Ein altes Problem vieler Utopien !Frage also : Was ist falsch an einem Begriff der Vernuenftigkeit, der dem der ehemaligen DDR entspricht : Wenn alle gut versorgt sind, sind alle Probleme am Ende, dann braucht man auch keine grohsse Kunst oder grohsse Literatur oder grohsse Philosophie mehr, dann reicht "affirmativer sozialistischer Realismus". "Wen solche Lehren nicht erfreun / Verdienet nicht ein Mensch zu sein !" singt Sarastro in der Zauberfloete. Oder boshafter : 99,999% aller SF-Literatur koennte als "zum Wohle der Menschheit nicht beitragend" in den Ofen wandern. Was laesst sich dagegen sagen ?Viel Stoff zum Nachdenken !--------------------------------------------------------------------------------

Bearbeitet von fremowolf, 11 Dezember 2008 - 20:06.


#2 Gast_Jorge_*

Gast_Jorge_*
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Geschrieben 11 Dezember 2008 - 21:07

Das Thema hatten wir hier schon des öfteren:

http://www.scifinet....?showtopic=6431
http://www.scifinet....?showtopic=2594
http://www.scifinet....?showtopic=7153
http://www.scifinet....?showtopic=6237
http://www.scifinet....?showtopic=5066
http://www.scifinet....?showtopic=2501
http://www.scifinet....?showtopic=4696
http://www.scifinet....?showtopic=2305

#3 fremowolf

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Geschrieben 11 Dezember 2008 - 23:49

Vielen Dank fuer die vielen Hinweise, Jorge, ich bin neu hier und muss mich erst mal zurechtfinden. Ich hatte eine solche Antwort fuer moeglich gehalten, aber ich wusste nicht, wo ich ansetzen sollte. Daher sind mir die vielen Links wichtig, die ich erst einmal aufsuchen werde, bevor ich diesen Thread fortsetze - oder auch nicht.

#4 simifilm

simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 00:33

Da ich mich in einigen der verlinkten Threads schon ausführlich zu Wort gemeldet habe, vorläufig nur der Hinweis: Falls Dich das Thema 'Utopie' interessiert, lohnt sich auf jeden Fall ein Blick in die jüngste Ausgabe des Heyne Science Fiction Jahr, denn der diesjährige Themenschwerpunkt dreht sich just um diese Frage.

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Gedanken rund um Utopie und Film gibt's auf utopia2016.ch.

Alles Wissenswerte zur Utopie im nichtfiktionalen Film gibt es in diesem Buch, alles zum SF-Film in diesem Buch und alles zur literarischen Phantastik in diesem.
 

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#5 simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 10:18

Da ich's mir nicht verkneifen kann, hier noch ein etwas provokativer Gedanke, der mir letzte Nacht gekommen ist: Neben den schon in den anderen Threads angeführten Gründen, warum Utopien ausser Mode sind (kaum dramatisches Potenzial, Diskreditierung der gossen 'utopischen Projekte' im 20. Jahrhundert etc.), gibt es wahrscheinlich noch einen anderen Grund.

Utopien sind Gesamtentwürfe, sie planen eine ganze Gesellschaft. In diesem Sinne interessieren sie sich auch nicht für das Individuum, dieses muss sich dem Gemeinwohl unterordnen (dieser Gedanke ist auch in meinem Aufsatz im SF-Jahr 2008 enthalten). Aus verschiedenen Gründen leben wir aber - sehr verallgemeinert gesagt - in einer Epoche des Individualismus. Selbstverwirklichung, individuelles Glück werden insgesamt sehr viel höher eingestuft als zu früheren Zeiten. Wenn man sich nun mal überlegt, wie denn eine Utopie für das "Zeitalter des Individualismus" aussehen müsste, dann wird einem plötzlich klar, es an entsprechenden Utopien nicht mangelt. Jede Buchhandlung bietet unzählige Ratgeber zur persönlichen Verbesserung, zur Erreichung der individuellen Glückseligkeit. Geh nur mal in die Abteilungen "Ratgeber" oder "Esoterik" - dort sind die utopischen Texte der Gegenwart.

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#6 fremowolf

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 12:47

Da ich's mir nicht verkneifen kann, hier noch ein etwas provokativer Gedanke, der mir letzte Nacht gekommen ist: Neben den schon in den anderen Threads angeführten Gründen, warum Utopien ausser Mode sind (kaum dramatisches Potenzial, Diskreditierung der gossen 'utopischen Projekte' im 20. Jahrhundert etc.), gibt es wahrscheinlich noch einen anderen Grund.

Utopien sind Gesamtentwürfe, sie planen eine ganze Gesellschaft. In diesem Sinne interessieren sie sich auch nicht für das Individuum, dieses muss sich dem Gemeinwohl unterordnen (dieser Gedanke ist auch in meinem Aufsatz im SF-Jahr 2008 enthalten). Aus verschiedenen Gründen leben wir aber - sehr verallgemeinert gesagt - in einer Epoche des Individualismus. Selbstverwirklichung, individuelles Glück werden insgesamt sehr viel höher eingestuft als zu früheren Zeiten. Wenn man sich nun mal überlegt, wie denn eine Utopie für das "Zeitalter des Individualismus" aussehen müsste, dann wird einem plötzlich klar, es an entsprechenden Utopien nicht mangelt. Jede Buchhandlung bietet unzählige Ratgeber zur persönlichen Verbesserung, zur Erreichung der individuellen Glückseligkeit. Geh nur mal in die Abteilungen "Ratgeber" oder "Esoterik" - dort sind die utopischen Texte der Gegenwart.


Vielen Dank fuer beiden Antworten, simifilm. Sie sind beide wichtig ! Im Jahrband 2007 blaettere ich gerade, 2008 muss noch.

Aber eine Bemerkung zum Hintergrund, warum ich dieses Thema hier geposted habe : Ich komme nicht von der SF-Seite, obwohl ich immer wieder einmal was gelesen und immer gerne die Filme geschaut habe, sondern ich komme von der Philosophie. Meine Frage, "was fuer eine Zukunft wollen wir?", ist also ernst gemeint. Ich versuche nur aus den bisherigen SF-Ansaetzen zu verstehen, wie man sich bisher dem Thema genaehert hat und was daran falsch oder richtig war. Auf den "real existierenden Sozialismus" etwa der DDR habe ich bereits angespielt. Aber bekanntlich ist gerade gegenwaertig im Finanzcrash der Kapitalismus und "Neo-Liberalismus" auch wieder sehr unter Beschuss. Da kommt man mit Verweisen auf Hobbitland nicht weiter. Und wenn Du auf die Eso- und Lebenshilfe/Selbstverwirklichungs- und Gluecksliteratur hinweist, das verfolge ich seit den seligen Zeiten von Marcuse und NewAge und Oshos und Sannyasins und C.G.Jung etc.. Ist alles richtig.

Nur : Gerade als Deutscher weiss ich natuerlich, dass eine Diktatur das Privatleben gewaltig beeinflussen kann. Nicht nur, dass man nicht mehr alles lesen und sagen kann, was man moechte, sondern man wird auch vorsichtig und geduckt, man traut niemandem mehr. Schau Dir den Film "Das Leben der Anderen" (http://de.wikipedia....ben_der_Anderen) an ! Dieser moderne Rueckzug ins Private ist auch eine Art zu sagen "ihr koennt mich mal alle ..." Paradoxerweise haben hier der Liberalismus und die Diktatur den gleichen Effekt. Aber erinnert das nicht an die alte Formel der Woodstock Aera : "Tune in - drop out!"

Uebertragen auf SF besagt es, dass auch Huxleys "Eiland" oder Skinners "Walden Two" Ausdruck von Resignation sind, Verneinungen des Programms der Aufklaerung, fuer das ja nicht nur Hume und Kant standen, sondern auch die gegenwaertig aus Anlass des 80ten bzw. 90ten Geburtstages gefeierten Juergen Habermas und Helmut Schmidt. Beide reden von Buergertugenden und Zivilcourage. Ganz in dem Kontext wird auch Obama wahrgenommen. Gerade als jemandem, der nicht aus der Szene kommt, faellt mir daher auf, dass die SF nicht nur Leute anzieht, die - wie ich - Anregung und Fun suchen (ich habe alle Star-Wars und Herr der Ringe usw. Serien geschaut, sogar Spaceballs), sondern eben auch Leute, die aus der boesen Wirklichkeite fliehen moechten. Ich denke aber in meinem "realen" Leben sehr "politisch", d.h., im Kontext von Habermas und Schmidt und Obama, um es einmal so zu sagen. Daher bringen mich diese "Selbstfindungs-Regale" nicht weiter.

Ich bin ueberhaupt nur deshalb auf diesem Forum, weil ich die Hoffnung hatte (und noch habe), dass der geistige Spieltrieb der SF-People sich zu der Frage, "welche Zukunft wollen wir ?" noch das eine oder andere einfallen laesst.

Bisher ist mir ausser Callenbachs "Ecotopia" nichts bekannt, was den Versuch einer Gesamtalternative bringt, und Ecotopia finde ich nicht recht ueberzeugend. Das ist mir zu brav. Die SF wird ja auch deshalb vom Mainstream nicht ernst genommen, weil sie sich eben vor den grohssen menschlichen Herausforderungen in eine Maerchenwelt fluechtet, in der man fuer ernsthafte Antworten auf ernsthafte Fragen nicht haftbar gemacht wird. Das koennte und sollte sich vielleicht aendern. So war meine Anfrage gemeint.

Bearbeitet von fremowolf, 12 Dezember 2008 - 13:37.


#7 simifilm

simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 12:51

Nur : Gerade als Deutscher weiss ich natuerlich, dass eine Diktatur das Privatleben gewaltig beeinflussen kann. Nicht nur, dass man nicht mehr alles lesen und sagen kann, was man moechte, sondern man wird auch vorsichtig und geduckt, man traut niemandem mehr. Schau Dir den Film "Die Welt der Anderen" an !

Eine längere Antwort kommt wahrscheinlich nach dem Mittagessen, nur kurz eine Frage: Meinst Du Das Leben der Anderen?

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#8 Diboo

Diboo

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 13:00

Bisher ist mir ausser Callenbachs "Ecotopia" nichts bekannt, was den Versuch einer Gesamtalternative bringt,

Wenn es Utopien gibt, dann sind diese oft nicht das Zentrum der Betrachtung, sondern dienen nicht zuletzt als plot device. Die "Kultur" von Iain Banks beispielsweise ist ein farbenfroher Hintergrund für knackige Space Operas, dennoch ist sie als gesellschaftliche Utopie mit anarchistischen Zügen durchaus attraktiv und sicher als positiver Entwurf gedacht.

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#9 fremowolf

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 13:36

Wenn es Utopien gibt, dann sind diese oft nicht das Zentrum der Betrachtung, sondern dienen nicht zuletzt als plot device. Die "Kultur" von Iain Banks beispielsweise ist ein farbenfroher Hintergrund für knackige Space Operas, dennoch ist sie als gesellschaftliche Utopie mit anarchistischen Zügen durchaus attraktiv und sicher als positiver Entwurf gedacht.

