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Gedankenkontrolle - Utopische Erzählungen aus der BRD (2020-B002)
Geschrieben von
ShockWaveRider
,
in
Bücher
16 Januar 2020
·
3.078 Aufrufe
Gedankenkontrolle
Utopische Erzählungen aus der BRD
mit einem Nachwort von Ekkehard Redlin
(Verlag Das Neue Berlin, Berlin, 1979, 196 Seiten)
Das Kürzel „BRD“ im Untertitel verrät es: Diese Anthologie erschien in der ehemaligen DDR. Schon bemerkenswert, dass es trotz Papierkontingentierung im Jahre 1979 möglich war, SF-Stories aus dem kapitalistischen Westen offiziell zu veröffentlichen. Natürlich wurde keine West-Anthologie 1:1 übernommen. Vielmehr hat man sich, ähnlich wie bei den Amiga-Platten, die sozialismusverträglichsten Kirschen aus verschiedenen Kurzgeschichten-Sammlungen herausgepickt.
Das Wagnis, das der Verlag „Das Neue Berlin“ einging, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es war noch nicht so lange her, als 1972/73 der Dresdner Stanislaw-Lem-Club vorübergehend zerschlagen und einzelne Mitglieder politisch verfolgt wurden. Dennoch erreichte der für utopische Literatur verantwortliche Lektor Ekkehard Redlin in den Jahren danach eine kontinuierliche Publikation osteuropäischer Science-Fiction-Werke.
Bemerkenswert: Die vorliegende Anthologie hat keinen explizit genannten Herausgeber. Ekkehard Redlin hat jedoch ein Nachwort beigesteuert, dessen Inhalt für mich nahezu unverständlich war. Ich vermute, die Unklarheit war durchaus beabsichtigt, handelt es sich doch um eine bewährte Strategie, mit der man sich in repressiven Gesellschaftsformen gegen Sanktionen zu wappnen versucht.
Insgesamt 19 Stories von 12 Autoren finden sich zwischen den mit einem aufwändigen, farbigen Totempfahl bedruckten Buchdeckeln (der schwarz-weiße Schutzumschlag verbirgt künstlerisch mehr als er offenbart). Allein neun Geschichten stammen von Herbert W. Franke, acht davon aus seiner Meilenstein-Collection „Der grüne Komet“. Interessanterweise wurden die kurzen Einleitungen, die Franke seinen Stories voranzustellen pflegt, nicht übernommen. Der Verständlichkeit seiner Texte tat das keinen Abbruch.
Wer mitgerechnet hat, bemerkt: für die übrigen elf Autoren bleiben nur noch zehn Geschichten übrig. Tatsächlich findet man in der Anthologie eine Gemeinschaftsproduktion von Martin Beranek und Peter T. Vieton. Die Story „Verkauf uns deinen Enkel“ erzählt uns, dass man sich nicht unbeschränkt verschulden kann, auch wenn das von den großen Konzernen als Maßnahme zur Konsumsteigerung befördert wird. Schnell genug spüren die Betroffenen, dass sie sich damit in die Hände eben dieser Konzerne begeben haben, die sofort von ihrer Macht Gebrauch machen, wenn es ihren Profitinteressen nutzt.
In Horst Pukallus†˜ Beitrag „Interludium“ geht es um den interstellaren Leuchtturmwärter Faro, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern schon lange Jahre auf einem Relaisplaneten lebt und arbeitet. Doch seine Frau ist erkrankt, und die beiden Töchter möchten etwas mehr vom Leben haben als diesen einsamen Planeten. Als ein Raumschiff aufgrund einer unbeherrschten Reaktion Faros landet, finden sie einen 90jährigen Greis mit einer todkranken Frau und zwei 60jährigen Töchtern vor. Die BetreiberÂÂgesellschaft hatte schlicht vergessen, Faro rechtzeitig auszuwechseln. Pukallus lässt den Leser lange über das tatsächliche Alter Faros und seiner Familie im Unklaren. Meisterhafte Erzählkunst mischt sich mit einer Story, die den Leser betroffen und wütend macht.
In Jürgen vom Scheidts Story „Blindheit“ erkranken viele Kolonisten auf einem fernen Planeten an einem Geflecht, das sie erblinden lässt. Eher durch Zufall stellt sich heraus, dass die „Blinden“ viele Probleme besser lösen können als die Sehenden. Eine ergreifende Geschichte über die negative Wirkung von Stigmatisierung - sowohl für die Stigmatisierten als auch für die Stigmatisierenden.
