Geschrieben 11 Dezember 2011 - 21:13
Hi Alfred,
nein, über Höhlenmenschen und Keulen habe ich momentan nix auf Lager, aber eine hochphilisophische Geschichte über die Frage, warum die Menschen allem Anschein nach von Generation zu Generation immer dümmer werden, und sch*** was auf die Klicks - diese Story muß jetzt raus. Ich hatte einen beschi**nen Tag und muß mich aufmuntern, damit ich meine Arbeit schaffe! (Und als nächste kommt eine über die Sinnhaftigkeit der Idee, uns den Gebrauch von Kopfschmerztabletten zu verbieten! Wie gesagt: von Generation zu Generation...)
Los geht´s!
Verflixte Drückeberger!
"Leicht war´s nicht", sagte Margo mit schon ziemlich schwerer Stimme. "Wenn man seine Leute so schön der Reihe nach verliert - das ist ganz schön hart!"
"Klar", murmelte sein Nachbar. Er hatte den ganzen Abend lang noch kein anderes Wort gesagt. Immer nur "Klar".
"Zuerst hat´s meinen Vater erwischt", fuhr Margo ungerührt fort. Er befand sich im mitteilsamen Stadium eines Rausches, der im Laufe der Nacht sicher monumentale Ausmaße annehmen würde, weil Margo - vielleicht zum erstenmal in seinem Leben - Glück gehabt hatte: er hatte auf´s richtige Pferd gesetzt und war fest entschlossen, den gesamten Gewinn in Alkoholika umzusetzen.
"Ich war zehn, weißt du", sagte er, "als es passierte. Er kam nach Hause, mein Vater, und war blau wie ein Veilchen. Genau in der richtigen Stimmung, um uns alle zu vertrimmen. Wir huschten davon wie die Mäuse und versteckten uns. Er brüllte schon von unten: 'Kommt raus, ihr feigen Schweine!'. Dann kam er die Treppe rauf, den Gürtel in der Hand, und drosch damit gegen die Wand. Und dann stand der Rollschuh von meiner Schwester auf einer Stufe. Er trat drauf, und dann ist er die Treppe runtergekullert. Irgendwie sah es komisch aus. Er polterte die Stufen runter wie eine Gummipuppe. Mit der rechten Hand schwenkte er immer noch den Gürtel. Aber als er unten ankam, rührte er sich nicht mehr. Wir dachten, der Alte verstellt sich bloß und wartet, daß wir ihm zu nahe kommen. Hat er manchmal gemacht: sich in der Küche hingelegt und so getan, als würde er schlafen, und wenn wir an ihm vorbeiwollten - zack, hat er uns eins mit dem Gürtel übergezogen."
"Klar", sagte der Nachbar. Margo war ein bißchen verwundert, denn so ganz und klar schien ihm das nicht zu sein. Aber er vergaß es schnell wieder.
"Nach 'ner Weile gingen wir zu ihm runter. Er hatte die Augen offen und guckte uns ganz komisch an. Meine Mutter kriegte auf einmal Angst. Sie hat eigentlich immer nur auf ihn geschimpft, aber jetzt schmiß sie sich plötzlich neben ihn und heulte und bettelte ihn an, nicht wegzugehen. Ich fand das komisch, denn er sah nicht so aus, als ob er gehen könnte. Und auf einmal sagte er: 'Das könnte euch so passen! Ich gehe!' Und dann war er hin."
"Klar", murmelte der andere und trank sein Glas leer. "Wenn einer so koppheister die Treppe runterfällt..."
Margo achtete nicht auf die Bemerkung.
