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Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit (2020-B003)
Geschrieben von
ShockWaveRider
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in
Bücher
20 Januar 2020
·
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Marcel Proust
Die wiedergefundene Zeit
Siebter und letzter Band des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
(Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002/2011, 643 Seiten)
Beschafft habe ich mir Marcel Prousts Monumentalwerk im August 2018. Den ersten von sieben Bänden nahm ich im November 2018 zur Hand. 14 Monate später lege ich nun den letzten Band aus der Hand.
Nur die ersten vier Bände sind zu Marcel Prousts Lebzeiten erschienen. Von Band 5 liegt immerhin ein Typoskript vor, das Proust dem Verlag vorlegte. Allerdings heißt das wenig, denn zum Leidwesen seines Verlegers nahm Proust in den Druckfahnen nicht nur punktuelle Korrekturen vor; vielmehr verwendete er sie als Grundlage für umfangreiche Überarbeitungen.
Der siebte Teil „Die wiedergefundene Zeit“ war von Proust zum Zeitpunkt seines Todes als letzter Teil vorgesehen. Auch das heißt nicht viel: anfangs hatte er das „Verlorene Zeit“-Projekt auf drei Bände angelegt. Der Titel legt es schon nahe: Hier versucht Proust eine Antwort auf die Frage zu finden, wo die verlorene Zeit bleibt bzw. ob und wie man sie wiederfinden kann.
Allerdings liegt dieser Teil nur in Form von Notizheften, Prousts berühmten Cahiers, vor, in die er viele Leporellos eingeklebt hat mit später verfassten Einschüben. Von daher wundert es wenig, dass der Band einen unfertigen Eindruck hinterlässt. So treten regelmäßig Figuren auf, die in früheren Bänden der „Recherche“ bereits gestorben sind. Die Leporellos verursachen gleich zwei Probleme: zum einen ist nicht immer klar, an welcher Stelle auf der Seite die Leporello-Texte genau eingefügt werden sollten, zum anderen treten am Beginn und am Ende der Einschübe Kontinuitätsprobleme mit dem ursprünglichen Entwurf auf.
Allen genannten Schwierigkeiten zum Trotz liest sich auch der Abschlussband mit Genuss und Gewinn.
Ein wichtiges Thema dieses Bandes ist der 1. Weltkrieg. Proust empfindet ihn vor allem als Abschied von der dekadenten, hedonistischen „Belle Époque“, in der die ersten sechs Bände der „Recherche“ spielten. Das 19. Jahrhundert begeht mit 14-18 Jahren Verspätung sein „Fin de Siècle“; die „Belle Époque“ wird selbst Teil der unwiederbringlich „verlorenen Zeit“.
Allerdings schildert Proust die Schrecken des Krieges nur am Rande. Er selbst verbrachte die Kriegsjahre überwiegend in einem Sanatorium und erfuhr vom Kriegsgeschehen nur über Zeitungen und andere mittelbare Berichte. Was er aber mit unbestechlichem Blick seziert, ist der Wandel, der bei den Protagonisten seines Romans einsetzt. Vergessen sind plötzlich die tiefen Gräben, die die Dreyfus-Affäre über mehr als ein Jahrzehnt in die französische Gesellschaft gerissen hat. Vergessen ist aber auch die Wertschätzung, die der deutschen Kultur entgegengebracht wurde. Wer nun hinreichend expressiv eine patriotische Gesinnung vor sich her trägt, darf der gesellschaftlichen Akzeptanz sicher sein. Selbst die eleganten Salondamen kleiden sich nun betont schlicht, um ihre Solidarität mit den kämpfenden Soldaten und dem leidenden Volk auszudrücken. Proust zeigt mit ungewohnt deutlicher, fast schon verbitterter Sprache, dass es sich hier nur um eine Fassade handelt.