Vielen Dank, Diboo ! Deine Bemerkung ist voellig richtig. Aber z.B. "1984" (als Buch und als Film) war ja wirklich als Studie gemeint ueber menschliches Verhalten und ueber (un-)menschliche Moeglichkeiten. Da diente also die Handlung als Vorwand zur Darstellung des Gesellschaftsbildes und nicht umgekehrt. Gleiches gilt auch fuer "Brave New World", und es galt ja schon fuer Morus und Bellamy und viele andere, die nur muehsam ihre Modelle durch ein Minimum an Handlung davor bewahrten, ein reines Lehrbuch zu sein. Deinen Hinweis auf "Kultur" von Iain Banks werde ich verfolgen. Aber mir fiel schon vor langer Zeit auf, dass es offenbar keine SF gibt, die ernsthaft versucht, sich eine neue Denkweise der Zukunft vorzustellen. Auch das ueberfordert offenbar Autoren und Leser gleichermahssen. Gemeint ist Folgendes : Wir Menschen sind Affen, wir sind Familien-Affen, die in Horden leben. Daher unser Familiensinn und unsere Gruppendynamik und der "Kampf der egoistischen Gene" um Status und Weibchen usw.. Ein Roboter haette alle diese Probleme ja nicht, er kommt nicht aus der Affenwelt, er waere eine reine Intelligenzmaschine, sozusagen reines Grohsshirn ohne Stammhirn. Damit wuerde sich seine ganze Denk- und Handlungsweise sehr von unserer unterscheiden, und eine Gesellschaft solcher "denkender Roboter" waere voellig anders als eine menschliche. Aber es gibt eine Verbindung : Auch Heilige versuchen, "den Affenrest abzuschuetteln". Koennen Roboter lieben ? "Bicentennial Man" versucht es - nicht ganz ueberzeugend. Die Figur des "post-humanen" Roboters, der als Heiliger gezeichnet wird, findet man am Schluss von "A.I. - Artificial Intelligence". Ueber diesen Schluss ist viel geschimpft worden, weil er eine boese - sehr typische - Behauptung von Kubrick bebildert, zu der sich Asimov ("I, Robot") nicht durchringen konnte : "Die Welt koennte so viel vernuenftiger und besser sein, wenn es die Menschen nicht mehr gaebe!" Kubrick war ein Pessimist. Alle seine Filme druecken im Grunden den gleichen Gedanken aus : "Der Mensch ist so dumm und boese, dass man ihn abschaffen sollte." Das ist es, was der Schluss von "A.I." besagen will. Die "kitschige" Szene, die von den Advanced Mechas fuer David aus dessen Memory rekonstruiert wird, hat einen wichtigen Sinn : Die Advanced Mechas kennen keine Menschen mehr, die Menschen sind ja zu dem Zeitpunkt laengst ausgestorben. Die Advanced Mechas wollen also durch diese Rekonstruktion vor allem wissen "wie die Menschen waren, als es die noch gab". Diesen wichtigen Punkt haben viele Kritiker des Film-Endes offenbar nicht kapiert. Der Film macht ernst mit der These, dass wir Menschen ueberhaupt nur eine Uebergangsform intelligenter Wesen sind, die dann von unseren eigenen Geschoepfen, eben z.B. den Advanced Mechas, abgeloest werden. Der Film sagt deutlich : Der Mensch ist zwar ein intelligentes Wesen, aber er leidet noch unter seiner aeffischen Erblast. Wahrhaft intelligente Wesen sind keine Menschen mehr, sie sind - wenn ueberhaupt - auf eine andere Weise als der Mensch dumm und boese, und es ist eine offene Frage, ob wahrhaft intelligente Wesen ueberhaupt noch dumm und boese sein wuerden. Genau darum werden diese Advanced Mechas am Ende von A.I. als Heilige dargestellt, als Wesen, die wie Zenmeister ueber allen Leidenschaften wie "Hass, Gier, und Wahn" (den drei Uebeln nach der Lehre des Buddha) stehen. Das scheint nicht direkt zum Thema "Welche Zukunft wollen wir ?" zu gehoeren, aber es ist der gedankliche Hintergrund, auf dem ich das Thema sehe : "Was meinen wir ueberhaupt, wenn wir von einer 'guten' Zukunft reden ?" Meinen wir nur einfach "mehr Fun, mehr Sex, mehr Money" ? Oder gibt es noch irgendetwas, was wichtig waere ? Warum verlangte "der Wilde" in "Brave New World" ein Recht auf Unglueck, ein Recht, mit Othello und Desdemona ungluecklich zu sein ? Ist das menschlich oder ist das aeffisch oder was ist es ? Was verteidigt er da, und was wuerden wir zu seiner Verteidigung sagen ? Wuerde wir gegen den Buddha "ein Menschenrecht auf Hass, Gier, und Wahn" verteigen ? Muessen wir eine Gesellschaft verteidigen, die von einem solchen "Recht" vorangetrieben wird ? Ist das Schillers "der Hunger und die Liebe, die sind das Weltgetriebe" ? Wozu dann noch Kampfgeist, Ehrgeiz, Machtgier usw. hinzukamen. Kein Fortschritt ohne uralte aeffische Leidenschaften. Sex and crime and money make the world go round. Ist es das ?

Bearbeitet von fremowolf, 12 Dezember 2008 - 13:47.


#10 Diboo

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 13:49

Meinen wir nur einfach "mehr Fun, mehr Sex, mehr Money" ?

Würde mir reichen ;)

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#11 simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 14:47

Ok, eine etwas längere Antwort: Du schreibst, dass es in der SF kaum positive Zukunftsentwürfe gibt. Ich bin nicht unbedingt sicher, ob das so stimmt. Ein grosser Teil der SF hat ja trotz allem ein Happyend, am Ende ist das Problem aus der Welt geschafft. Und es gibt ja durchaus SF, bei der die Menschheit am Ende friedlich vereint ist. Mir fällt da gerade Clarke The Light of the Other Days ein. Kein wirklich gutes Buch, aber hier bildet die Menschheit am Ende dank einer neuen Supertechnologie eine Art Gemeinschaftsbewusstsein. Hier wird also eine mehr oder weniger post-humane, technologische Zukunftsphantasie entworfen (und das Buch ist nur ein Beispiel; da gibt es sicher genug ähnlich Gelagertes).

Soweit ich Dich verstehe, suchst Du aber noch mehr oder weniger plausiblen/realistischen Entwürfen und da sind wir in meinen Augen bei einem grundsätzlichen Problem, das ich auch in einem der anderen Threads anspreche: Um plausibel zu sein, muss der Entwurf auch konkret sein, und je konkreter er ist, desto weniger wird er als Szenario für eine Erzählung interessant. Im Grunde landen wir dann irgendwann bei einem Parteiprogramm: Partei x sagt, dass ihr Ziel eine Gesellschaft ist, die diese und jene Werte hochhält, und dies will sie mit diesen und diesen Massnahmen erreichen. Und wenn wir nun schauen, wie erfolgreich Parteien jeweils beim Umsetzen ihrer Programme sind, dann sehen wir, dass es eben immer mühseliger wird, je konkreter das Problem ist. - Ein typisches Merkmal vieler klassischer Utopien ist beispielsweise, dass sie nur ganz wenige, einfach formulierte Gesetze haben, die jeder versteht. Anwälte und Rechtsverdreher sollen keine Chance haben, das gesunde Rechtsempfinden soll sich durchsetzen. Ein schöner Gedanke, gegen den wahrscheinlich niemand was hat (und der ja auch von rechter Seite immer wieder gerne kommt - weniger Gesetze, weniger Eingriffe des Staates, mehr Freiheit für die Bürger). Er lässt sich einfach nicht umsetzen, denn eine moderne Gesellschaft ist nun mal leider zu komplex, als dass man sie mit ein paar wenigen Gesetzen regeln könnte (was übrigens nicht heisst, dass ich bestreite, dass es Über-Regulierung gibt).

Zugespitzt würde ich behaupten, dass die SF (und vorher die Vor-SF-Utopie) noch nie in der Lage war, eine realistische bessere Welt zu entwerfen. Das gilt selbst für die frühen Utopien. Der Teufel steckt auch hier im Detail. Morus, Campanella und Co. haben alle Idealstaaten entworfen (wobei gerade bei Morus die Satire mindestens so wichtig ist wie der Entwurf eines idealen Staates), umsetzbar waren und sie die aber nicht. Ich glaube nicht, dass Morus sein Utopia auch nur einen Moment für realistisch hielt.

Es ist ja auch kein Zufall, dass die meisten Utopien den Idealstaat schon im fertigen Zustand präsentieren: Alle sind glücklich und unterwerfen sich der utopischen Ordnung. Die echte Herausforderung liegt aber im Erreichen dieses Zustands, und da wird's dann schwierig. Ich könnte Dir schon einen Roman schreiben, in denen allen Menschen ein kategorischer-Imperativ-Modul eingebaut ist, das dann für Frieden sorgt. Das Problem ist nur: Ein solcher Roman wäre weder spannend zu lesen (alle sind ja nett miteinander), noch plausibel.

EDIT: Vielleicht noch als persönliche Anmerkung. Das Thema Utopie/Dystopie interessiert mich auch sehr, wenn auch wohl aus anderen, mehr ideengeschichtlichen Beweggründen. Ich suche hier nicht nach einer Idee, die für mich ein Leitbild sein könnte. Tatsächlich würde es mich aber reizen, irgendwann in ferner Zukunft - auch das eine Utopie - mal ein Buch zur filmischen Utopie zu schreiben ...

Bearbeitet von simifilm, 12 Dezember 2008 - 14:53.

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 18:52

Es ist ja auch kein Zufall, dass die meisten Utopien den Idealstaat schon im fertigen Zustand präsentieren: Alle sind glücklich und unterwerfen sich der utopischen Ordnung. Die echte Herausforderung liegt aber im Erreichen dieses Zustands, und da wird's dann schwierig. Ich könnte Dir schon einen Roman schreiben, in denen allen Menschen ein kategorischer-Imperativ-Modul eingebaut ist, das dann für Frieden sorgt. Das Problem ist nur: Ein solcher Roman wäre weder spannend zu lesen (alle sind ja nett miteinander), noch plausibel.

EDIT: Vielleicht noch als persönliche Anmerkung. Das Thema Utopie/Dystopie interessiert mich auch sehr, wenn auch wohl aus anderen, mehr ideengeschichtlichen Beweggründen. Ich suche hier nicht nach einer Idee, die für mich ein Leitbild sein könnte. Tatsächlich würde es mich aber reizen, irgendwann in ferner Zukunft - auch das eine Utopie - mal ein Buch zur filmischen Utopie zu schreiben ...


Vielen Dank fuer die lange Antwort. Aber das war teilweise ein (interessantes) Missverstaendnis. Voran nur Deine Saetze : "Es ist ja auch kein Zufall, dass die meisten Utopien den Idealstaat schon im fertigen Zustand präsentieren: Alle sind glücklich und unterwerfen sich der utopischen Ordnung. Die echte Herausforderung liegt aber im Erreichen dieses Zustands, und da wird's dann schwierig." Klar : Deshalb werden viele Utopien ja so praesentiert, dass "der Schlaefer erwacht" (so eine Story von H.G.Wells), im Falle von Bellamy nach 113 Jahren - von 1888 bis 2000 hat er geschlafen. Man redet im Rueckblick vage von Buergerkriegen usw.. Aber das ist noch harmlos, und es ist gut vorstellbar und nicht unrealistisch : Im Jahre 1888 kam Wilhelm II an die Regierung, und wenn der Schlaefer also wirklich im Jahre 2000 in Berlin erwacht waere, der wuerde sich doch gewaltig ueber die Veraenderungen wundern, die in Deutschland und Europa und Russland (1888 Zarenreich !) vorgefallen sind - vom Ubergang von der Postkutsche und den vielen Pferden zum Auto- und U-Bahnverkehr nicht zu reden. Also : da war schon mehr los als Bellamy sich traeumen liess !

Interessanter - fuer mich und wohl auch fuer Dich - ist doch eine ganz andere Frage : Warum sind die tatsaechlichen Veraenderungen, die ja, wie gesagt, gewaltig waren, so ganz anders gekommen als Bellamy sich das gedacht hat ? Das waere doch wichtig, zu verstehen. Bellamy konnte nicht ahnen, dass die Ideen, die er da vortrug, trotz der vielen damals aus dem Boden schiessenden "Bellamy Clubs", sich nicht durchsetzen wuerden. So wie es ja auch Lenin nicht geglaubt haette. Und die Frage ist doch, warum das so ist. Es ist diese Frage, der meiner Ansicht nach die SF ausweicht. Sie lebt zu sehr in schwerelosen Tagtraeumen. Was ja - soweit Unterhaltungsliteratur - ihr gutes Recht ist. Wie realistisch sind denn die Star-Wars Filme. Aber wir empfinden sie nicht als unplausibel. Warum nicht ? Weil wir "das Technische" (bis hin zu den Levitationen, mit dene Yoda und andere grohsse Massen durch Gedanken durch die Luft schleudern koennen) fuer eine Nebensache halten. Was uns die innere Verbindung moeglich macht, ist die Aehnlichkeit der Denk und Fuehlweisen der Beteiligten. Mit Machtgier (Palpatine) und Liebe (Anakin zu Mutter und zu Amidala) koennen wir uns identifizieren. An technische Innovationen sind wir inzwischen gewoehnt, an emotionale nicht.

