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Guy de Maupassant: Le Horla, Ein Spinoff des Todorov-Threads


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11 Antworten in diesem Thema

#1 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 08:27

Auch dieser Thread ist ein Ableger der Diskussion zu meinem Todorov-Buch. Hier soll nun Guy de Maupassant's Erzählung Le Horla (dt. Der Horla) das Thema sein. Ein Klassiker innerhalb der Phantastik-Diskussion, der immer mal wieder als Beispiel für reine Phantastik bezeichnet wird. Eine Onlineversion gibt es hier.

Ich mache auch dieses Mal den Anfang; ich habe Todorovs Buch gerade nicht vor mir, deshalb weiss ich nicht mehr, was er dazu sagt. Grundsätzlich haben wir auch hier wieder einen Ich-Erzähler, von dem wir nicht wissen, ob er wahnsinnig ist oder die Wahrheit erzählt. Ganz zu Beginn seiner Tagebucheinträge scheint er noch gesund und glücklich, aber sehr schnell zeigen sich Krankheitserscheinung und hysterische Zustände. Ab einem gewissen Punkt ist er vollkommen besessen von dem angeblichen unsichtbaren Horla, was schliesslich dazu führt, dass er seine Bediensteten umbringt (wenn auch nicht absichtlich). Die Tatsache, dass er zwar genau plant, wie der den Horla einsperren und töten kann, dabei aber vergisst, dass es daneben ja noch Leute im Haus hat, scheint schon darauf hinzudeuten, dass er vollkommen den Bezug zur Realität verloren hat. Allerdings bleibt auch hier wieder bis zum Schluss die Ungewissheit - ist er verrückt? Wahrscheinlich schon, aber eindeutig klären kann man es nicht.

Was meint Ihr dazu?

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#2 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 10:59

In der Geschichte gibt es mehrere Hinweise, dass es unglaubliche Dinge gibt, die der Mensch nicht sehen kann. So erzählen das der Mönch und Dr. Parent. Das wäre eine glaubwürdige Grundlage für die Ereignisse. Dem Leser werden hier Erklärungen für die scheinbar unmöglichen Situationen gegeben. Eine offensichtliche Parallele ist die Hypnose bei der Cousine und seinem eigenen Gefühl der Ohnmacht. Auf der anderen Seite kann ich mir vorstellen, dass der Erzähler gerade aufgrund seiner Situation Erklärungen heranzieht, die in Wirklichkeit keine Verbindung zueinander haben. Er wird hellhörig, wenn es um ihn und seine Krankheit geht, zieht dann Rückschlüsse, die kein Außenstehender tun würde.Und dann wäre noch dieser Satz des Kutschers:»Ja, gnädiger Herr, ich kann mich nämlich nicht mehr ausruhen. Die Nächte fressen die Tage auf! Seitdem der gnädige Herr fort waren, hat's mich ganz wunderlich gepackt. Aber den übrigen Dienstboten geht es gut. Ich habe nur große Angst, daß es wieder kommt!«Kaum verreist der Erzähler, wird er gesund, dafür trifft es den Kutscher. Kein anderer der Diener ist betroffen. Das spricht für die Existenz des Horlas. Oder spricht der Diener als Einziger aus, dass ihm die Abwesenheit des Herrn zu schaffen macht? (also doch kein Horla)

#3 James G.B.

James G.B.

    Yoginaut

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 14:40

Zu Erwähnen sei noch, dass es von dieser Kurzgeschichte 2 Fassungen gibt!Beide sind im im Band "Die Totenhand" zu finden!Ich glaube, in der zweiten und längeren Version,wird klarer ein Bezug zum Übernatürlichen gezogen,während es in der ersten Fassung auch psychologischer Horror sein könnte!Müsste ich nochmals lesen, da die Lektüre schon weiter zurück liegt,aber jetzt gehts erst mal in den neuen Star Trek Film!

#4 Theophagos

Theophagos

    Giganaut

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 15:16

Mir scheint die Geschichte relativ klar Wunderbar zu sein. Die wesentlichen Anhaltspunkte sind die schon erwähnte Krankheit des Dieners und später der Zeitungsbericht, in Brasilien gäbe es seltsame Vampir-Attacken; die Krankheit des Erzähler begann ja mit der Beobachtung eines brasilianischen Seglers. Weiter deute ich die Hypnotisierung der Cousine und die Streitereien in der Dienerschaft als entsprechende Hinweise.Dass der Vorfall den Verstand des Erzählers angegriffen hat, steht wohl außer Frage - aber macht das den Bericht schon komplett unglaubwürdig? Ich denke nicht. Die Deutung, dass der Ich-Erzähler alles nur phantasiert habe, ist zwar möglich, mir sind die Hinweise auf eine phantastische Deutung aber zu stark, besonders die beiden ersten Hinweise.Todorov meint übrigens, dass der Leser die Wahrnehmungen des Erzählers auf dessen Wahnsinn zurückführen würde; aber Todorov spricht auch von der ersten Fassung (James G. B. hat ja schon auf die zwei Fassungen hingewiesen), die in einer Heilanstalt spielt. Ich beziehe mich auf die Endfassung, auf die Simifilm auch verlinkt hat.Theophagos
"Cool Fusion? What is 'Cool Fusion'?" - "As Cold Fusion is beyond our grasp, we should reach for something ... less ... cold. Cool Fusion."
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#5 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 15:20