Einen wesentlichen Raum nehmen poetologische Überlegungen ein, die mit Blick auf die „Recherche“ selbstreferentiellen und bisweilen selbstironischen Charakter erlangen. So spricht sich Proust nicht nur gegen den filmhaften Roman, die bloß aufzeichnende Literatur und gegen patriotische Kunst aus, sondern auch gegen explizite Theorien im Kunstwerk. Aber genau die liefert er in diesen Passagen.
Und er versucht sich im ersten Teil des siebten Bandes auch an einer Antwort auf die Frage, wie man die „Suche nach der verlorenen Zeit“ erfolgreich beenden kann. Es ist die Kraft der Erinnerung, die ein vergangenes Ereignis in das gegenwärtige Bewusstsein des Sich-Erinnernden bringt. Indem sie Vergangenheit und Gegenwart verbindet, ist aktive, imaginative Erinnerung zeitlos. Ich hatte Probleme, diese Schlussfolgerung nachzuvollziehen. Was z.B. passiert mit der Erinnerung nach dem Tode des Erinnerungsträgers? Aber gerade bei solchen Passagen zeigt sich, dass hier ein Todkranker gegen den drohenden Tod anschreibt und versucht, so viele Gedanken, Impressionen, Erinnerungen wie möglich vor dem endgültigen Verstummen zu retten.
Der zweite Teil, von vornherein als Endstück der „Recherche“ konzipiert, ist bereits zu einem frühen Stadium des Romans entstanden. Hier findet man auch wieder die elegante Leichtigkeit, die spöttische Treffsicherheit und die dandyhafte Distanz, die den Reiz der ersten Romanbände ausmachten. Schlusspunkt der Recherche ist ein Maskenfest bei den Guermantes. Allerdings sind die Figuren des Romans allesamt gealtert. Das Maskenfest erhält dadurch fast den gespenstischen Charakter eines Totentanzes. Proust räsonniert hier aber gekonnt und einsichtsreich über die Individualität des Alterns. Wie in einer Revue treten alle Personen noch einmal auf, und Proust beschreibt, wie unterschiedlich sich das Alter bei ihnen bemerkbar macht. Am Ende wendet sich Proust Odette zu, jener Frau, die als Courtisane von Swann die heimliche Heldin des ersten Bandes war. Nun, als Grande Dame, konnte sie sich viel von ihrer Attraktivität bewahren, hat aber an Eleganz und gesellschaftlicher Wirkung gewonnen. Ein schöner, den gesamten 4000-Seiten-Roman überspannender Kreis schließt sich hier.
Auch dieser Band ist gespickt mit Anspielungen auf Kunstwerke aller Art. Ohne die wohlerwogenen Kommentare der vorliegenden Frankfurter Ausgabe wären mir die meisten Referenzen entgangen, zumal sich die meisten auf zeitgenössische Kunstwerke der Belle Époque beziehen, die heute ohne Prousts Zitate vergessen wären.
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ habe ich gern gelesen und ausgesprochen genossen. Zwar kenne ich das Original nicht, aber Eva Rechel-Mertens hat mit ihrer Übersetzung ein kongeniales Meisterwerk geschaffen. Auch die komplexesten Satzgefüge bleiben stets lesbar. Ich kann verstehen, wenn sich jemand nicht mit den überflüssigen Intrigen gelangweilter, superreicher Salonlöwen beschäftigen will. Die unbestechliche Analyse und Offenlegung solcher gesellschaftlicher Spielchen macht einen großen Anteil der „Recherche“ aus. Daneben gibt es aber auch tiefe psychologische Einsichten, insbesondere über das menschliche Bewusstsein und die schwer fassbare, fragile und fehlbare Natur der Erinnerung. Prousts Meilenstein verlangt vom Leser einiges ab. Aber wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt.
Die Lektüre liefert einen Beitrag zu folgenden Lesezielen 2020:
1: 100 Bücher lesen! (3/100)
2: 14 von 16 Büchern aus dem 2019er-SUB bis Ende Juni lesen! (3/14)
Leseziel erreicht:
2a: Prousts „Die wiedergefundene Zeit“ bis Ende Januar lesen!