Auch Herbert Kamphaus liefert mit „Das Tal der Ahnen“ einen starken Beitrag ab. Ein Forscherteam entwickelt den ersten Materietransmitter. Als die ersten Tierversuche vielversprechend verlaufen, drängt Projektleiter Malman auf schnelle Menschenversuche. 12 Jahre später treten bei den Früh-Transmittierenden gesundheitliche Beeinträchtigungen auf. Malman ruft sein altes Team zusammen, um die Fakten zu verschleiern. Doch seine früheren Mitarbeiter spielen nicht mehr mit. Eine gelungene Geschichte über den Drang nach Anerkennung und die Schäden, die er nach sich ziehen kann.
Die komische Note steuert ausgerechnet Wolfgang Jeschke bei. Sein Text „Begegnung“ ist ein Ausschnitt aus einer längeren Erzählung seiner Collection „Der Zeiter“. Alphonse Dérier, Verkehrspolizist in Paris, bemerkt eine Reisegruppe, die nicht nur ungewöhnlich gekleidet ist, sondern sich auch seltsam benimmt und eine unverständliche Sprache spricht. Die Leute verhalten sich friedlich, können es aber nicht lassen, M. Dérier zu necken. Bis ein Reiseleiter der Firma „Time Tourists“ die entflohene Gruppe einsammelt. Jeschke schildert in süffisantem Ton, wie der etwas kleingeistige Pariser Flic einer Gruppe von Zeitreisenden begegnet, ohne etwas zu bemerken.
Nicht alle Stories sind so überzeugend wie die aufgeführten. Aber insgesamt war ich beeindruckt von der hohen mittleren Qualität der Beiträge. Und auch ein wenig stolz darauf, welchen positiven Eindruck die DDR-Bürger vom Niveau der „utopischen Erzählungen aus der BRD“ bereits 1979 gewinnen konnten.
Die Lektüre liefert einen Beitrag zu folgenden Lesezielen 2020:
1: 100 Bücher lesen! (2/100)
2: 14 von 16 Büchern aus dem 2019er-SUB bis Ende Juni lesen! (2/14)
Utopische Erzählungen aus der BRD
mit einem Nachwort von Ekkehard Redlin
(Verlag Das Neue Berlin, Berlin, 1979, 196 Seiten)
Das Kürzel „BRD“ im Untertitel verrät es: Diese Anthologie erschien in der ehemaligen DDR. Schon bemerkenswert, dass es trotz Papierkontingentierung im Jahre 1979 möglich war, SF-Stories aus dem kapitalistischen Westen offiziell zu veröffentlichen. Natürlich wurde keine West-Anthologie 1:1 übernommen. Vielmehr hat man sich, ähnlich wie bei den Amiga-Platten, die sozialismusverträglichsten Kirschen aus verschiedenen Kurzgeschichten-Sammlungen herausgepickt.
Das Wagnis, das der Verlag „Das Neue Berlin“ einging, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es war noch nicht so lange her, als 1972/73 der Dresdner Stanislaw-Lem-Club vorübergehend zerschlagen und einzelne Mitglieder politisch verfolgt wurden. Dennoch erreichte der für utopische Literatur verantwortliche Lektor Ekkehard Redlin in den Jahren danach eine kontinuierliche Publikation osteuropäischer Science-Fiction-Werke.
Bemerkenswert: Die vorliegende Anthologie hat keinen explizit genannten Herausgeber. Ekkehard Redlin hat jedoch ein Nachwort beigesteuert, dessen Inhalt für mich nahezu unverständlich war. Ich vermute, die Unklarheit war durchaus beabsichtigt, handelt es sich doch um eine bewährte Strategie, mit der man sich in repressiven Gesellschaftsformen gegen Sanktionen zu wappnen versucht.
Insgesamt 19 Stories von 12 Autoren finden sich zwischen den mit einem aufwändigen, farbigen Totempfahl bedruckten Buchdeckeln (der schwarz-weiße Schutzumschlag verbirgt künstlerisch mehr als er offenbart). Allein neun Geschichten stammen von Herbert W. Franke, acht davon aus seiner Meilenstein-Collection „Der grüne Komet“. Interessanterweise wurden die kurzen Einleitungen, die Franke seinen Stories voranzustellen pflegt, nicht übernommen. Der Verständlichkeit seiner Texte tat das keinen Abbruch.
