The Court Magician hat einen Waisenjungen als Hauptfigur. Er fällt den Hofbediensteten auf, weil er auf dem Markt nach und nach alle Tricks der fahrenden Zauberer kopiert und besser ausübt als diese. Er wird eingeladen, Hofmagier zu werden und echte Magie zu erlernen. Der Aussicht, sein Leben in Armut hinter sich zu lassen, kann er nicht widerstehen, zumal sich das Erlernen dieser Magie als simpel erweist. Er muss aber erfahren, dass Zauberei ihren Preis hat. Jedes Mal, wenn er für den Prinz einen meist banalen Auftrag erledigt hat, verschwindet etwas aus seinem Leben. Dies kann ein Körperteil sein, ein Lieblingsstück aus seinem Besitz, ein lieber Mensch. Nun weiß er auch, warum die Stelle des Hofzauberers so oft neu besetzt werden muss. Die Frage ist immer nur, wie lange ein Zauberer durchhält, bevor seine Verluste ihm unerträglich werden.
In T. Kingfishers Rose MacGregor treffen sich einige Jungs am Lagerfeuer und sprechen über Sex. So weit, so normal. Das Lagerfeuer brennt allerdings im Feenreich, die Jungs sind mehrere unglaublich gut aussehende Elfen/Feen, ein stattlicher Selkie und ein Pferd mit der Fähigkeit der Gestaltwandlung (wenn es Bier will). Die Jungs sind es gewohnt, dass Sterbliche sich nach Sex mit ihnen vor Sehnsucht verzehren und vor Liebenskummer vergehen. Nicht so Rose MacGregor. Die eher plumpe und stabil gewachsene Frau hat offenbar das Hobby, über die Hügel ihres Heimatdorfes zu wandern und mystische Wesen zu vernaschen, bis diese vor Erschöpfung das Weite suchen. Das hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Und so sind es die Zauberwesen, die sich jedes Jahr treffen, um Rose gedenken und auf keinen Fall vor den andren zuzugeben, dass sie sie vermissen. Allerdings findet die inzwischen zur Großmutter herangewachsene Rose gelegentlich eine Blumenkrone vor ihrer Tür †¦
Kingfishers verschmitzt erzählte Geschichte von den schmachtenden Fabelwesen und einer selbstbewussten jungen Frau, die Verkehrung der Rollenklischees, bringt einen Sonnenstrahl in den Alltag. Ob das reicht, um als preiswürdig durchzugehen, muss jeder selbst entscheiden, aber Laune macht das Lesen auf jeden Fall.
Clarks Story berichtet von der Herkunft von neun Zähnen von Afroamerikanern, die US-Präsident Washington im Lauf seines Lebens erworben hat, um sie als Prothese selber zu tragen. Den Zähnen wohnt allerdings die Geschichte ihrer früheren Besitzer inne, die fast alle Sklaven waren und von deren Leben Clark erzählt. Das setzt Washington mitunter ziemlich unangenehmen Stimmungen und Ereignissen aus, wenn er die Zähne trägt, nicht selten auch solche magische Natur. Denn in der Regel haben sich die früheren Benutzer dieser Zähne alles andere als freiwillig von ihnen getrennt. Genauso wenig, wie sich Washington zu seinen Lebzeiten von seinen eigenen Sklaven getrennt hat.
Washingtons Zähne ist im Rennen um den originellsten Titel dieses Jahrgangs. Das Thema Sklaverei ist hierzulande sicherlich nicht so präsent wie drüben, aber in Sachen Unterdrückung können wir natürlich ein gewichtiges Wörtchen mitreden. Es handelt sich hier nicht um eine traditionelle, in sich geschlossene Geschichte, der Autor hat die Story als eine Aneinanderreihung von Begebenheiten angelegt.
Sarah Gaileys Geschichte STET ist ein interessantes Stilexperiment. Ausnahmsweise sollte man diese Geschichte an einem Gerät mit Farbbildschirm lesen, denn es kommen drei verschiedene Farben und Schrifttypen zum Einsatz, zwei davon sind (zumindest im Edge epub-Reader) handgeschrieben, die in „Schreibschrift“ ist nicht immer gut zu entziffern). Der Kern der Geschichte ist ein drei Sätze langer nüchtern gehaltener Lexikoneintrag zu autonom fahrenden, von einer KI gesteuerten PKW. Dieser Eintrag enthält nicht weniger als 16 Fußnoten, die für elektronische Lesegräte natürlich voll verlinkt sind, so dass man ständig in dem Text vor- und zurückspringt, quasi eine Hightechgeschichte. Der Redakteur (und, wie man später erfährt, gute Bekannte der Artikelschreiberin) hat diese Fußnoten mit handschriftlichen Bearbeitungshinweisen versehen. Er ist der Ansicht, dass die Autorin das Thema zu emotional angeht. Auf diese Hinweise antwortet die Autorin wiederum mit andersfarbigen handschriftlichen Antworten, in denen sie ihren Text verteidigt. Aus diesen Repliken geht hervor, dass ihre Tochter von einem autonom fahren PKW erfasst und getötet wurde, weil dessen KI zwischen dem Leben des Kindes und einer vom Aussterben bedrohten Vogelart entscheiden musste.