Mir war effektiv nicht klar, dass es zwei Fassungen gibt (habe deshalb die verlinkte Fassung auch nicht überprüft). Weiss jemand, ob irgendwo die erste Fassung online zu finden ist?

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#6 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 17:24

Die wesentlichen Anhaltspunkte sind die schon erwähnte Krankheit des Dieners und später der Zeitungsbericht, in Brasilien gäbe es seltsame Vampir-Attacken;

Das sehe ich auch so. Man könnte aber auch sagen, dass Krankheiten auf der ganzen Welt mit ähnlichen Mythen gesehen werden und nur eingebildet sind. Doch sind das alles nur Zufälle (brasilianisches Schiff, Krankheit des Dieners etc.)? Außerdem ist dann noch das Experiment mit den verschlossenen Flaschen und den eingeriebenen Lippen. Lässt sich das nur durch Schlafwandeln und Verrückheit erklären? Eher nicht.

#7 simifilm

simifilm

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 17:34

Das sehe ich auch so. Man könnte aber auch sagen, dass Krankheiten auf der ganzen Welt mit ähnlichen Mythen gesehen werden und nur eingebildet sind. Doch sind das alles nur Zufälle (brasilianisches Schiff, Krankheit des Dieners etc.)? Außerdem ist dann noch das Experiment mit den verschlossenen Flaschen und den eingeriebenen Lippen. Lässt sich das nur durch Schlafwandeln und Verrückheit erklären? Eher nicht.

Das Problem ist doch Folgendes: Wenn wir einmal annehmen, dass der Erzähler verrückt ist, kann grundsätzlich alles, was er beobachtet, nur eine Ausgeburt seines Wahnsinns sein. Die Experimente, die er durchführt, haben keinen Wert als Beweis, solange es keine Instanz ausserhalb des Erzählers gibt, die seine Beobachtungen bestätigt.

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#8 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 18:05

Das Problem ist doch Folgendes: Wenn wir einmal annehmen, dass der Erzähler verrückt ist, kann grundsätzlich alles, was er beobachtet, nur eine Ausgeburt seines Wahnsinns sein. Die Experimente, die er durchführt, haben keinen Wert als Beweis, solange es keine Instanz ausserhalb des Erzählers gibt, die seine Beobachtungen bestätigt.

Ja, das habe ich weiter oben geschrieben. Er kann sich alles so zurecht legen, dass seine Vermutungen bestätigt werden. Dr. Parent spricht zudem von einem Volksglauben an das "Übernatürliche, Märchen von umherspukenden Geistern, von Feen, Gnomen Gespenstern". Dann gibt es immer noch den Bericht über die Geschehnisse in der Provinz San Paolo. Wie ist der einzuordnen? Immerhin ist das eine Beobachtung, die nicht vom Erzähler kommt.

Bearbeitet von Ulrich, 11 Mai 2009 - 18:06.


#9 Theophagos

Theophagos

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 18:24

Das Problem ist doch Folgendes: Wenn wir einmal annehmen, dass der Erzähler verrückt ist, kann grundsätzlich alles, was er beobachtet, nur eine Ausgeburt seines Wahnsinns sein. Die Experimente, die er durchführt, haben keinen Wert als Beweis, solange es keine Instanz ausserhalb des Erzählers gibt, die seine Beobachtungen bestätigt.

Demnach wäre es unmöglich eine eindeutig wunderbare Geschichte von einem verrückten Ich-Erzähler zu schreiben - es könnten immer Wahnvorstellungen sein. Eine solche Geschichte würde im 'besten' Fall zur fantastischen, sonst zur unheimlichen. Ist es nicht seltsam, dass eine unheimliche Geschichte durchaus von einem verrückten Ich-Erzähler erzählt werden kann? Würden damit nicht eine Vielzahl von Lovecrafts Geschichten, bei denen der arme Investigator am Ende Wahnsinnig wird, ebenfalls zur fantastischen Geschichte? Mir ist das zu wenig. Ich denke, wenn man eindeutig wunderbare Settings akzeptiert, dann reicht der Wahnsinn des Erzählers nicht aus, dann muss es eine Spannung zwischen den Wahrnehmungen des Ich-Erzählers und denen seiner Mitmenschen geben und diese Spannung sehe ich in der endgültigen Fassung eben nicht. Theophagos
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#10 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 11 Mai 2009 - 21:57

Todorov meint übrigens, dass der Leser die Wahrnehmungen des Erzählers auf dessen Wahnsinn zurückführen würde;

Ist jetzt Off-Topic: Liest man manche Texte Eugen Egners unter dem Blickwinkel, dass die Figur psychisch nicht normal ist (verrückt oder anders), dann ist das oft eine gute Erklärung der Geschichten.