Die wiedergefundene Zeit
Siebter und letzter Band des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
(Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002/2011, 643 Seiten)
Beschafft habe ich mir Marcel Prousts Monumentalwerk im August 2018. Den ersten von sieben Bänden nahm ich im November 2018 zur Hand. 14 Monate später lege ich nun den letzten Band aus der Hand.
Nur die ersten vier Bände sind zu Marcel Prousts Lebzeiten erschienen. Von Band 5 liegt immerhin ein Typoskript vor, das Proust dem Verlag vorlegte. Allerdings heißt das wenig, denn zum Leidwesen seines Verlegers nahm Proust in den Druckfahnen nicht nur punktuelle Korrekturen vor; vielmehr verwendete er sie als Grundlage für umfangreiche Überarbeitungen.
Der siebte Teil „Die wiedergefundene Zeit“ war von Proust zum Zeitpunkt seines Todes als letzter Teil vorgesehen. Auch das heißt nicht viel: anfangs hatte er das „Verlorene Zeit“-Projekt auf drei Bände angelegt. Der Titel legt es schon nahe: Hier versucht Proust eine Antwort auf die Frage zu finden, wo die verlorene Zeit bleibt bzw. ob und wie man sie wiederfinden kann.
Allerdings liegt dieser Teil nur in Form von Notizheften, Prousts berühmten Cahiers, vor, in die er viele Leporellos eingeklebt hat mit später verfassten Einschüben. Von daher wundert es wenig, dass der Band einen unfertigen Eindruck hinterlässt. So treten regelmäßig Figuren auf, die in früheren Bänden der „Recherche“ bereits gestorben sind. Die Leporellos verursachen gleich zwei Probleme: zum einen ist nicht immer klar, an welcher Stelle auf der Seite die Leporello-Texte genau eingefügt werden sollten, zum anderen treten am Beginn und am Ende der Einschübe Kontinuitätsprobleme mit dem ursprünglichen Entwurf auf.
Allen genannten Schwierigkeiten zum Trotz liest sich auch der Abschlussband mit Genuss und Gewinn.
Ein wichtiges Thema dieses Bandes ist der 1. Weltkrieg. Proust empfindet ihn vor allem als Abschied von der dekadenten, hedonistischen „Belle Époque“, in der die ersten sechs Bände der „Recherche“ spielten. Das 19. Jahrhundert begeht mit 14-18 Jahren Verspätung sein „Fin de Siècle“; die „Belle Époque“ wird selbst Teil der unwiederbringlich „verlorenen Zeit“.
Allerdings schildert Proust die Schrecken des Krieges nur am Rande. Er selbst verbrachte die Kriegsjahre überwiegend in einem Sanatorium und erfuhr vom Kriegsgeschehen nur über Zeitungen und andere mittelbare Berichte. Was er aber mit unbestechlichem Blick seziert, ist der Wandel, der bei den Protagonisten seines Romans einsetzt. Vergessen sind plötzlich die tiefen Gräben, die die Dreyfus-Affäre über mehr als ein Jahrzehnt in die französische Gesellschaft gerissen hat. Vergessen ist aber auch die Wertschätzung, die der deutschen Kultur entgegengebracht wurde. Wer nun hinreichend expressiv eine patriotische Gesinnung vor sich her trägt, darf der gesellschaftlichen Akzeptanz sicher sein. Selbst die eleganten Salondamen kleiden sich nun betont schlicht, um ihre Solidarität mit den kämpfenden Soldaten und dem leidenden Volk auszudrücken. Proust zeigt mit ungewohnt deutlicher, fast schon verbitterter Sprache, dass es sich hier nur um eine Fassade handelt.
Einen wesentlichen Raum nehmen poetologische Überlegungen ein, die mit Blick auf die „Recherche“ selbstreferentiellen und bisweilen selbstironischen Charakter erlangen. So spricht sich Proust nicht nur gegen den filmhaften Roman, die bloß aufzeichnende Literatur und gegen patriotische Kunst aus, sondern auch gegen explizite Theorien im Kunstwerk. Aber genau die liefert er in diesen Passagen.