"Von da an fing meine Mutter an zu spinnen", sagte er nachdenklich. "Einmal ging sie sogar in die Kirche. Und sie las Bücher - hat sie früher nie gemacht. Und immerzu murmelte sie dieses Wort: 'Drückeberger!'. Ich wußte nicht, wen sie damit meinte. Sie war überhaupt sehr durcheinander. Sie mußte ja auch arbeiten, unseretwegen, wir waren fünf Geschwister. Der Älteste von uns, Tommy, kriegte dann einen Job, in einer Garage, und zwei Tage später hat meine Mutter die Tabletten geschluckt. Keiner hat was gemerkt. Als ich sie gesehen habe, dachte ich, 'Die hat aber einen schönen Traum!'. Sie hat so fröhlich ausgesehen. Dabei war sie schon hinüber."
"Hm", machte der Nachbar.
"Von da an ging's Schlag auf Schlag. Tommy kratzte die Kurve, als Elena einen Job bekam, und Elena brachte sich um, als Louis das erste Geld verdiente. Weißt du, was ich komisch finde? Keiner von ihnen hat so ausgesehen, als ob es schlimm wäre, zu sterben."
Er nahm einen langen Schluck und schüttelte sich.
"Vor einer Woche habe ich endlich auch Arbeit gefunden", sagte er grimmig. "Ich konnte mir ja ausrechnen, was passieren würde. Aber ich kann's immer noch nicht glauben. Es ist, als hätte Mel nur darauf gewartet, daß ich endlich auf eigenen Füßen stehe."
Er starrte zornig auf sein Glas.
"Warum haben sie sich alle verdrückt?" fragte er wütend. "Es ist ungerecht!"
"Die ganze Welt ist ungerecht", behauptete der Fremde.
"Ja, klar, weiß ich. Trotzdem - du mußt doch zugeben, daß soviel Pech auf einmal ein bißchen übertrieben ist. Meine ganze Familie ist ausgerottet. Mir hat man so einen Fürsorger auf den Hals gehetzt. Der Kerl hat mich doch tatsächlich gefragt, ob ich etwa die Absicht habe, mich auch umzubringen!"
"Hast du?"
"Natürlich nicht!"
"Gefällt dir das Leben?"
"Weiß ich nicht. Hab ich noch nie drüber nachgedacht."
"Aber die anderen haben sich vielleicht den Kopf darüber zerbrochen."
"Kann schon sein."
"Und haben festgestellt, daß diese Welt ziemlich verrückt ist."
"Ist das ein Grund, sich das Leben zu nehmen? Die Kerle hätten schließlich auch mal an die anderen denken können! An mich zum Beispiel. Wie stehe ich denn jetzt da? Ich habe niemanden mehr!"
"Dafür brauchst du aber auch für niemanden zu sorgen. Du bist der letzte aus deiner Familie, und wenn du es genau nimmst, bist du der einzige von ihnen, der jemals von allen Verpflichtungen frei war. Ich finde es anständig von deinen Geschwistern, daß sie gewartet haben, bis du..."
"Von wegen anständig! Sie haben sich dünnegemacht, sind einfach abgehauen. Sie waren Drückeberger, einer wie der andere, jawohl!"
"Abgehauen?"
"Paß mal auf", sagte Margo und rückte ganz nahe an den anderen heran. "Als mein Vater damals starb, da sind die anderen - glaube ich - drauf gekommen, daß es drüben viel schöner ist. Darum haben sie sich aus dem Staub gemacht."
"Drüben?"
"Naja, hinterher, weißt du? Im Himmel, oder wie immer man das nennen will."
"Glaubst du daran?"
"Weiß ich nicht. Ich meine, wenn es stimmt... Aber das Risiko ist mir zu groß. Die anderen waren sich alle so sicher. Vielleicht liegt es daran, daß ich noch so jung war. Irgendwas ist passiert. Die anderen haben es begriffen. Bloß ich hab´s nicht kapiert. War einfach noch zu klein dazu."
"Irgendwann begreift es jeder ."
"Wirklich?"
