In Bezug auf die Clockpunk-Anthologie war meine Aussage damals etwas unfair und überzogen, im Kern würde ich aber noch dazu stehen.
Ich habe gerade auch deswegen einen neuen Thread gestartet, weil ich der Emotionalität dieses Themas entkommen und Dich nicht angreifen wollte. Vielleicht hätte ich Quelle Und Autor der Aussage nicht angeben sollen... Auf jeden Fall vielen Dank für Deine ausführlichen Antworten, dadurch habe ich Deinen Standpunkt verstanden - auch wenn ich nicht unbedingt mit Deinen Schlußfolgerungen übereinstimme.
Allerdings bin ich nur Leser, kann also nur von mir selbst versuchen Schlußfolgerungen zu ziehen. Erfahrungen auch Buchhandel oder Verlagswesen wären da sicher hilfreich.
Wahrscheinlich stammt meine Abneigung gegen Etiketten vor allem aus der Arbeit im Buchhandel, wo man doch sehr oft damit konfrontiert wird, dass LeserInnen ein Buch von vorneherein ablehnen, weil es bestimmte Genrekriterien nicht exakt erfüllt, die sie im Kopf haben.[...]
Ich glaube, die Etikettierungswut trägt zu dieser Haltung bei: Ein neues Subgenre wird "entdeckt", ein bestimmter Satz von eigentlich völlig oberflächlichen Elementen (Uhrwerke, Elfen, Vampire, Dampfmaschinen) wird ihm zugeordnet, und ein "richtiger" Roman des Subgenres ist dann einer, der sich möglichst genau an das vorgegebene Inventar hält. Ich habe den Eindruck, dass viele Leser sich dadurch in der Annahme bestärkt fühlen, dass man die Qualität von Romanen anhand von oberflächlichen Merkmalen (auftauchen von Drachen, Elfen, Uhrwerken, oder, in der SF: Wissenschaftliche Korrektkeit) beurteilen könnte, bzw. etwas abgeschwächter, dass die Qualität eines Romans als Werk innerhalb eines bestimmten Subgenres sich objektiv darüber bestimmen ließe, inwieweit er die Elemente enthält, die man im entsprechenden Subgenre vorzufinden erwartet.
Ich glaube, daß genau umgekehrt ein Schuh draus wird: Leser wollen etwas bestimmtes lesen, weil ihnen ein entsprechendes Werk gut gefallen hat (was an sich ja wenig über die Qualität des Werkes und viel über die Qualität des Lesers aussagt
) und suchen dann gezielt danach. Label/Bezeichner/Subgenres werden dann von den Lesern erfunden, um Werke zu bezeichnen, die bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Bezeichner werden dann von der Verlagsindustrie aufgegeriffen, um die Leser gezielt an ihre Lektüre zu führen - meiner Meinung nach grundsätzlich zu beiderseitigem Nutzen, solange die Bezeichner korrekt verwendet werden. Auch die vorausschauende Erfindung neuer Bezeichner ist aus meiner Sicht zu beiderseitigem Nutzen, da auf diese Weise dem Leser eine Entscheidungserleichterung geboten wird. Aus meiner Sicht ist es letztlich unerheblich, ob bei Nichtgefallen der Leser nun sagt, daß Vampire in Steampunk seiner Meinung nach nicht reinpassen oder daß Vampire in die Geschichte seiner Meinung nach nicht reinpassen. Es handelt sich um den persönlichen Geschmack des Lesers, der meiner Meinung nach vom Label nicht verändert wird - mein Geschmack ist jedenfalls labelunabhängig.
Mag sein, daß ich da die Ausnahme bilde...
Gerade an Rezensionen merkt man m.E. oft, dass Rezensenten ein Buch als schlecht abqualifizieren, weil es nicht exakt dem Schema eines bestimmten Subgenres folgt.