Was mir vorschwebt - und Du denkst ja an ein Drehbuch - ist ein Film, der so aehnlich wie "Blade Runner" waere (oder "Running Man" oder "Rollerball" oder "Escape from New York" usw.), der aber eben keine "kaputte" sondern eine "heile" Gesellschaft zeigen wuerde, eine vernuenftige und dennoch lebendige. Meine Idee einer guten Gesellschaft orientiert sich an einem Stadteilfest, wo alle vergnuegt und verspielt sind, wo es ruhig auch eine Geisterbahn geben darf, aber ansonsten viele Luftballons und Zuckerwatte und Achterbahn. Mir ist Callenbach viel zu steif, zu ordentlich. Ich war Jahre im Internat, ich kenne diese brave Denkweise, die auch vielen Gruenen nicht fremd ist. Daher ja auch mein Hinweis, dass "fun" vor allem ein Verdienst des liberalen Kapitalismus ist. Der Sozialismus denkt immer in Kategorien der "Versorgung", der Kapitalismus fragt einfach, was Spahss macht, die Versorgung ist nicht sein Thema. Ich denke in dem Zusammenhang auch an die Eroeffnungen der Olympiaden : Da stellen sich alle Nationen der Welt in bunten Anzuegen vor und feiern gemeinsam "mit vielen bunten Luftballons" die Menschheit.

Weshalb kann nicht einmal jemand einen Film drehen, der die kuenftige Menschheit in einer Weise darstellt, wie es eine Olympia-Eroeffnungsfeier tut ? Wieso soll immer nur der "Blade Runner" unsere Idee der Zukunft sein ? Das ist doch ein geistiges Armutszeugnis der SF-Szene ! Warum immer so sauertoepfisch ? Das ist ja schon fast ein Reflex geworden, dass die Zukunft boese ausschaut, und dass alles immer nur abwaerts geht. "Untergang des Roemischen Reiches" - oder der USA - im Ansturm der Barbaren, und dann eben ein paar Inseln der Seligen im Verborgenen - Shangri La im hintersten Winkel von Tibet oder die letzten Hippie-Kommunen irgendwo in Neu Mexiko oder Kalifornien (mit kiffenden Alt-Hippies, die jetzt in ihre 60er kommen). Oh je, wie traurig ! Dabei bin ich sogar 68 ! Wieso muss ich hier die Jungen zum Jungsein ermuntern ?

Bearbeitet von fremowolf, 12 Dezember 2008 - 19:08.


#13 simifilm

simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 19:05

Interessanter - fuer mich und wohl auch fuer Dich - ist doch eine ganz andere Frage : Warum sind die tatsaechlichen Veraenderungen, die ja, wie gesagt, gewaltig waren, so ganz anders gekommen als Bellamy sich das gedacht hat ? Das waere doch wichtig, zu verstehen. Bellamy konnte nicht ahnen, dass die Ideen, die er da vortrug, trotz der vielen damals aus dem Boden schiessenden "Bellamy Clubs", sich nicht durchsetzen wuerden. So wie es ja auch Lenin nicht geglaubt haette. Und die Frage ist doch, warum das so ist. Es ist diese Frage, der meiner Ansicht nach die SF ausweicht.

Nun ja, Voraussagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. SF ist nun mal nicht identisch mit Futurologie (wobei ich bei dieser sogenannten Wissenschaft auch erhebliche Vorbehalte habe).

Was mir vorschwebt - und Du denkst ja an ein Drehbuch - ist ein Film, der so aehnlich wie "Blade Runner" waere (oder "Running Man" oder "Rollerball" oder "Escape from New York" usw.), der aber eben keine "kaputte" sondern eine "heile" Gesellschaft zeigen wuerde, eine vernuenftige und dennoch lebendige. Meine Idee einer guten Gesellschaft orientiert sich an einem Stadteilfest, wo alle vergnuegt und verspielt sind, wo es ruhig auch eine Geisterbahn geben darf, aber ansonsten viele Luftballons und Zuckerwatte und Achterbahn.

Warum es so etwas nicht gibt, hat einen sehr simplen Grund: Es wäre stinklangweilig. Eine Geschichte braucht Konflikte, in einer Welt, in der nur Friede, Freude, Eierkuchen herrscht, gibt es keine Konflikte, also keine Story.

Mir ist Callenbach viel zu steif, zu ordentlich. Ich war Jahre im Internat, ich kenne diese brave Denkweise, die auch vielen Gruenen nicht fremd ist. Daher ja auch mein Hinweis, dass "fun" vor allem ein Verdienst des liberalen Kapitalismus ist. Der Sozialismus denkt immer in Kategorien der "Versorgung", der Kapitalismus fragt einfach, was Spahss macht, die Versorgung ist nicht sein Thema. Ich denke in dem Zusammenhang auch an die Eroeffnungen der Olympiaden : Da stellen sich alle Nationen der Welt in bunten Anzuegen vor und feiern gemeinsam "mit vielen bunten Luftballons" die Menschheit.

Abgesehen davon, dass ich solche Shows tendenziell ziemlich grässlich finde: Es wird hier eben keine Geschichte erzählt. Das ist pures Spektakel. Das kann durchaus auch was für sich haben, nur lässt sich damit nur begrenzt ein Roman oder ein Film bestreiten. Zumindest ein Spielfilm wird schwierig. Im Grunde gehen ja Musikvideos in die Richtung, die Dir vorschwebt. Da hast Du - je nach Song natürlich - auch nur Eitel Sonnenscheine, Freude und Harmonie. Aber eben: Die Handlung fällt das meist weg.

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#14 fremowolf

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 19:34

Nun ja, Voraussagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. SF ist nun mal nicht identisch mit Futurologie (wobei ich bei dieser sogenannten Wissenschaft auch erhebliche Vorbehalte habe). Warum es so etwas nicht gibt, hat einen sehr simplen Grund: Es wäre stinklangweilig. Eine Geschichte braucht Konflikte, in einer Welt, in der nur Friede, Freude, Eierkuchen herrscht, gibt es keine Konflikte, also keine Story. Abgesehen davon, dass ich solche Shows tendenziell ziemlich grässlich finde: Es wird hier eben keine Geschichte erzählt. Das ist pures Spektakel. Das kann durchaus auch was für sich haben, nur lässt sich damit nur begrenzt ein Roman oder ein Film bestreiten. Zumindest ein Spielfilm wird schwierig. Im Grunde gehen ja Musikvideos in die Richtung, die Dir vorschwebt. Da hast Du - je nach Song natürlich - auch nur Eitel Sonnenscheine, Freude und Harmonie. Aber eben: Die Handlung fällt das meist weg.

Vielen Dank, simifilm, muss ich mal ueberdenken. Aber es gibt auch in der Literatur nicht nur Tragoedien und Horror, sondern auch Lustspiele (Shakespeare und Shaw ua.) und Gesellschaftsromane ohne Leichen (Austen, Trollope, Fontane ua.). Es geht also doch. Und Filme wie "Hello Dolly" oder verschiedene franzoesische ("Can Can", aber auch Familienleben auf dem Lande usw., Jean Renoir ua.) sind nicht nur langweilig. Ich muss mal eine Liste machen. Ich verlange keine saubere und heile Welt, aber was ist das fuer eine seltsame Obsession mit Neurosen und Gewalt und Krieg, ohne die das Leben langweilig sein soll ? Das wuerde wohl besagen, dass die SF das ist, was fuer die Roemer der Zirkus mit Gladiatoren und wilden Tieren war. Pure Ablenkung ohne Interesse an der Zukunft. Naja, die SF ist ein weites Feld, da findet man alles Moegliche. Dass Verbrechen und Neurosen interessanter sind als ein gutes Zusammenleben, ist sicher wahr, wurde hier auch schon geaeussert. Aber ich habe auch schon geschrieben, wie billig das ist. Schurken und Konflikte zu finden und zu gestalten ist viiiiel einfacher als ein zivilisierter und vergnuegter Umgang ! Noch eine Bemerkung zur Prognostik : Natuerlich, Vorhersagen sind meistens falsch. Das meinte ich aber nicht. Sondern ich meinte, warum die Vorhersagen im Rueckblick ein so falsches Verstaendnis des Menschen verraten, DAS ist die Frage ! Wie es Alexander Sinowjew (Dissident des Stalinismus, lebte und schrieb zuletzt in Muenchen) einmal sagte : "Der Marxismus war nicht eine gute Theorie, die nur schlecht umgesetzt wurde, sondern er war eine schlechte Theorie, deren Fehler wir noch nicht kapiert haben." Genau das ist es : Lenin - wie Callenbach, Plato, Morus, und und und - haben sich ueber die Denk- und Handlungsweise der Menschen getaeuscht, und meine Frage war : In welcher Weise ? Warum scheitern immer wieder Utopien, die auf dem Papier so plausibel wirken und die sich sogar gerade darum so gut als "Opium fuer Intellktuelle" (Raymond Aron) eignen, an der Wirklichkeit ? Sie scheitern nicht am boesen Kapitalismus, sie scheitern an der menschlichen Realitaet, oder anders "die realen Menschen spielen das Spiel nicht mit, sie sind Spielverderber !" Deshalb gab es weder eine christliche noch eine sozialistische noch eine liberale Gesellschaft, die ihren Anspruechen gerecht wurde. Lauter grohsse Ideen, nix hat funktioniert. Aber ganz nutzlos war es doch nicht : Die moderne liberale Konsumgesellschaft geniesst im Kino "Kettensaegen-Massaker" und "Saw" in Folge, weil es heute unueblich geworden ist, Menschen auf dem Markt zu foltern und zu verbrennen. Unsere Unterhaltungsindustrie hat sich gewandelt. Oder hat sich noch mehr gewandelt ? Ich wuerde sagen : Ja, eine Menge ! Sollte man das nicht mal sichtbar machen ?

Bearbeitet von fremowolf, 12 Dezember 2008 - 22:05.


#15 WeepingElf

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 19:39

Es gibt in der Tat einen Mangel an positiven Nahzukunftsvisionen in der SF, zumindest habe ich das Gefühl, dass es so ist. Dabei läge darin eine Chance, der SF zu neuem "Lebensblut" zu verhelfen, wo doch allenthalben das "Ende der SF" bekakelt wird (nein, ich glaube nicht, dass die SF am Ende ist). Natürlich will ich auch keine langweiligen "Friede, Freude, Eierkuchen"-Welten. (Ecotopia steht halb ungelesen in meinem Bücherregal - es war einfach zu zäh, rein beschreibend ohne Plot, außerdem erinnerte mich diese Utopie doch an vergangene Versuche, die Menschen zum Glück zu zwingen: bis auf die Umweltverschmutzung ist alles da, was ein Ostblockland so "braucht": geschlossene Grenzen, Einparteiensystem komplett mit Geheimpolizei, Planwirtschaft ... überhaupt roch mir der ganze Laden zu sehr nach Landkommune.)

Ich habe ja hier schon mal versucht, eine Diskussion um aktuelle Zukunftsfragen und SF, die sich Lösungsmöglichkeiten annimmt, anzustoßen. Ich behaupte nicht, dass es SF, wie ich sie mir vorstelle, nicht gibt (ein paar Sachen von Bruce Sterling und Kim Stanley Robinson weisen immerhin in die Richtung); ich versteige mich auch nicht zu der Ansicht, nur solche SF sei lesenswert; aber ich sehe hier ein mögliches und zugleich potentiell nützliches Betätigungsfeld für SF-Autoren.

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#16 simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 19:47

Vielen Dank, simifilm, muss ich mal ueberdenken. Aber es gibt auch in der Literatur nicht nur Tragoedien und Horror, sondern auch Lustspiele (Shakespeare und Shaw ua.) und Gesellschaftsromane ohne Leichen (Austen, Trollope, Fontane ua.).

Von Leichen habe ich nicht gesprochen, sondern von Konflikt. Und Konflikt hat es gerade in Komödien in aller Regel reichlich.