Für meinen Geschmack ist diese Geschichte ein gelungenes Beispiel dafür, was starke Kurzgeschichten leisten können und wie man die Form einer Geschichte an elektronische Lesegewohnheiten anpassen kann. Ich empfehle, sich die Form dieser Geschichte hier https://firesidefiction.com/stet einmal anzuschauen. Natürlich gilt auch hier wie bei der vorangegangenen Geschichte, dass es keine Handlung gibt und der Begriff Geschichte eigentlich nicht zutrifft. Die ganze Handlung spielt sich im Kopf des Lesers ab, was wahrscheinlich genau der Grund ist, warum diese Geschichte herausragt. STET ist übrigens ein aus dem Latein stammendes Kürzel, dessen englische Übersetzung Let it stand = stehenlassen bedeutet und offenbar bei Lektoren oder Korrektoren gebräuchlich ist. Damit beantwortet die Verfasserin des Lexikoneintrags in der Geschichte jeden Änderungsvorschlag ihres Redakteurs.
The Tale of the Three Beautiful Raptor Sisters findet sich in Uncanny 23, einer Dinosaurier-Themenausgabe. Eine Raptor-Dame, die mit ihren beiden Schwestern glücklich im Wald lebt, frisst aus Versehen das Pferd des Prinzen. Um zu verhindern, dass ein Suchtrupp den Wald durchkämmt und sie und ihre Schwestern vertreibt, lässt sie sich satteln und trägt den Prinzen zurück in sein Schloss. Dort will sie die Pläne der Menschen auskundschaften. Der Prinz ist höchst einfältig, lernt aber im Lauf der Geschichte, eigene Entscheidungen zu treffen. Er berauscht sich an seiner neu gefundenen Fähigkeit und weigert sich mehr und mehr, auf andere zu hören. Er wird vom Trottel zum Tyrannen. Seine Braut verrät ihn daraufhin und befreit den gefangenen Dino, der eigentlich gar nicht befreit werden möchte. Der in seinem Stolz verletzte Prinz verfolgt die geflüchtete Braut und den entkommenen Dino. Als er die vier trifft, befiehlt er ihnen, sich seinen Anordnungen zu unterwerfen und in den Palast zurückzukommen. Seine letzte Entscheidung erweist sich als unglücklich, er ist nicht schnell genug, um den Raptoren zu entkommen, als sich zeigt, dass die Raptoren deutlich weniger als seine Untertanen geneigt sind, Befehlen zu gehorchen †¦
Eine ziemlich überdrehte und schnodderig erzählte Geschichte, wie sie typisch für Brooke Bolander ist. Auf ihrer HP kokettiert sie, diese Geschichte „has not a chance in several hells of entering the short story ballot fray“. Hat funktioniert.
Witch Guide erzählt von einer Bibliothekarin. Wie wir alle wissen, sind Bibliothekarinnen tatsächlich alle Hexen und Mitglied eines Ordens, der dafür sorgt, dass die Menschen immer die richtigen Bücher bekommen und im Gegenzug nicht auf Bücher stoßen, mit denen sie Unfug treiben könnten. Die Protagonistin bekommt es mit einem Waisenjungen zu tun, der zutiefst unglücklich ist und nur beim Lesen von Büchern aufblüht. Schließlich bricht sie die Regeln ihres Ordens und steckt ihm das im Titel der Geschichte genannte Compendium zu, ein magisches Buch, das für ihn im wahrsten Sinne des Wortes das Portal in eine bessere Welt ist.
Auch diese Geschichte ist von der herzwärmenden Sorte, die man gerne liest, wenn z.B. die Tagesschau einem gerade mal wieder klar macht, in welcher Welt man lebt. Was man anfangen soll, wenn die Welt, in die man geflüchtet ist, auch Mängel aufweist, beantwortet die Geschichte allerdings nicht. Aber dank des Ordens der Bibliothekarinnen dürfte das wohl nicht passieren, die kennen ihren Stoff.