"Sicher. Sieh mal, hier hast du sowieso nichts zu erwarten, stimmt's? Es gibt nichts zu tun. Wer hat denn schon das Glück, einen Job zu erwischen! Du hast es geschafft - aber nur, weil ein anderer für dich Platz gemacht hat. Die Welt wird allmählich zu eng für uns, und die ewige Langeweile ist doch schrecklich. Wir müssen Opfer bringen, damit der Nachwuchs eine Chance hat."
"Von der Seite habe ich das noch gar nicht gesehen", gab Margo zu. "Wenn ich bloß wüßte, ob da drüben wirklich etwas ist! Ich habe manchmal Angst, weißt du? Ich stelle mir vor, daß die anderen sich geirrt haben, und in Wirklichkeit kommt gar nichts mehr, und es ist aus, vorbei, für alle Zeiten. Aber wenn es doch weitergeht - vielleicht finde ich sogar meine Leute. Denen würde ich was erzählen!"
Der andere schwieg und sah sich nach allen Seiten um.
Die Kneipe war hoffnungslos überfüllt. Niemand achtete auf die beiden Männer. Der Fremde lächelte ein wenig traurig, als er sah, daß heute nur junge Leute da waren. Er war der einzige, dessen Haar schon grau war.
Man mußte den Zeitpunkt der Entscheidung immer weiter vorverlegen. Die, die nach drüben gingen, wurden immer unreifer, und das bekam der anderen Welt nicht, und sie quoll ebenfalls von Menschen über, die wiederkamen und noch früher zurückgeschickt werden mußten.
Gab es einen Ausweg?
Er hatte die Hoffnung fast verloren. Dieses wirre Hin und Her, dieses hektische Wechseln von Leben zu Tod und Tod zu Leben in zwei endlichen Welten, die sich auf bedrückende Weise immer ähnlicher wurden, machte ihn mutlos. Er wußte, daß das System einen Fehler hatte. Aber er konnte ihn nicht beseitigen.
Er konzentrierte sich hastig aus sein augenblickliches Problem. Margo war überfällig. Er störte die Ordnung.
"Du mußt mir versprechen, daß du es für dich behältst", sagte er zu Margo. "Ich habe gestern einen getroffen, der zurückgekommen ist."
Margo starrte ihn mit offenem Mund an.
"Er hat mir alles genau beschrieben", fuhr der Fremde fort. "Er sagt, es ist herrlich dort, und er will so schnell wie möglich wieder hin."
"Wenn's weiter nichts ist..."
"So einfach ist das nicht. Er sagt, daß er zu kurze Zeit dort war, und jetzt gibt es eine Sperre, die ihn festhält. Er muß ein paar Jahre warten, ob er will oder nicht."
Margo war ein bißchen benebelt und dadurch genau in der richtigen Stimmung, um dem Fremden zu glauben.
"Wer den Zeitpunkt verpaßt", fuhr der Grauhaarige fort, "der sitzt fest und schafft es vielleicht nie."
Margo nickte, stand leicht schwankend auf und legte dem Fremden schwer die rechte Hand auf die Schulter. Dann ging er hinaus in die Nacht.
Ging, um es seiner Mutter und seinen Geschwistern gleichzutun.
Er schluckte die Tabletten und schlief ein. Nach einer Weile tauchte er in einen langen, dunklen Tunnel, und er fühlte sich sehr wohl. Vor ihm war helles Licht. Er trieb darauf zu und verschmolz mit der Helligkeit, und um ihn herum waren nur Wärme und Wohlbehagen.
Neun Monate später schrie ein Baby, hochrot im Gesicht, kläglich, wütend und enttäuscht, mit geballten Fäusten, wie fast alle Babys es nach ihrer Geburt zu tun pflegen.
Das neue Leben löschte die Erinnerung an das Drüben aus, an das hoffnungslos überfüllte Paradies, das längst keines mehr war. Nur ein bohrendes Unbehagen blieb zurück, die unbestimmte Ahnung, betrogen worden zu sein...