Es geht also doch. Und Filme wie "Hello Dolly" oder verschiedene franzoesische ("Can Can", aber auch Familienleben auf dem Lande usw., Jean Renoir ua.) sind nicht nur langweilig. Ich muss mal eine Liste machen. Ich verlange keine saubere und heile Welt, aber was ist das fuer eine seltsame Obsession mit Neurosen und Gewalt und Krieg, ohne die das Leben langweilig sein soll ? Das wuerde wohl besagen, dass die SF das ist, was fuer die Roemer der Zirkus mit Gladiatoren und wilden Tieren war. Pure Ablenkung ohne Interesse an der Zukunft. Naja, die SF ist ein weites Feld, da findet man alles Moegliche. Das Verbrechen und Neurosen interessanter sind als ein gutes Zusammenleben, ist sicher wahr, wurde hier auch schon geaeussert. Aber ich habe auch schon geschrieben, wie billig das ist. Schurken und Konflikte zu finden und zu gestalten ist viiiiel einfacher als ein zivilisierter und vergnuegter Umgang !

Also nehmen wir mal an, man verlegt eine romantische Liebeskomödie in eine insgesamt glücklichere Zukunft. Das kann man schon machen, aber wozu? Wenn die glückliche Zukunftswelt nur als farbige Staffage für eine niedliche Geschichte dient, dann ist das doch noch viel sinnloser die von Dir kritisierten Schreckensszenarien. Bei den meisten düsteren SF-Filmen steht die Geschichte doch in einem Zusammenhang mit der jeweiligen Welt, der die Story antreibende Konflikt entsteht meist aus der Gestaltung der SF-Welt. Aber eine romantische Liebeskomödie aus der Beschaffenheit einer glücklichen Zukunft heraus entstehen zu lassen, halte ich für schwierig (wenn auch nicht unmöglich. Sie Dir mal Just Imagine an).


Noch eine Bemerkung zur Prognostik : Natuerlich, Vorhersagen sind meistens falsch. Das meinte ich aber nicht. Sondern ich meinte, warum die Vorhersagen im Rueckblick ein so falsches Verstaendnis des Menschen verraten, DAS ist die Frage ! Wie es der Alexander Sinwojew (Dissident des Stalinismus, lebte und schrieb zuletzt in Muenchen) einmal sagte : "Der Marxismus war nicht eine gute Theorie, die nur schlecht umgesetzt wurde, sondern er war eine schlechte Theorie, deren Fehler wir noch nicht kapiert haben." Genau das ist es : Lening - wie Callenbach, und Plato, und Morus, und und und - haben sich ueber die Denk- und Handlungsweise der Menschen getaeuscht, und meine Frage war : In welcher Weise ? Warum scheitern immer wieder Utopien, die auf dem Papier so plausibel wirken und die sich sogar gerade darum so gut als "Opium fuer Intellktuelle" (Raymond Aron) eigenen, an der Wirklichkeit ? Sie scheitern nicht am boesen Kapitalismus, sie scheitern an der menschlichen Realitaet, oder anders "die realen Menschen spielen das Spiel nicht mit, sie sind Spielverderber !"

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#17 simifilm

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 19:57

Es gibt in der Tat einen Mangel an positiven Nahzukunftsvisionen in der SF, zumindest habe ich das Gefühl, dass es so ist. Dabei läge darin eine Chance, der SF zu neuem "Lebensblut" zu verhelfen, wo doch allenthalben das "Ende der SF" bekakelt wird (nein, ich glaube nicht, dass die SF am Ende ist). Natürlich will ich auch keine langweiligen "Friede, Freude, Eierkuchen"-Welten. (Ecotopia steht halb ungelesen in meinem Bücherregal - es war einfach zu zäh, rein beschreibend ohne Plot, außerdem erinnerte mich diese Utopie doch an vergangene Versuche, die Menschen zum Glück zu zwingen: bis auf die Umweltverschmutzung ist alles da, was ein Ostblockland so "braucht": geschlossene Grenzen, Einparteiensystem komplett mit Geheimpolizei, Planwirtschaft ... überhaupt roch mir der ganze Laden zu sehr nach Landkommune.)

Ich habe ja hier schon mal versucht, eine Diskussion um aktuelle Zukunftsfragen und SF, die sich Lösungsmöglichkeiten annimmt, anzustoßen. Ich behaupte nicht, dass es SF, wie ich sie mir vorstelle, nicht gibt (ein paar Sachen von Bruce Sterling und Kim Stanley Robinson weisen immerhin in die Richtung); ich versteige mich auch nicht zu der Ansicht, nur solche SF sei lesenswert; aber ich sehe hier ein mögliches und zugleich potentiell nützliches Betätigungsfeld für SF-Autoren.

Wir haben das ja schon im anderen Thread diskutiert, aber ich möchte dazu dennoch eine Frage stellen: Gab es Deiner Meinung nach denn mal SF, die bei Zeit ihres Erscheinens diese Funktion erfüllt hat? Ich wäre da an konkreten Beispielen interessiert, damit die Diskussion weniger abstrakt wird.

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#18 fremowolf

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Geschrieben 12 Dezember 2008 - 22:50

Wir haben das ja schon im anderen Thread diskutiert, aber ich möchte dazu dennoch eine Frage stellen: Gab es Deiner Meinung nach denn mal SF, die bei Zeit ihres Erscheinens diese Funktion erfüllt hat? Ich wäre da an konkreten Beispielen interessiert, damit die Diskussion weniger abstrakt wird.

Vorbehaltlich der Antwort von WeepingElf, auf die ich auch schon gespannt bin, wuerde ich sagen, dass jedenfalls Bellamy und Callenbach zu ihrer Zeit als echte Anregungen verstanden worden sind - zumindest von einem bestimmten Leserkreis. Das wurde nicht als Unterhaltung gelesen, sondern es gab dann ernst gemeint Clubs, die die Ideen verwirklichen wollten. Uebrigens auch bei Owen und Cabet und Fourier. Wenn man Lenin als Utopiker liest, hat er ueberhaupt den groehssten SF-Club ins Leben gerufen, den es je gab. Selbst Hitler folgte einem Traum von Weltverbesserung, wenn auch einem ziemlich boesen. Es gibt also doch eine Reihe von Hinweisen. Ob man die Buecher von Ayn Rand so lesen kann, weiss ich nicht, aber auch sie hat "libertaere" Fan-Zirkel hervorgebracht. Und das ist nicht einmal systematisch, nur ein paar Hinweise aus dem Bauch heraus. Ich las gerade noch mal (in dem Reclam Buechlein von Hiltrud Gnueg : "Utopie und utopischer Roman", RUB 17613) die Inhaltsbeschreibungen zu Morris "News from Nowhere" und zu H.G.Wells "When the Sleeper Wakes" (beides in Kap. XII aaO.). Beide Romane sind um 1900 entstanden und beide lassen ihren jeweiligen Helden nach ca. 200 Jahren aus dem Schlaf erwachen, also um 2100. Aber in ganz verschiedenen Welten : Bei Morris ist das London von 2100 eine Ansammlung von Gartenstaedten, die Industrie ist abgeschafft, alle Menschen sind gluecklich mit Handwerk beschaeftigt, es sieht nach der Beschreibung etwa so aus wie die Welt der Hobbits am Beginn des ersten Teils von "Lord of the Rings". Na ja, es sieht wohl eher wie die spaetmittelalterliche Butzenscheiben Welt um 1400 aus, aber kein finsteres, sondern ein heiteres Mittelalter. Die Menschen geniessen die Arbeit als Handwerker und Bauern, sie fuehlen sich "unentfremdet". Fuer den Traum Bellamys (gegen den sich das Buch von Morris richtete), wo alles industriell perfektioniert und durchrationalisiert ist, haben die Leute bei Morris nur Verachtung uebrig. Ein Mensch, der nicht einmal Kuehe melken und aus Milch Butter und Kaese gewinnen, der nicht einmal gutes Brot backen kann, der ist fuer sie kein richtiger Mensch sondern eine dumme Maschine. Das klingt nach den Wurzelgruenen der 1970er Jahre. Ganz anders der Schlaefer von Wells, der etwa zur gleichen Zeit um 2100 erwacht : Er sieht sich in einer Welt extremer Klassenkaempfe. Also Bellamy (1888), Morris (1890), Wells (1899/1910), alle drei Romane etwa zur gleichen Zeit, alle voellig verschieden - und alle voellig neben der Realitaet von heute ! Wie kommt es ? Was haben sie falsch gesehen ? Die heutige Welt ist weder so durchrationalisiert und zentralisiert wie die Vision Bellamys, sondern wir haben einen liberalen Konkurrenz-Pluralismus. Die Industriegesellschaft ist - anders als bei Morris - nicht abgeschafft, denn die Leute wollten ihre Autos und Radios und Kuehlschraenke und HiFi-Anlagen und Flugreisen behalten. Die weitaus meisten Menschen streben garnicht zurueck aufs Land. Sie fuehlen sich wohl vor der Glotze und im Auto, sie haben kein Beduerfnis, wie Frodo Beutlin und seine Freunde zu leben. Und der Klassenkampf, an den Wells (1866-1946) wie Lenin (1870-1924) dachten, hat sich erledigt : Die heutige Industriewelt beruht auf Kooperation und Kompromiss in der Konsumgesellschaft. Mich interessierte die Frage, warum die Menschen - Autoren und Leser - so leicht geneigt sind, sich eine Gesellschaft als ideal oder als wahrscheinlich zu denken, die in Wirklichkeit irreal und unwahrscheinlich ist, waehrend man das, was wirklich geschieht, nicht sehen will, sondern es als langweilig abtut. Wenn wir die Welt verbessern wollen, dann muessen wir doch auf die "realen" Menschen achten und nicht auf unser falsches Bild von idealen oder irrealen Menschen. Wir muessen die Menschen so sehen und nehmen wie sie sind, und nicht so, wie wir sie gerne haetten. Oder sehe ich das falsch ? Ich koennte mir einen SF-Film vorstellen, der die Zuschauer schockiert nicht etwa durch Grausamkeit und Neurosen, sondern durch Guete, Humor, und Vernunft ! Es muesste dem Regisseur nur gelingen, Guete und Vernunft und Humor als etwas Schockierendes zu zeigen, als etwas, das reichlich verfuegbar ist, das aber kaum genutzt wird - ausser privat ueberall viel mehr, als viele Regisseure es wahrhaben wollen. Sokrates und Jesus wurden als schockierend empfunden, weil sie die Ueblichkeiten in Frage stellten. Sie zeigten, was ein vernuenftiges Leben sein koennte, und das gerade machte sie gefaehrlich fuer die Herrschenden, die sich auf diese Weise blohssgestellt sahen. Vernunft als Sprengstoff ? Ja, aber nicht so, wie sich intellektuelle Revoluzzer das denken. Baader, Meinhof, Ensslin waren wie Hitler, Stalin und Co. gerade keine Vertreter der Vernunft, sondern nur der Frustration und des egozentrischen Narzissmus. Das ist ja nicht dasselbe ! Ich frage mich, ob es da eine unterschwellige Abwehr gibt : Durch die Darstellung von Grausamkeit und Neurosen werden die Zuschauer entlastet, denn "sooo schlimm bin ich zum Glueck nicht !" werden ja viele beim Verlassen des Kinos denken, und ausserdem haben sie mal wieder ihrem inneren Schweinehund was zu fressen gegeben. Waehrend die Zuschauer beim Anblick eines Films, in dem sich Menschen glaubwuerdig durch Guete, Humor und Vernunft auszeichnen leicht beschaemt werden und sich unbehaglich fuehlen. Sie moechten lieber "die Sau rauslassen". Da sind wir dann wieder bei SF als billiger Kompensation fuer ein bloedes Leben, das zu aendern uns laestig ist. "Bitte keine Sonntagspredigt - auch nicht in Form eines Romans oder Filmes !" Ist es das ?

Bearbeitet von fremowolf, 13 Dezember 2008 - 04:03.


#19 simifilm

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 00:00

Vorbehaltlich der Antwort von WeepingElf, auf die ich auch schon gespannt bin, wuerde ich sagen, dass jedenfalls Bellamy und Callenbach zu ihrer Zeit als echte Anregungen verstanden worden sind - zumindest von einem bestimmten Leserkreis. Das wurde nicht als Unterhaltung gelesen, sondern es gab dann ernst gemeint Clubs, die die Ideen verwirklichen wollten. Uebrigens auch bei Owen und Cabet und Fourier. Wenn man Lenin als Utopiker liest, hat er ueberhaupt den groehssten SF-Club ins Leben gerufen, den es je gab. Selbst Hitler folgte einem Traum von Weltverbesserung, wenn auch einem ziemlich boesen. Es gibt also doch eine Reihe von Hinweisen. Ob man die Buecher von Ayn Rand so lesen kann, weiss ich nicht, aber auch sie hat "libertaere" Fan-Zirkel hervorgebracht. Und das ist nicht einmal systematisch, nur ein paar Hinweise aus dem Bauch heraus.