Wer mitgerechnet hat, bemerkt: für die übrigen elf Autoren bleiben nur noch zehn Geschichten übrig. Tatsächlich findet man in der Anthologie eine Gemeinschaftsproduktion von Martin Beranek und Peter T. Vieton. Die Story „Verkauf uns deinen Enkel“ erzählt uns, dass man sich nicht unbeschränkt verschulden kann, auch wenn das von den großen Konzernen als Maßnahme zur Konsumsteigerung befördert wird. Schnell genug spüren die Betroffenen, dass sie sich damit in die Hände eben dieser Konzerne begeben haben, die sofort von ihrer Macht Gebrauch machen, wenn es ihren Profitinteressen nutzt.
In Horst Pukallus†˜ Beitrag „Interludium“ geht es um den interstellaren Leuchtturmwärter Faro, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern schon lange Jahre auf einem Relaisplaneten lebt und arbeitet. Doch seine Frau ist erkrankt, und die beiden Töchter möchten etwas mehr vom Leben haben als diesen einsamen Planeten. Als ein Raumschiff aufgrund einer unbeherrschten Reaktion Faros landet, finden sie einen 90jährigen Greis mit einer todkranken Frau und zwei 60jährigen Töchtern vor. Die BetreiberÂÂgesellschaft hatte schlicht vergessen, Faro rechtzeitig auszuwechseln. Pukallus lässt den Leser lange über das tatsächliche Alter Faros und seiner Familie im Unklaren. Meisterhafte Erzählkunst mischt sich mit einer Story, die den Leser betroffen und wütend macht.
In Jürgen vom Scheidts Story „Blindheit“ erkranken viele Kolonisten auf einem fernen Planeten an einem Geflecht, das sie erblinden lässt. Eher durch Zufall stellt sich heraus, dass die „Blinden“ viele Probleme besser lösen können als die Sehenden. Eine ergreifende Geschichte über die negative Wirkung von Stigmatisierung - sowohl für die Stigmatisierten als auch für die Stigmatisierenden.
Auch Herbert Kamphaus liefert mit „Das Tal der Ahnen“ einen starken Beitrag ab. Ein Forscherteam entwickelt den ersten Materietransmitter. Als die ersten Tierversuche vielversprechend verlaufen, drängt Projektleiter Malman auf schnelle Menschenversuche. 12 Jahre später treten bei den Früh-Transmittierenden gesundheitliche Beeinträchtigungen auf. Malman ruft sein altes Team zusammen, um die Fakten zu verschleiern. Doch seine früheren Mitarbeiter spielen nicht mehr mit. Eine gelungene Geschichte über den Drang nach Anerkennung und die Schäden, die er nach sich ziehen kann.
Die komische Note steuert ausgerechnet Wolfgang Jeschke bei. Sein Text „Begegnung“ ist ein Ausschnitt aus einer längeren Erzählung seiner Collection „Der Zeiter“. Alphonse Dérier, Verkehrspolizist in Paris, bemerkt eine Reisegruppe, die nicht nur ungewöhnlich gekleidet ist, sondern sich auch seltsam benimmt und eine unverständliche Sprache spricht. Die Leute verhalten sich friedlich, können es aber nicht lassen, M. Dérier zu necken. Bis ein Reiseleiter der Firma „Time Tourists“ die entflohene Gruppe einsammelt. Jeschke schildert in süffisantem Ton, wie der etwas kleingeistige Pariser Flic einer Gruppe von Zeitreisenden begegnet, ohne etwas zu bemerken.
Nicht alle Stories sind so überzeugend wie die aufgeführten. Aber insgesamt war ich beeindruckt von der hohen mittleren Qualität der Beiträge. Und auch ein wenig stolz darauf, welchen positiven Eindruck die DDR-Bürger vom Niveau der „utopischen Erzählungen aus der BRD“ bereits 1979 gewinnen konnten.
Die Lektüre liefert einen Beitrag zu folgenden Lesezielen 2020:
1: 100 Bücher lesen! (2/100)
2: 14 von 16 Büchern aus dem 2019er-SUB bis Ende Juni lesen! (2/14)
Oh ja, eine feine Erinnerung.
Es gab dann noch eine zweite kleine Anthologie mit westdeutscher SF: "Das Rheinknie bei Sonnenaufgang. Utopische Geschichten" - mit Stories von Peter Schattschneider, Hans Wolf Sommer, Winfried Göpfert, Ronald M. Hahn, Heidelore Kluge, Hans Wolf, Thomas Ziegler und Horst Pukallus. Na, ein paar Namen haben ja die Zeiten überdauert...
Illus von Thomas Franke und Nachwort von Karlheinz Steinmüller.
Auch 1979 erschienen.