#11 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 12 Mai 2009 - 10:47

Ich muss auf jeden Fall noch die andere Version der Erzählung auftreiben; wenn die beiden Varianten wirklich unterschiedliche Interpretationen zulassen, wäre das ein sehr schönes Beispiel. Hier noch wörtlich, was Todorov zu Le Horla sagt:

Die Novellen Maupassants illustrieren die unterschiedlichen Grade des Vertrauens, das wird den Erzählungen entgegenbringen. Man kann deren zwei unterscheiden, entsprechend den beiden Möglichkeiten, dass der Erzähler der Geschichte entweder äußerlich ist (außerhalb der Geschichte steht) oder eine ihrer treibenden Kräfte. Steht er außerhalb, so kann er die Reden der Person selbst beglaubigen oder nicht, und die erste Möglichkeit macht die Erzählung überzeugende (wie etwa in dem zitierten Abschnitt von Un fou?). Wenn nicht, wird der Leser versucht sein, das Fantastische aus dem Wahnsinn zu erklären - so bei La Chevelure und der ersten Fassung von Le Horla, um so mehr, als der Schauplatz der Erzählung in beiden Fällen eine Heilanstalt ist.

In seinen besten Erzählungen (Lui?, La Nauit, Le Horla, Qui sait?) macht Maupassant jedoch den Erzähler selbst zum Helden der Geschichte (das ist auch das Verfahren E. A. Poes und vieler anderer nach ihm). Der Akzent wird also auf die Tatsache gelegt, dass es sich eher um den Diskurs des Autors handelt, d.h. seinen Worten gegenüber ist Vorsicht am Platze, und wir mögen durchaus vermuten, dass alle diese Personen Verrückte sind; sind sie jedoch nicht durch einen von dem des Erzählers verschiedenen Diskurs eingeführt worden, schenken wir ihnen immer noch ein paradoxes Vertrauen. Man teilt uns nicht mit, dass der Erzähler lügt, und die Möglichkeit, dass er lügen könnte, schockiert uns irgendwie von der Struktur her. Immerhin besteht die Möglichkeit (da er ja auch Person ist) - und die Unschlüssigkeit des Lesers kann entstehen. (S. 78)

Also, es gibt zwei Varianten: 1.) der Erzähler ist äusserlich oder 2.) treibende Kraft. Im ersten Fall kann er die Geschehnisse entweder beglaubigen oder dies nicht tun. Im ersten Fall - wenn er sie beglaubigt - wird die Erzählung überzeugender; wenn er die Eriegnisse dagegen nicht beglaubigt, sind wird versucht, das Fantastische für die Hirngespinnste eines Wahnsinnigen zu halten. Letzteres geschieht anscheinend bei der ersten Fassung von Le Horla.

Gemäss Todorov tendiert die erste Version also zum Phantastisch-Unheimlichen, da hier die Irrenärzte als aussenstehende Instanzen die Schilderungen des Protagonisten in Frage stellen; ich habe die Version wie gesagt nicht gelesen, aber hier findet offensichtlich eine Rahmung der Ich-Erzählung statt.

Im zweiten Fall haben wir das bereits beschriebene Problem, dass es ausserhalb des Protagonisten kein Instanz gibt, die uns bei der Einschätzung des Geschehens helfen könnte; dadurch entsteht, was Todorov ein "paradoxes Vertrauen" nennt. Es mag zwar die Vermutung aufkommen, dass der Erzähler verrückt ist, wir können das aber nicht einwandfrei festmachen. Zumindest gemäss Todorov ist damit offensichtlich fantastische Unschlüssigkeit gegeben. Das "paradoxe Vertrauen" entsteht, weil die Frage danach, ob der Erzähler lügt, normalerweise eben unsinnig ist; da hier der Erzähler aber Person ist, kann er lügen, und damit sind wir in einem Paradox. Vielleicht hat er alles, was er uns erzählt, frei erfunden, nur wäre damit ja eigentlich das Prinzip der erzählenden Literatur ausgehebelt ...

Ich merke, dass ich wirklich unschlüssig (sic!) bin, wie ich dieses Beispiel einordnen soll ...

Bearbeitet von simifilm, 12 Mai 2009 - 10:51.

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#12 Ulrich

Ulrich

    Temponaut

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Geschrieben 12 Mai 2009 - 11:44

Auf Französisch gibt es die erste Fassung zu lesen: http://maupassant.fr...xtes/horla.html


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