Die genannten Texte sind ja allesamt mehr oder weniger klassische Utopien. Klassisch in dem Sinne, dass die Beschreibung des Staatswesen im Vordergrund steht und die Handlung nur ein Vorwand ist, um dieses darzustellen. Dass diese Form der Utopie heute nicht mehr aktuell ist, hängt ganz einfach damit zusammen, dass sie stinklangweilig ist. Im Film gibt es sie überhaupt nicht, hat es sie nie gegeben, und wird es sie - zumindest im Rahmen eines "mehr oder weniger normalen Spielfilms" - wohl auch nie geben (aber dazu mehr in meinem Text im SF-Jahr). Wenn Du mich fragst, warum es diese Form der Utopie nicht mehr gibt - sie ist einfach überholt. Gewisse literarische Formen überleben sich eben, und die klassische Utopie, in der ja das Handlungsgerüst meist nur dazu dient, lange Exkurse über den utopischen Staat zusammenzuhängen, hat sich überlebt. Obwohl ich mich quasi professionell mit Utopien beschäftigt habe, würde ich keine, die ich bislang gelesen habe, als "spannende Lektüre" empfehlen. Im besten Fall sind sie historisch/geistesgeschichtlich interessant, aber sicher nicht lesenswert im Sinne eines spannenden Romans (die einzige Ausnahme war bislang The Dispossessed, aber das ist eben auch keine klassische Utopie mehr). Ich finde 1984 zehnmal spannender und interessanter zu lesen als jeden Morus oder Bellamy dieser Welt.


Also Bellamy (1888), Morris (1890), Wells (1899/1910), alle drei Romane etwa zur gleichen Zeit, alle voellig verschieden - und alle voellig neben der Realitaet von heute ! Wie kommt es ? Was haben sie falsch gesehen ?

Du gehst immer davon aus, dass diese Texte wirklich 100% als realistischer Entwurf gedacht waren; ich behaupte, dass das nur selten wirklich der Fall war. Im besten Falle sind das vielleicht Wunschträume, Idealvorstellungen, aber ich bezweifle, dass Morris wirklich je dachte, dass die Welt einmal so sein würde (oder so sein sollte), wie er das in News from Nowhere beschreibt. Bei Morus war es sicher nicht der Fall, und auch Bellamy brauchte mehrere Auflagen und Revisionen, bis er seinen Roman primär als politischen und nicht als literarischen Text verstand (falls Dich Bellamy interessiert, es gibt da ein wirklich interessantes Buch dazu: Roemer, Kenneth M.: Utopian Audiences How Readers Locate Nowhere. Amherst 2003. Darin geht es darum, wie die Leser - zeitgenössische und heutige - Bellamys Buch rezipieren, und da wird unter anderem auch herausgearbeitet, dass er sein Buch keineswegs von Anfang primär als politischen Text verstanden hat). Man sollte den spielerischen Aspekt, den diese Literaturform immer auch hat, nicht völlig vergessen.

Ich koenne mir einen SF-Film vorstellen, der die Zuschauer schockiert nicht etwa durch Grausamkeit und Neurosen, sondern durch Guete, Humor, und Vernunft ! Es muesste dem Regisseur nur gelingen, Guete und Vernunft und Humor als etwas Schockierendes zu zeigen, als etwas, das reichlich verfuegbar ist, das aber kaum genutzt wird - ausser privat ueberall viel mehr, als viele Regisseure es wahrhaben wollen.

Klingt nach einem schrecklich langweiligen und moralinsauren Film ...


Ich frage mich, ob es da eine unterschwellige Abwehr gibt : Durch die Darstellung von Grausamkeit und Neurosen werden die Zuschauer entlastet, denn "sooo schlimm bin ich zum Glueck nicht !" werden ja viele beim Verlassen des Kinos denken, und ausserdem haben sie mal wieder ihrem inneren Schweinehund was zu fressen gegeben. Waehrend die Zuschauer beim Anblick eines Films, in dem sich Menschen glaubwuerdig durch Guete, Humor und Vernunft auszeichnen leicht beschaemt werden und sich unbehaglich fuehlen. Sie moechten lieber "die Sau rauslassen". Da sind wir dann wieder bei SF als billiger Kompensation fuer ein bloedes Leben, das zu aendern uns laestig ist. "Bitte keine Sonntagspredigt - auch nicht in Form eines Romans oder Filmes !" Ist es das ?

Das ist mir ein bisschen sehr eindimensional gedacht. Gewaltdarstellungen können ganz unterschiedliche Funktionen innerhalb eines Films und können auch ganz unterschiedlich in Szene gesetzt werden. Das alles über einen Leisten zu schlagen, führt nicht wirklich weiter.

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#20 Ogion

Ogion

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 05:29

Interessante Diskussion hier. Vielleicht kann ich auch etwas beisteuern. Ich denke der Grund dafür, dass Utopien dem Ansatz nach unrealistisch und nicht ernsthaft erreichbar sind, liegt darin, dass sie ja per definitionem Wunschzustände sind. Da stellt sich ein Autor persönlich subjektiv vor, wie denn eine perfekte Gesellschaft aussehen könnte und beschreibt das dann (in einem Theoriewerk oder z.B. einem Scifi). Woran er jedoch schheitert ist, dass er entweder sich an einem konkreten Herrschaftsmodell festhält, das eben auch bloß ein konkretes herrschaftsmodell ist, will sagen dass bei Umwurf dieses oder bei Rebellion gegen dieses der utopische staats schnell verschwinden kann, also nicht besonders stabil ist, oder er vergisst in seiner Utopie den Menschen, will sagen, er vergisst dass eine Gesellschaft, auch eine utopische Gesellschaft letztlich aus einzelnen Menschen besteht, die ihrerseits ihre eigenen persönlichen Interessen und Wertvorstellungen haben und möglicherweise mit der utopischen Gesellschaft nicht eniverstanden sind. Dies muss ja gar nicht aus Gehässigkeit oder Boshaft heraus sein, sondern kann ja zum Beispiel daran liegen, dass der einzelne Mensch andere Werte für Ideale nimmt und sich die ideale Gesellschaft einfach anders vorstellt. Ich möchte hier anmerken, dass ich selber meine eigenen Werte und Ideale habe, die nicht unbedingt mit denen von einigen in der Gesellschaft um mich herum geteilt werden mögen, und ich daher auf einer Art Meta-Ebene sagen würde, Gesellschaft sollte es dem (jedem) Individuum ermöglichen, sich zu entfalten. Ich bin also Individualist. Eine interessante Theorie, die dieses Thema berührt, ist "Dunbar's Number", von dem Anthropologen Robin Dunbar (Zwei Links: englische Wikipedia, und ein Telepolisartikel von 1998). Er hat herausgefunden, dass es eine kognitive Grenze gibt für die Anzahl der Personen mit denen man stabile soziale Bindungen pflegen kann. Diese Zahl wird für den Menschen mit etwa 150 angegeben. Also 150 Personen, können auch etwas mehr oder weniger sein), zu denen man in irgendeinem persönlichen Verhältnis steht. Alle anderen Menschen sind außerhalb dieser "monkeysphere". Wenn man zum Beispiel in einer fremden Stadt einmal Taxi fährt, so gehört der Taxifahrer höchstwahrscheinlich nicht zu diesen 150 Personen. Der Taxifahrer wird wahrscheinlich bald vergessen sein, dessen Leben ist von keinem Interesse für uns. Das will nicht heißen, dass man den Taxifahrer nicht als menschliches Wesen ansieht, wenn man gerade bei ihm im Taxi sitzt, aber einige Tage später bildet der Taxifahrer in der Erinnerung nicht mehr wirklich eine lebendige Persönlichkeit, sondern wenn überhaupt nur noch eine Funktion, eben der Taxifahrer. Für mich hält diese Theorie einige Bedeutung bei der Betrachtung von Gesellschaft. Wenn ich eine Gesellschaft habe, die deutlich größer ist als 150 Personen, dann sind ja zwangsläufig die meiisten Menschen in dieser Gesellschaft nicht in jedermanns 'monkeysphere', also Fremde. Das heißt, dass eine solche Geselllschaft Regeln braucht, die den Umgang mit Fremden regeln, und die nicht von mir persönlich kommen und nicht vom persönlichen Kontakt stammen. Wenn, ich sehe wie eine Person meiner monkeysphere überfallen wird, dann wird mich das interessieren und ich werde versuchen zu helfen. Wenn die überfallene Person ein Fremder ist, dann werde ich vermutlich sehr viel zurückhaltender sein und mir vielleicht denken "Naja, ich misch mich mal lieber nicht ein, dann verliert er halt sein Geld, dafür muss ich mich nicht in Gefahr bringen". Dafür braucht eine große Gesellschaft dann also Regeln, nämlich die Regel dass ich jemandem in Not helfen muss, oder doch zumindest die Polizei rufen soll, wenn ich schon nicht selber helfe. Für mich zeigt das, dass die Regeln die persönlcihe Bekanntschaft ersetzen, wo sie nicht gegeben ist, und dafür sorgen, dass auch Fremde als menschliche Wesen behandelt werden. Gesellschaften von über ein paar hundert Personen sind also im Prinzip schon zu groß für den einzelnen Menschen. Welches aber nun die Regeln sein sollen, die das größere Zusammenleben regeln, das ist eine Frage die so einfach eben nicht zu beantworten ist und welche die Basis dieser Utopien stellt. Vielleicht wäre eine bessere (besser im Gegensatz zu utopisch, weil vlt. erreichbar) Form des Zusammenlebens der Menschen nur zu erreichen, wenn die Gesellschaften einzelne Stämme von maximal 200 Personenn wären, und alles darüber hinausgehende von einer Zusammenarbeit dieser Stämme geregelt würde? Ich hoffe, das war nicht zu weit ab vom Thema...und einigermaßen verständlich Ogion EDIT: Er heißt Robin Dunbar

Bearbeitet von Ogion, 13 Dezember 2008 - 08:04.