Und er versucht sich im ersten Teil des siebten Bandes auch an einer Antwort auf die Frage, wie man die „Suche nach der verlorenen Zeit“ erfolgreich beenden kann. Es ist die Kraft der Erinnerung, die ein vergangenes Ereignis in das gegenwärtige Bewusstsein des Sich-Erinnernden bringt. Indem sie Vergangenheit und Gegenwart verbindet, ist aktive, imaginative Erinnerung zeitlos. Ich hatte Probleme, diese Schlussfolgerung nachzuvollziehen. Was z.B. passiert mit der Erinnerung nach dem Tode des Erinnerungsträgers? Aber gerade bei solchen Passagen zeigt sich, dass hier ein Todkranker gegen den drohenden Tod anschreibt und versucht, so viele Gedanken, Impressionen, Erinnerungen wie möglich vor dem endgültigen Verstummen zu retten.
Der zweite Teil, von vornherein als Endstück der „Recherche“ konzipiert, ist bereits zu einem frühen Stadium des Romans entstanden. Hier findet man auch wieder die elegante Leichtigkeit, die spöttische Treffsicherheit und die dandyhafte Distanz, die den Reiz der ersten Romanbände ausmachten. Schlusspunkt der Recherche ist ein Maskenfest bei den Guermantes. Allerdings sind die Figuren des Romans allesamt gealtert. Das Maskenfest erhält dadurch fast den gespenstischen Charakter eines Totentanzes. Proust räsonniert hier aber gekonnt und einsichtsreich über die Individualität des Alterns. Wie in einer Revue treten alle Personen noch einmal auf, und Proust beschreibt, wie unterschiedlich sich das Alter bei ihnen bemerkbar macht. Am Ende wendet sich Proust Odette zu, jener Frau, die als Courtisane von Swann die heimliche Heldin des ersten Bandes war. Nun, als Grande Dame, konnte sie sich viel von ihrer Attraktivität bewahren, hat aber an Eleganz und gesellschaftlicher Wirkung gewonnen. Ein schöner, den gesamten 4000-Seiten-Roman überspannender Kreis schließt sich hier.
Auch dieser Band ist gespickt mit Anspielungen auf Kunstwerke aller Art. Ohne die wohlerwogenen Kommentare der vorliegenden Frankfurter Ausgabe wären mir die meisten Referenzen entgangen, zumal sich die meisten auf zeitgenössische Kunstwerke der Belle Époque beziehen, die heute ohne Prousts Zitate vergessen wären.
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ habe ich gern gelesen und ausgesprochen genossen. Zwar kenne ich das Original nicht, aber Eva Rechel-Mertens hat mit ihrer Übersetzung ein kongeniales Meisterwerk geschaffen. Auch die komplexesten Satzgefüge bleiben stets lesbar. Ich kann verstehen, wenn sich jemand nicht mit den überflüssigen Intrigen gelangweilter, superreicher Salonlöwen beschäftigen will. Die unbestechliche Analyse und Offenlegung solcher gesellschaftlicher Spielchen macht einen großen Anteil der „Recherche“ aus. Daneben gibt es aber auch tiefe psychologische Einsichten, insbesondere über das menschliche Bewusstsein und die schwer fassbare, fragile und fehlbare Natur der Erinnerung. Prousts Meilenstein verlangt vom Leser einiges ab. Aber wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt.
Die Lektüre liefert einen Beitrag zu folgenden Lesezielen 2020:
1: 100 Bücher lesen! (3/100)
2: 14 von 16 Büchern aus dem 2019er-SUB bis Ende Juni lesen! (3/14)
Leseziel erreicht:
2a: Prousts „Die wiedergefundene Zeit“ bis Ende Januar lesen!
Im "Ich lese gerade..."-Thread entspinnt sich unter meiner Lesemeldung gerade eine hochinteressante Diskussion über die Rezeptionserfahrungen mit Klassikern: (klick!)
Gruß
Ralf