Dieser Thread ist ein Ableger der Diskussion zu meinem Todorov-Buch. Hier soll Leo Perutz' Roman St. Petri-Schnee hinsichtlich Todorovs Modell abgeklopft werden. Ich gehe dabei davon aus, dass die Thread-Teilnehmer das Buch gelesen haben und verzichte deshalb auf eine Zusammenfassung etc.
Das Ende des Buches präsentiert uns zwei Varianten: 1. Amberg wurde in Osnabrück von einem Auto angefahren und hat seither mehrere Wochen im Delirium im Krankenhaus verbracht. 2. Amberg war in Wirklichkeit in Morwede und hat dort all die Abenteuer mit Bibiche und dem Baron erlebt.
Wir haben hier also eine 'realistische' und eine wunderbare Varinate zur Auswahl; dies spricht mal für reine Phantastik. Aber in einem Punkt taucht hier für mich bereits eine Frage auf: Das Wunderbare hat in St. Petri-Schnee einen klaren SF-Einschlag. Es geht nicht um Ausgeburten der Hölle, Geister etc., sondern um eine Droge. Dass diese Droge religiöse Raserei auslöst, ist sekundär. Wir sind hier sicher in SF-nahen Gefilden, schliesslich ist Bibiche ja ausgebildete Wissenschaftlerin und der Baron liefert quasi einen wissenschaftlichen Beweis für religiöse Ausbrüche in der Vergangenheit. Bei Todorov haben wir es aber, wenn er Beispiele für Phantastik bringt, fast ausschliesslich mit dem "höllischen Wunderbaren", also mit Spuk-Elementen etc. zu tun. Zwar ordnet er SF dem Wunderbaren zu, er bringt sie aber kaum mit Phantastik in Verbindung. Ich sehe hier kein grundsätzliches Problem, wollte das aber erwähnen.
Für Amberg selbst steht am Ende fest, dass nur Variante 2 in Frage kommt. Am Ende ist er felsenfest davon überzeugt, dass all um ihn herum Theater spielen und dass Bibiche in der Schlussszene aus Angst nichts sagt.
Für den Leser ist es wohl tatsächlich unmöglich eindeutig zu entscheiden, was hier vor sich geht. Aber in meinen Augen spricht insgesamt mehr für Variante 1. Alles, was wir von Variante 2 wissen, ist nur durch Amberg selbst bestätigt. Todorov schreibt zwar, dass es in der Phantastik oft einen Ich-Erzähler hat und das hier auch der Fall, allerdings stellt sich dann gleich die Frage, wie zuverlässig dieser Erzähler ist. Wir haben keine externe Bestätigung der wunderbaren Ereignisse. Selbst der Pfarrer, der am Ende an Ambergs Bett steht, wird sonst von niemandem wahrgenommen.
Es deutet aber einiges darauf hin, dass Amberg stark obsessive Züge hat: Er steigert sich schon sehr früh in seine Liebe zu Bibiche. Die Frau arbeitet ein halbes Jahr im gleichen Raum wie er, er wagt nicht, sie anzusprechen, und nachher ist er so verzaubert, dass er ganz Berlin nach ihr absucht und sich dafür in Schulden stürzt. Dann die seltsame Szene vor dem Trödelladen in Osnabrück: Warum wird er von diesem gotischen Antlitz so sehr aus der Fassung gebracht? All das deutet darauf hin, dass Amberg psychisch nicht stabil ist und mit Variante 2 nur einen Wunsch imaginär auslebt. Darauf deutet auch jene Passage hin, in der er die Pflege im Spital quasi schon antizipiert, und auch die teilweise sehr seltsamen Angaben, wo Gespräche stattgefunden haben. Ein Gespräch mit dem Baron scheint beispielsweise an verschiedenen Orten gleichzeitig stattzufinden. Auch das imaginierte Zwiegespräch, das er mit Praxatin führt, als er auf Bibiche wartet, deutet darauf hin, dass er gerne mal ein bisschen phantasiert.
Das stärkste Argument, dass die Ereignisse nicht stattgefunden haben, bringt aber Amberg selbst. Einerseits macht er immer wieder klar, dass er sich die Nacht mit Bibiche nicht nehmen lassen will. Er will also unbedingt glauben, dass sie stattgefunden hat. Zudem sagt er im Gespräch mit ihr auch explizit, dass Träume mitunter vorzuziehen sind (in meiner Ausgabe S. 79).
Hier wird eigentlich Ambergs Haltung klar formuliert, und ich denke, dass man diese Passage als Schlüssel zum ganzen Roman verstehen kann.Er [Praxtin] ist glücklich. Er lebt in einem Traum, und so ist sein Reichtum sicherer als jeder andere. Denn was man im Traum besitz, kann einem eine Welt von Feinden nehmen. Nur das Erwachen, - aber wer wird so grausam sein, ihn aus seinem Traum zu wecken?
Mein Verdikt wäre: Eindeutig entscheiden kann man den Fall nicht, aber einiges deutet deutet auf eine nicht-wunderbare Erklärung hin.
Und damit wären wir bei einer grundsätzlichen Frage: Wie ist dieser Fall nach Todorov zu bewerten? Müssen - bildlich gesprochen - die beiden Waagschalen Wunderbares/Unheimlich genau auf gleicher Höhe sein, oder reicht es bloss, dass keine eindeutige Aufklärung erfolgt, damit reine Phantastik gegeben ist? Denn eindeutig klären kann man den Fall bei Perutz nicht, in meinen Augen deutet aber vieles auf eine unheimliche Erklärung hin.
Anmerkungen, Ideen?
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Bearbeitet von simifilm, 29 April 2009 - 10:02.