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#21 fremowolf

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 05:32

Lieber simifilm, vielen Dank fuer die Sorgfalt Deiner Antwort, aber wir reden wohl etwas aneinander vorbei, weil wir von unterschiedlichen Ausgangpunkten und Fragestellungen an das Thema herangehen. Eine meiner Fragen war doch : Wuerden wir - oder wuerde irgendein bedeutender Philosoph - das "Recht auf Unglueck" des "Wilden" in "Brave New World" gegen den Controller Mond verteidigen ? Ich denke nicht. Was tun denn unsere Politiker, Juristen, Oekonomen, Lehrer und Pfarrer die ganze Zeit ? Sie versuchen das herzustellen - wenn auch mit geringem Erfolg - was Du eine "schrecklich langweilige und moralinsaure Welt" nennst. Genau dafuer werden sie ausgebildet und bezahlt. Ihre Aufgabe ist es doch "Frieden, Sicherheit und Wohlstand" zu foerdern, und nicht etwa, zum unterhaltsamen Kettensaegen-Massaker beizutragen. Das gewollt zu haben unterstellen allenfalls ein paar Verrueckte einem Rumsfeld.Ich komme, wie gesagt, von der Philosophie her. Mich interessiert die Frage, wie sich Menschen die Zukunft vorstellen. Du kommst von Film und Literatur her, und fragst daher nach dem Unterhaltungswert. Ich kann mir keinen Politiker, Wirtschaftler usw. denken, der sich hinstellt und seinem Publikum sagt : "Wir leben in einer langweiligen und selbstgefaelligen und moralinsauren Welt, deshalb verspreche ich euch, dass ich nach kraeften das Verbrechen und die Korruption und den Krieg und den Rassismus und die soziale Ungleichheit und Angst und Neurosen foerdern werde, denn man hat mir gesagt, dass das alles viel unterhaltsamer ist als eine gute und vernuenftige Welt. Ich habe bereits eine Truppe von Schlaegern und Killern aufgestellt, die dafuer sorgen werden, dass ihr genuegend Angst und Sorgen haben muesst, um euch nicht mehr zu langweilen. Waehlt eine spannende Zukunft, waehlt MICH !!" Es gab allerding Menschen, die nach den Weltkriegen in einer Art von postkoitaler Traurigkeit den Krieg vermisst haben. "Im Kriege, da ist der Mann noch was wert, das wird das Herz noch gewogen ! ... Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein !" (Schiller). So abartig ist das also garnicht. Ausserdem gibt es die Filme "Rollerball" und "Running Man", die beide davon handeln, wie dem Volk der Zukunft mit neuen "Spielformen" die Langeweile vertrieben wird. Heute haben wir dafuer nur Boxen und "Catchen", ausser Fuhssball und Tennis und ein paar anderen, die sich ebenfalls aus der Branche Sport in die Unterhaltungsindustrie bewegt haben.Ein Philosoph hat eben andere Fragen und Probleme als ein Schriftsteller. Ich frage : "Was macht eine Zukunft wuenschenswert ?" Das war doch mein Thema dieses Threads : "Welche Zukunft wollen wir ?" Du fragst : "Was macht einen Roman lesenswert ? Was macht einen Film sehenswert ?" - und das ist etwas voellig anderes. Anders gesagt : Niemand wuerde sich acht Stunden lang das Leben von Frodo Beutlin und seinen Freunden anschauen. Der Film lebt natuerlich vom boesen Ring und von den vielen Gefahren, die zu dessen Vernichtung zu ueberwinden sind. Aber damit erledigt sich nicht die ganz andere Frage, ob wir in der Welt von Frodo Beutlin leben wollen. Filme wie "Der Blade Runner" oder "Flucht aus New York" sind spannend, aber wenn es in L.A. oder N.Y. solche Zustaende gaebe, wuerden diese Monsterstaedte zu Katastrophengebieten erklaert und man wuerde alles versuchen, sie unter Einsatz von Militaer und Geld zu sanieren. Um 1900 gab es in England und in den USA (und natuerlich auch sonst ueberall) eine Menge massiver Probleme mit dem damals neuen Industrieproletariat und mit Korruption und Streiks usw.. Es war die Zeit der Heilsarmee und des "Social Gospel" und der Technokraten, die ua. die Sterilisierung der armen Muetter vorschlugen, um die Vermehrung der Proletarier einzudaemmen. Die damalige Soziologie war weitgehend eine "Problemzonen-Soziologie", die nach den Ursachen und Folgen von Armut und Verbrechen und Bandenunwesen forschte. Insofern waren die damaligen Romane von Morris, Bellamy, und Wells durchaus als Vorschlaege an die Adresse der Politiker gedacht und nicht nur als Unterhaltung. Als Bogdanow 1905 seinen "Roten Planeten" schrieb, tat er das ausdruecklich, um den mit Lenin angestrebten Kommunismus "anschaulich werden zu lassen." Er sagt zu Lenin : Die Leute, die hier fuer den Kommunismus kaempfen sollen, muessen sich doch etwas Positives vorstellen koennen, sie muessen das gelobte Land vor sich sehen koennen. Der Kommunismus darf keine blasse Theorie bleiben. Fuer Theorien kaempft man doch nicht !" Aber das ist etwas ganz anderes, als wenn Bogdanow gesagt haette, "ich will einen Unterhaltungsroman schreiben." (Vgl. dazu Richard Saage : Politische Utopien der Neuzeit, ISBN 3-534-09091-8, S.234 ff.)Genau das ist es, was ich suche : Ein Modell, das mir eine wuenschenswerte Zukunft plausibel darstellt, und nicht "unterhaltsame Verbrechen, Kriege, und Neurosen". Was ich vermisse ist jedes intellektuelle Bemuehen um die Frage, wie eine bessere Zukunft aussehen koennte. Du scheinst der Meinung zu sein, dass wir die entweder nicht brauchen, oder wenn doch, dann jedenfalls nicht in der SF-Literatur oder im Film. Dort sind "1984" oder "Brazil" allemal spannender. So wie ja die Romane und Filme auch nur das Entstehen oder den Verfall einer Liebe zeigen, aber nicht den Alltag einer Ehe - es sei denn so witzig wie Woody Allens "Ein ganz normaler Hochzeitstag". Wenn die Liebenden sich endlich nach fuerchterlichen Gefahren haben, dann ist der Film auch aus. Auch am Ende von "Independence Day" stehen zwei Paare vor dem Priester um schnell noch vor dem Countdown zu heiraten. Ordnung muss sein. Ich verstehe ja Deine Sorgen, aber wie waere es denn, einmal die Entstehung einer menschlich guten Gesellschaft als einen Cliffhanger darzustellen ? Zumindest in der Fruehzeit des Christentums konnte man sich das so denken, und in der Fruehzeit des Leninismus ebenfalls, und sogar in der "Marcusean Revolt" der 1960er USA. Was war denn die Botschaft des "Yellow Submarine" ? Es ging darum, die Spiesser und Militaristen, die "blue meanies", aus Pepperland zu vertreiben. Das waren grohsse Ziele im Blick auf die bessere, menschlichere, verspieltere Gesellschaft der Zukunft. Das waren grohsse Hoffnungen. Und Du erklaerst mir, dass das doch alles langweilig und ueberholt ist, und dass niemand mehr solchen Unsinn glauben mag. Traurige Zeiten des resignierenden Pragmatismus !Ich las gerde im Heyne SF-Jahr 2007, auf S.266 ff, den sehr guten Aufsatz von Andreas Eschbach "Realitaet - sehr zu empfehlen !" Er schreibt dort, warum uns keine technische Neuerung mehr vom Hocker reisst. Wir sind zu viel gewoehnt. Was heute mit Laptop und Handy und per Google-Earth und GPS-Navi ueberall verfuegbar ist, waere von 30 Jahren noch unvorstellbare SF gewesen. Auch ein Antigrav-Antrieb wuerde uns nicht mehr erschuettern. Erschuettern kann uns nach wie vor nur noch "das Menschliche", die Faszination, die von Liebe und Tod und Leben ausgeht. Die heute spannenden SF-Romane haben nichts mehr mit Technik zu tun, sondern benutzen sie nur beilaeufig. Daher das Eindringen von SF in den Mainstream. Eschbach sagt auf S. 278 sehr schoen : "'Mainstream!' ist ein Ausdruck von Verachtung in SF-Kreisen. Leider. Denn man kann von den Mainstream-Autoren einiges lernen - allem voran ihren geuebten Umgang mit der Realitaet (logisch - oder ? Autoren ausserhalb der Phantastik haben ja nichts anderes.) Ich kann mich des Einsdrucks nicht erwehren, dass die heutige SF deswegen im eigenen Saft schmort, weil ihre Autoren entschieden zu viel SF gelesen haben und entschieden zu wenig anderes. Und weil sie ihre Augen nur noch zum Lesen benutzen, aber nicht mehr dazu, um zu beobachten." Und am Ende des Aufsatzes : "Dem, was die SF ausmacht, gehoert die Zukunft. Ich frage mich jedoch, ob die heutigen SF-Autoren noch eine Rolle darin spielen werden."Die Zukunft wieder spannend zu machen - aber als eine erstrebenswerte, nicht als eine, wo Verbrechen und Neurose, Krieg und Korruption als Normalitaet hingenommen werden - waere das nicht eine intellektuelle und kuenstlerische Herausforderung ? Das war der Sinn meines Themas "Welche Zukunft wollen wir ?" Was ich anstrebe ist eine neue Epoche der SF, in der Verbrechen und Neurosen und Krieg so langweilig werden wie heute schon die Technik ist. Mit Eschbach glaube ich, dass die Zukunft spannend sein kann, wenn man sie als Herausforderung ansieht, was aber weder mit Technik noch mit Wissenschaft, noch mit Verbrechen und Neurosen zu tun hat, sondern mit menschlichen Zielen und Aufgaben. Man muss nur wieder sensibel dafuer werden. Wir sind es gewoehnt, dass in Liebesfilmen nur die Hochzeit am Ende als spannend gilt, nicht die Ehe danach. Warum eigentlich ? Sollte es da nicht mal einen Blickwechsel geben ? Der Heyne-Band 2007 handelt vom Ende der SF. Eschbach sagt im Grunde : Wir haben uns an den Gedanken gewoehnt, dass die Zukunft nur spannend ist, solange wir auf die technischen Sensationen warten konnten. Jetzt ist die Technik langweilig geworden, also ist angeblich auch die Zukunft langweilig geworden - zumindest aber die SF. Eschbach sagt : "Das glaube ich nicht. Die Zukunft ist immer noch spannend, nur die SF ist es nicht mehr, weil sie ein falsches Verstaendnis der Zukunft hat, ein zu enges, ein zu technisches Verstaendnis." Genauso sehe ich das auch. Oder anders gesagt : Der Weg ist das Ziel, jede neue Wendung des Weges muss spannend sein, nicht die Hochzeit, sondern die Ehe als Herausforderung. Aber das wird natuerlich nicht einfach sein. Wie schrieb schon Wilhelm Busch ("Kritik des Herzens") : Die Liebe war nicht geringe,Sie wurden ordentlich blass. Sie sagten sich tausend Dinge und wussten immer noch was. Bei eines Strumpfes Bereitungsitzt sie im Morgenhabit,er liest die Rheinische Zeitungund teilt ihr das Noetige mit.

Bearbeitet von fremowolf, 13 Dezember 2008 - 12:26.


#22 fremowolf

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 06:20

Eine interessante Theorie, die dieses Thema berührt, ist "Dunbar's Number", von dem Anthropologen Robert Dunbar (Zwei Links: englische Wikipedia, und ein Telepolisartikel von 1998). Er hat herausgefunden, dass es eine kognitive Grenze gibt für die Anzahl der Personen mit denen man stabile soziale Bindungen pflegen kann. Diese Zahl wird für den Menschen mit etwa 150 angegeben. Also 150 Personen, können auch etwas mehr oder weniger sein), zu denen man in irgendeinem persönlichen Verhältnis steht. Alle anderen Menschen sind außerhalb dieser "monkeysphere".

Das heisst einfach : Die typische Groehsse einer Affenhorde - oder eines Dorfes - wo jeder noch jeden persoenlich kennt. Das leuchtet ein.

Für mich zeigt das, dass die Regeln die persönlcihe Bekanntschaft ersetzen, wo sie nicht gegeben ist, und dafür sorgen, dass auch Fremde als menschliche Wesen behandelt werden. Gesellschaften von über ein paar hundert Personen sind also im Prinzip schon zu groß für den einzelnen Menschen. Welches aber nun die Regeln sein sollen, die das größere Zusammenleben regeln, das ist eine Frage die so einfach eben nicht zu beantworten ist und welche die Basis dieser Utopien stellt. Vielleicht wäre eine bessere (besser im Gegensatz zu utopisch, weil vlt. erreichbar) Form des Zusammenlebens der Menschen nur zu erreichen, wenn die Gesellschaften einzelne Stämme von maximal 200 Personenn wären, und alles darüber hinausgehende von einer Zusammenarbeit dieser Stämme geregelt würde?

Lieber Ogion, Dein Beitrag ist verstaendlich und wichtig. Es war die Arbeit von Juristen ueber Jahrhunderte - vor allem in den Weltreichen (Rom, England) - das friedliche Zusammenleben von Dutzenden von Voelkern mit insgesamt vielen Millionen von Menschen zu ermoeglichen. Genau so, wie Du es beschreibst : Regeln, die auch dann gelten, wenn man sich persoenlich nicht kennt. Hoeflichkeit, Unterwerfung unter geltendes Recht statt unter Faustrecht, alle diese Dinge. Wir empfinden es doch garnicht als Problem, etwa in einer grohssen Klinik einen kranken Bekannten zu besuchen, und dort mit allen uns voellig unbekannten Aerzten, Schwestern, Pflegern, Reinigungskraeften usw. nett und vernuenftig umzugehen. Wir vermissen die persoenliche Kenntnis nicht. Normale Menschen - gerade auch Kinder - sind nicht einmal Rassisten. Sie haben keine Probleme damit, Menschen anderer Kleidung oder anderer Hautfarbe oder anderen Aussehens genauso normal zu begruehssen wie es die Typen an der Aliens Bar in Star Wars II tun. Rassismus ist immer Ausdruck einer Wahnhaftigkeit. Wir haben nicht einmal Probleme mit anderen Wesen. Kein Kind hat eine natuerliche Scheu vor Hunden, Katzen, Maeusen, Kuehen. Pferden usw.. Das sind ja alles Wesen, die man schon als Spieltiere kennt. Die "Men in Black" im Film sind ja noch ganz andere Kollegen gewoehnt. Wir Menschen sind ungeheuer flexibel in diesen Dingen. Ich selbst fuehle mich geradezu unbehaglich, wenn ich unter lauter deutschen Maennern bin. Ich liebe internationale Hauptbahnhoefe, wo alle Rassen und Klassen durcheinander wuseln. Hier in Bonn habe ich zeitweilig im Zentrum vom 200 Botschaften aus aller Welt gelebt, deren Kinder und Familien man im Bus und auf der Strahsse traf. Jetzt sind die alle in Berlin und ich vermisse die. Nein, ich sehne mich nicht nach dem Indianerdorf mit maximal 150 Personen, die alle die gleichen Gebraeuche haben und die gleiche Sprache und das gleiche Aussehen. Meine Zukunftsgesellschaft ist so bunt wie die Colours of Benetton und die Kinder auf deren Plakaten. Daher auch meine Freude ueber Olympia-Eroeffnungen, das grohsse bunte Voelkerfest. Dass das auch viel mit Geld und Doping zu tun hat, stoert mich nicht. So ist die Welt. Spahss haben die Menschen trotzdem. Ich bin der Letzte, der eine "ordentliche" Welt will. Ich will eine "menschliche" Welt, und das ist etwas ganz anderes. Mit den vielen Welten von Star Wars hatte ich nie ein Problem, das sehe ich so wie George Lucas. Wenn ein Kind mit seinem Hund gluecklich sein kann, warum soll dann ich nicht mit Jar Jar Binks oder mit dem Zottelmann befreundet sein koennen ? Es war ja auch im "Star Wars"-Kosmos nie die Rede davon, irgendwie "Ordnung in das Ganze zu bringen." Es ging immer nur um die Einhaltung von Spielregeln und um den Kampf der guten Jedi-Ritter gegen die boesen Sith-Lords. Es ging um gut und boese, nicht um das Aussehen oder um den Lebensstil. Das konnte jeder halten wie er wollte. Man kann es auch umgekehrt sehen : Auch der Hund liebt sein Herrchen oder Frauchen, obwohl die keine Hunde und nicht von Hundeart sind. Freundschaften gehen in der Natur - gluecklicherweise ! - querbeet. Es gibt Hunde, die mit Katzen befreundet sind, und Katzen, die mit Maeusen befreundet sind, und alle drei koennen mit Menschen befreundet sein. Mir gefaellt das sehr gut so.

Bearbeitet von fremowolf, 13 Dezember 2008 - 06:25.


#23 Ogion

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 07:26

Zu deinen letzten Absätzen: Vielleicht habe ich mich doch ein wenig missverständlich ausgedrückt. Dieser Kreis aus 150 Personen der den Kreis der näheren bekanntschaften eine Menschen ausmacht, muss ja nicht aus einem Topf kommen. Ich zum Beispiel kenne einige Leute aus Forne (englischen, mit Leuten aus vielen Gegended der Welt) näher als viele Menschen die ich im 'Real Life' kenne. Und auch meine Bekanntschaften im nahen (physischen) Umfeld, also meine Mitbewohner im Studentenwohnheim, die Leute bei mir auf dem Linux-Stammtisch, kommilitonen im Fachbereich... insd auch auch aus unterschiedlichen Kreisen.(Nebenbei: Ich komme auch aus Bonn, und obwohl ich bloß Jahrgang '86 bin, also kaum die Zeit Bonns als Hauptstadt mehr mitbekommen habe, finde ich Bonn auch sehr interessant und sehr vielfältig in seinen Bewohnern)Als ich oben andeutete, dass vielleicht Stämme die funktionierendste Gesellschaftsform wären, kamen wahrscheinlich diese "Indianerstamm"-Ideen in den Sinn. Aber ich denke mit moderner Technologie (oder eben vorstellbarer zukünftiger Technologie) lässt sich auch ein 'Stamm' vorstellen, der nicht an einem Ort wohnt und aus einem festen kreis von traditionelll miteinander ähnlichen Menschenn besteht. Ich meine, ich könnte ja beispielsweise in einer WG mit 10 anderen 'Stammesangehörigen' leben, aber andere 10 leben in Vancouver, wieder andere in Australien, und manche in Argentinien. Und was uns verbindet könnte ein gemeinsames Interesse sein. Und unsere unterschiedlichen Hintergründe könnten uns unterstützen, so wären ein paar von juristischem Hintergrund und damit Ansprechpaartner für juristisches für 'Stammesangehörige'...Also Zugehörigkeit muss nicht unbedingt mit physische Nähe korrelieren, sprich man kann physische Nähe für fremde Menschen an internationalen Bahnhöfen aufbewahren. Ein Punkt, der mir selber auch einfiel war, dass ein Mensch ja vlt auch einige der 'Slots' seiner 'monkeysphere' reserviert hat für Fremde, die kurzfristig eintreten in das Leben und danach wieder verschwinden. Also wenn ich zum Beispiel bei einer längeren Zugfahrt mitt einem Sitznachbarn ins Gespräch komme (vlt über gemeinsames Ärgerniss von Verspätung), eine gute Stunde mit dieser Person verbringe und am nächstern Tag, oder in der nächsten Woche ist dieser Kontakt schon mehr oder weniger vergessen.Ogion
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#24 simifilm

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 09:40

Ein Philosoph hat eben andere Fragen und Probleme als ein Schriftsteller. Ich frage : "Was macht eine Zukunft wuenschenswert ?" Das war doch mein Thema dieses Threads : "Welche Zukunft wollen wir ?" Du fragst : "Was macht einen Roman lesenswert ? Was macht einen Film sehenswert ?" - und das ist etwas voellig anderes.

Soweit ich Dich verstehe, fragst Du aber danach, welche Szenarien die SF bietet, und SF ist nun mal zuvörderst Literatur und nicht Lieferant für sozio-politische Blaupausen. Ein SF-Schrifsteller sollte sich meiner Meinung nach schon mit der Frage beschäftigen, ob sein Szenario auch lesenswert ist. Insofern glaube ich nicht, dass Dir die SF das bieten kannst, was Du suchst (oder wenn, dann nur in Ausnahmefällen).

Noch ein Wort zur Utopie: Das Charakteristische an der klassischen Utopie ist, dass sie eine hybride Form. Sie ist halb Erzählung halb philosophisches Traktat. Sie ist eben keine rein erzählende Literatur und das ist eben auch genau der Grund, warum sie nicht (mehr) sonderlich populär ist und warum diese Form in der SF heute insgesamt selten ist.

Anders gesagt : Niemand wuerde sich acht Stunden lang das Leben von Frodo Beutlin und seinen Freunden anschauen. Der Film lebt natuerlich vom boesen Ring und von den vielen Gefahren, die zu dessen Vernichtung zu ueberwinden sind. Aber damit erledigt sich nicht die ganz andere Frage, ob wir in der Welt von Frodo Beutlin leben wollen.

Aber die Frage, ob Middle Earth ein erstrebenswerter Zustand ist, kannst Dir ja auch so stellen, oder nicht?

Um 1900 gab es in England und in den USA (und natuerlich auch sonst ueberall) eine Menge massiver Probleme mit dem damals neuen Industrieproletariat und mit Korruption und Streiks usw.. Es war die Zeit der Heilsarmee und des "Social Gospel" und der Technokraten, die ua. die Sterilisierung der armen Muetter vorschlugen, um die Vermehrung der Proletarier einzudaemmen. Die damalige Soziologie war weitgehend eine "Problemzonen-Soziologie", die nach den Ursachen und Folgen von Armut und Verbrechen und Bandenunwesen forschte. Insofern waren die damaligen Romane von Morris, Bellamy, und Wells durchaus als Vorschlaege an die Adresse der Politiker gedacht und nicht nur als Unterhaltung. Als Bogdanow 1905 seinen "Roten Planeten" schrieb, tat er das ausdruecklich, um den mit Lenin angestrebten Kommunismus "anschaulich werden zu lassen." Er sagt zu Lenin : Die Leute, die hier fuer den Kommunismus kaempfen sollen, muessen sich doch etwas Positives vorstellen koennen, sie muessen das gelobte Land vor sich sehen koennen. Der Kommunismus darf keine blasse Theorie bleiben. Fuer Theorien kaempft man doch nicht !" Aber das ist etwas ganz anderes, als wenn Bogdanow gesagt haette, "ich will einen Unterhaltungsroman schreiben." (Vgl. dazu Richard Saage : Politische Utopien der Neuzeit, ISBN 3-534-09091-8, S.234 ff.)

Ich bestreite nicht, dass Utopien jeweils konkrete gesellschaftliche Probleme aufgreifen. Ich bezweifle lediglich, dass man sie einfach eins zu eins nur als politisches Ziel verstehen soll

Genau das ist es, was ich suche : Ein Modell, das mir eine wuenschenswerte Zukunft plausibel darstellt, und nicht "unterhaltsame Verbrechen, Kriege, und Neurosen". Was ich vermisse ist jedes intellektuelle Bemuehen um die Frage, wie eine bessere Zukunft aussehen koennte. Du scheinst der Meinung zu sein, dass wir die entweder nicht brauchen, oder wenn doch, dann jedenfalls nicht in der SF-Literatur oder im Film. Dort sind "1984" oder "Brazil" allemal spannender.

Ob wir das brauchen oder nicht - es ergibt in meiner Erfahrung einfach nur selten einen lesenswerten Roman resp. einen sehenswerten Film. Und wenn ich mir einen Film anschaue, bin ich tatsächlich primär daran interessiert, ob er sehenswert ist.

Ich verstehe ja Deine Sorgen, aber wie waere es denn, einmal die Entstehung einer menschlich guten Gesellschaft als einen Cliffhanger darzustellen ? Zumindest in der Fruehzeit des Christentums konnte man sich das so denken, und in der Fruehzeit des Leninismus ebenfalls, und sogar in der "Marcusean Revolt" der 1960er USA. Was war denn die Botschaft des "Yellow Submarine" ? Es ging darum, die Spiesser und Militaristen, die "blue meanies", aus Pepperland zu vertreiben. Das waren grohsse Ziele im Blick auf die bessere, menschlichere, verspieltere Gesellschaft der Zukunft. Das waren grohsse Hoffnungen. Und Du erklaerst mir, dass das doch alles langweilig und ueberholt ist, und dass niemand mehr solchen Unsinn glauben mag. Traurige Zeiten des resignierenden Pragmatismus !

Würde Du Yellow Submarine denn dem entsprechen, was Du suchst? Ist das ein Entwurf einer besseren Welt, der für Dich interessant ist? Ich mag den Film sehr, würde ihn aber keinen Moment in diesem Kontext einordnen.

Die Zukunft wieder spannend zu machen - aber als eine erstrebenswerte, nicht als eine, wo Verbrechen und Neurose, Krieg und Korruption als Normalitaet hingenommen werden - waere das nicht eine intellektuelle und kuenstlerische Herausforderung ? Das war der Sinn meines Themas "Welche Zukunft wollen wir ?" Was ich anstrebe ist eine neue Epoche der SF, in der Verbrechen und Neurosen und Krieg so langweilig werden wie heute schon die Technik ist. Mit Eschbach glaube ich, dass die Zukunft spannend sein kann, wenn man sie als Herausforderung ansieht, was aber weder mit Technik noch mit Wissenschaft, noch mit Verbrechen und Neurosen zu tun hat, sondern mit menschlichen Zielen und Aufgaben. Man muss nur wieder sensibel dafuer werden.

Wir sind es gewoehnt, dass in Liebesfilmen nur die Hochzeit am Ende als spannend gilt, nicht die Ehe danach. Warum eigentlich ? Sollte es da nicht mal einen Blickwechsel geben ? Der Heyne-Band 2007 handelt vom Ende der SF. Eschbach sagt im Grunde : Wir haben uns an den Gedanken gewoehnt, dass die Zukunft nur spannend ist, solange wir auf die technischen Sensationen warten konnten. Jetzt ist die Technik langweilig geworden, also ist angeblich auch die Zukunft langweilig geworden - zumindest aber die SF. Eschbach sagt : "Das glaube ich nicht. Die Zukunft ist immer noch spannend, nur die SF ist es nicht mehr, weil sie ein falsches Verstaendnis der Zukunft hat, ein zu enges, ein zu technisches Verstaendnis." Genauso sehe ich das auch. Oder anders gesagt : Der Weg ist das Ziel, jede neue Wendung des Weges muss spannend sein, nicht die Hochzeit, sondern die Ehe als Herausforderung. Aber das wird natuerlich nicht einfach sein.

Ich wiederhole mich, aber dennoch: Ich glaube nicht, dass die SF diesen Anspruch erfüllen kann, oder nur in Ausnahmefällen. Als erzählende Literatur ist SF primär an einer interessanten Geschichte und nicht am Entwerfen politischer Idealzustände interessiert. Wobei ich allerdings nicht mit Dir einig gehe, dass es nur negative Szenarien in der SF gibt. Du hast ja selbst Star Trek erwähnt: In vielem utopische Zustände: Eine Föderation, die zwischen den verschiedensten Rassen vermittelt, in weiten Teilen des Universums mehr oder weniger stabile Zustände etc.

Bearbeitet von simifilm, 13 Dezember 2008 - 09:43.

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#25 simifilm

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 11:30

Vielleicht noch etwas zur Begriffsklärung: Du fragst danach, welche Szenarien die SF bietet, bringst dann aber als Beispiele fast nur Utopien. Dazu ist zu sagen, dass diese beiden Gattungen keineswegs identisch sind, weder historisch noch vom Anspruch her.

Die Utopie ist eben eine hybride Gattung, sie ist eine Mischung aus Erzählung und philosophischem Traktat. Die SF ist dagegen primär Unterhaltungsliteratur (den Begriff meine ich keinesfalls abwertend). Zwar sind die meisten Utopien nach ca. 1800 auch SF, da sie technische Nova verwenden, aber eben, im Kern wollen die beiden Gattungen unterschiedliche Dinge.

Die letzte grosse Hochphase hatte die Utopie wohl an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, SF gab es damals im Grunde noch gar nicht als eigenständiges Genre, die entsteht ersten Ende der 1920er Jahre. Für die SF-Tradition, die dann entsteht, ist die klassische Utopie aber von untergeordneter Bedeutung. H.G. Wells, der tatsächlich beides, SF und Utopien, schreibt, ist diesbezüglich die grosse Ausnahme. Neuere Utopien wie etwa Huxleys Island oder Skinners Walden Two stehen ebenfalls beide deutlich ausserhalb der Genre-SF.

Wenn Du also primär auf der Suche nach Utopien im klassischen Sinne bist, ist der Grossteil der Genre-SF für Dich nicht interessant. Da sind vielleicht andere Bereiche ergiebiger. Wahrscheinlich werden auch noch heute "klassische Utopien" geschrieben, nur geschieht das kaum innerhalb der Genre-SF, sondern in anderen Zusammenhängen - politischen, philosophischen etc. Oder beispielsweise in der Architektur: Hier gibt es eine lange, bis heute anhaltende "utopische Tradition", die danach fragt, wie die Stadt der Zukunft konkret gebaut sein sollte (sie dazu auch diesen Text auf Telepolis).

Bearbeitet von simifilm, 13 Dezember 2008 - 11:32.

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#26 fremowolf

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 12:31

Zu deinen letzten Absätzen: Vielleicht habe ich mich doch ein wenig missverständlich ausgedrückt. Dieser Kreis aus 150 Personen der den Kreis der näheren bekanntschaften eine Menschen ausmacht, muss ja nicht aus einem Topf kommen. Ich zum Beispiel kenne einige Leute aus Forne (englischen, mit Leuten aus vielen Gegended der Welt) näher als viele Menschen die ich im 'Real Life' kenne. Und auch meine Bekanntschaften im nahen (physischen) Umfeld, also meine Mitbewohner im Studentenwohnheim, die Leute bei mir auf dem Linux-Stammtisch, kommilitonen im Fachbereich... insd auch auch aus unterschiedlichen Kreisen. Ein Punkt, der mir selber auch einfiel war, dass ein Mensch ja vlt auch einige der 'Slots' seiner 'monkeysphere' reserviert hat für Fremde, die kurzfristig eintreten in das Leben und danach wieder verschwinden. Also wenn ich zum Beispiel bei einer längeren Zugfahrt mitt einem Sitznachbarn ins Gespräch komme (vlt über gemeinsames Ärgerniss von Verspätung), eine gute Stunde mit dieser Person verbringe und am nächstern Tag, oder in der nächsten Woche ist dieser Kontakt schon mehr oder weniger vergessen. Ogion

Klar, einverstanden, es nennt sich dann eben "Netzwerke" oder "Tribes". Es war das Wort "monkey", das das Bild der geschlossenen Affenhorde nahelegte. Daher kam der Gedanke urspruenglich auch.

#27 fremowolf

fremowolf

    Yoginaut

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 12:35

Vielleicht noch etwas zur Begriffsklärung: Du fragst danach, welche Szenarien die SF bietet, bringst dann aber als Beispiele fast nur Utopien. Dazu ist zu sagen, dass diese beiden Gattungen keineswegs identisch sind, weder historisch noch vom Anspruch her.

Die Utopie ist eben eine hybride Gattung, sie ist eine Mischung aus Erzählung und philosophischem Traktat. Die SF ist dagegen primär Unterhaltungsliteratur (den Begriff meine ich keinesfalls abwertend). Zwar sind die meisten Utopien nach ca. 1800 auch SF, da sie technische Nova verwenden, aber eben, im Kern wollen die beiden Gattungen unterschiedliche Dinge.

Die letzte grosse Hochphase hatte die Utopie wohl an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, SF gab es damals im Grunde noch gar nicht als eigenständiges Genre, die entsteht ersten Ende der 1920er Jahre. Für die SF-Tradition, die dann entsteht, ist die klassische Utopie aber von untergeordneter Bedeutung. H.G. Wells, der tatsächlich beides, SF und Utopien, schreibt, ist diesbezüglich die grosse Ausnahme. Neuere Utopien wie etwa Huxleys Island oder Skinners Walden Two stehen ebenfalls beide deutlich ausserhalb der Genre-SF.

Wenn Du also primär auf der Suche nach Utopien im klassischen Sinne bist, ist der Grossteil der Genre-SF für Dich nicht interessant. Da sind vielleicht andere Bereiche ergiebiger. Wahrscheinlich werden auch noch heute "klassische Utopien" geschrieben, nur geschieht das kaum innerhalb der Genre-SF, sondern in anderen Zusammenhängen - politischen, philosophischen etc. Oder beispielsweise in der Architektur: Hier gibt es eine lange, bis heute anhaltende "utopische Tradition", die danach fragt, wie die Stadt der Zukunft konkret gebaut sein sollte (sie dazu auch diesen Text auf Telepolis).

Vielen Dank fuer die Klarstellung, simifilm, das leuchtet mir ein. Ich war mir nicht sicher, ob ich ueberhaupt auf dem richtigen Subforum bin, aber jetzt bin ich halt hier und bleibe erst mal hier. Falls die Utopie-Debatte sich anderswo abspielt, kann man ja noch einige Plakate dort aushaengen, damit die dortigen Leser mal hier vorbeischauen.

#28 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 13:13

Vielen Dank fuer die Klarstellung, simifilm, das leuchtet mir ein. Ich war mir nicht sicher, ob ich ueberhaupt auf dem richtigen Subforum bin, aber jetzt bin ich halt hier und bleibe erst mal hier. Falls die Utopie-Debatte sich anderswo abspielt, kann man ja noch einige Plakate dort aushaengen, damit die dortigen Leser mal hier vorbeischauen.

Wir können hier gerne darüber diskutieren, ich glaube nicht, dass jemand was dagegen hat. Ich denke nur, dass Du, wenn Du tatsächlich an "modernen Utopien" interessiert bist, in der SF nur sehr bedingt fündig wirst. Wenn Derartiges heute noch publiziert werden sollte, dann ist es sicher eher eine Randerscheinung der SF (wenn überhaupt). Insofern ist Dein Unbehagen, über die "Perspektivelosigkeit" der SF nicht unbedingt fair, denn die SF erhebt in der Regel gar nicht den Anspruch, den die Utopie zumindest bis zu einem gewissen Grad hat.

Man könnte schon argumentieren, dass Star Trek und Konsorten auch utopische Züge haben. Aber auch hier ist zu beobachten, dass es 1) in der konkreten Geschichte dann durchaus zu Konflikten und mitunter auch kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, weil anders kaum eine interessante Handlung in Gang käme, und dass 2) der Fokus eben immer auf der Geschichte bleibt und die Darstellung der utopischen Gesellschaft allenfalls implizit geschieht. Eine systematische Darstellung der Gesellschaft der Zukunft, wie sie klassische Utopie bietet, wirst Du in diesem Umfeld kaum finden.

Noch einmal zur Idee einer "romantischen SF-Komödie": Man könnte schon einen leichtfüssigen, witzigen, romantischen Film in der Zukunft ansiedeln. Bloss stellt sich dann von der Seite der Produktion die Frage, wozu man das machen soll. SF bedeutet immer mehr Aufwand in Sachen Ausstattung, Kulisse etc. Für einen Produzenten stellt sich die Frage, warum er diesen Aufwand auf sich nehmen soll, nur um eine Geschichte zu erzählen, die man genau so gut in der Gegenwart ansiedeln könnte. Kommt noch hinzu, dass es wahrscheinlich schwierig wäre, ein Publikum für einen solchen Film zu finden. - Machbar wäre ein solcher Film schon, es spricht einfach nicht viel dafür. Damit der Aufwand gerechtfertigt wäre, musste es schon eine Komödie sein, die ihren Antrieb aus der SF-Welt bezieht, und das dürfte nicht ganz einfach sein. - Ein solcher Film wäre dann ja auch etwas ganz Anderes als eine Utopie. Das wäre Feel-Good-SF, die aber wohl wenig Konkretes zu einer besseren Zukunft zu sagen hätte.

Und noch ein Gedanke: Du schreibst immer, dass Blade Runner ein so düsterer Film voller Neurosen wäre. Aber was geschieht denn am Ende des Films? Replikanten entdecken die Liebe, den Wert des Lebens - das ist doch eigentlich ein sehr positives Ende.

Signatures sagen nie die Wahrheit.

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Gedanken rund um Utopie und Film gibt's auf utopia2016.ch.

Alles Wissenswerte zur Utopie im nichtfiktionalen Film gibt es in diesem Buch, alles zum SF-Film in diesem Buch und alles zur literarischen Phantastik in diesem.
 

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#29 WeepingElf

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 13:18

Wir haben das ja schon im anderen Thread diskutiert, aber ich möchte dazu dennoch eine Frage stellen: Gab es Deiner Meinung nach denn mal SF, die bei Zeit ihres Erscheinens diese Funktion erfüllt hat? Ich wäre da an konkreten Beispielen interessiert, damit die Diskussion weniger abstrakt wird.

Ganz genau so wie ich es mir vorstelle habe ich es noch nicht gesehen, obwohl einige Sachen von Bruce Sterling und die Mars-Trilogie von Kim Stanley Robinson dem schon recht nahe kommen. Es gibt da sicher noch einiges, was ich nicht kenne - ich habe im Vergleich zu vielen anderen hier nicht all zu viel SF gelesen. Callenbachs Ecotopia hat die Intention, zeigt aber, wie man es nicht macht, denn das Buch ist gähnend langweilig. Und letzten Endes ist "erstrebenwert" eine subjektive Kategorie :)

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#30 Thomas Sebesta

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Geschrieben 13 Dezember 2008 - 13:23

Wir können hier gerne darüber diskutieren, ich glaube nicht, dass jemand was dagegen hat. ...

Denke ich auch - im Gegenteil, die Diskussion ist sehr interessant und hebt sich angenehm von anderen ab. Lehrreich allemal - macht weiter und (wie fremowolf sagte) hängt Plakate aus und ladet dazu ein :) Gruß Thomas

Thomas Sebesta/Neunkirchen/Austria

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