Das ist einfach eine schlechte Rezension. Ich bemühe mich (hoffentlich erfolgreich), das Werk als solches zu besprechen. Wenn da ein meiner Meinung nach unzutreffendes Label draufpappt, weise ich darauf natürlich hin, aber das ändert an meiner Bewertung des Werks nichts. Es kann natürlich sein, daß ich durch den Etikettenschwindel ein Werk gelesen habe, das meinen Geschmack nicht trifft und das ich bei korrekter Einsortierung nie gelesen hätte. Solch ein Werk wird von mir eine eher negative Besprechung erhalten, aber nicht aufgrund des falschen Labels, sondern weil es mir nicht gefallen hat. (Ich weiß, daß meine Rezis subjektiv sind. Ich versuche, möglichst objektiv zu bleiben, aber ich sehe mich außerstande, Kunst rein objektiv zu beurteilen, da es nach meiner Ansicht das Wesen der Kunst ist, subjektiv konsumiert zu werden).
Mag sein. Trotzdem halte ich die gegenwärtige Tendenz in der SF/Fantasy, aus jeder neuen Setting-Idee gleich wieder ein neues Genre machen zu wollen, für ungut, unabhängig, davon, wie lange diese Etikettierung denn bestand hat: Sie führt meiner Meinung nach nämlich auch dazu, dass viele AutorInnen übertrieben auf oberflächliche Gimmicks achten, entweder, weil sie für ein bestimmtes Genre schreiben wollen oder weil sie gerne ein bestimmtes Genre neu erfinden wollen. Da wird Energie an der falschen Stelle investiert: Der Ansatz "ich schreibe mal was Viktorianisches mit Uhrwerken" ist im Prinzip nicht besser und nicht schlechter und auch nicht kreativer als "ich schreibe mal was Interplanetares mit Raumschiffen" oder "ich schreibe mal was, wo der Gute ein Dunkelelf ist". Ich habe oft den Eindruck, dass sich AutorInnen und LeserInnen genau über diesen Kram den Kopf zerbrechen, den ich für völlig zweitrangig halte.
Tolle Autoren wie Samuel Delany erfinden eben nicht unbedingt neue Genres, die greifen einfach z.B. wie in "Neveryona" Sword & Sorcery und machen etwas Eigenes damit. Das, was daran neu und anders ist, lässt sich meistens eh nicht durch die Einführung einer neuen Unterkategorie erfassen.
So wie ich es verstehe, widerlegst Du Dich gerade selbst.
Ein Autor, der die Konformität zu irgendwas in den Vordergrund stellt anstatt die Geschichte, die er erzählen will, geht meiner Meinung nach falsch vor (ich will nicht so weit gehen, daran grundsätzlich schlechte Autoren zu erkennen). Die Geschichte sollte im Mittelpunkt stehen, der Bereich, zu dem sie dann gehören wird, entwickelt sich dann daraus. Die Einsortierung des Werks in Genre(s) gehört ans Ende des Prozesses, nicht an den Anfang. Wenn freilich der Verlag den Autor zu so etwas zwingt oder der Autor meint, sich einem solchen Zwang unterwerfen zu müssen (solche Zwänge können auch von Lesern ausgehen, die vom Autor immer wieder ähnliche Werke haben wollen statt zu akzeptieren, daß ein Autor auch Anderes kann und möchte), dann liegt hier tatsächlich ein Schaden vor. Ich bezweifle aber, daß das Label Ursahe des Schadens ist, denn meiner Meinung nach ist die Ursache der Wunsch nach ähnlichem Lesefutter, das Label allerhöchstens ein Indikator für diesen sowieso vorhandenen Trend.
Nun ja … Verne war sicher enorm einflussreich. [...] Die langen populärwissenschaftlichen Ausführungen sind doch ziemlich bemühend.
Und gerne mal falsch, selbst nach dem Kenntnisstand der damaligen Zeit...
Ich sehe durchaus Potenzial für einen Schaden. Zumindest für mich als Leser. Ich kann mir nämlich gut vorstellen, dass es nicht wenig Autoren gibt, die beim Schreiben immer diese Labels im Kopfe haben und sich dadurch einschränken lassen. Ebenso gibt es sicherlich auch Vorgaben der Verlage oder Agententen in die Richtung, "das muss Raus, dass würde die Hardcore-SF-Mantasyleser nicht aktzeptieren" oder "mit diesen Elementen wissen wir nicht, wie wir es vermarkten sollen".
Ich verstehe, was Du meinst, glaube aber, daß dieser Schaden durch den Wunsch nach Ähnlichem entsteht, nicht durch das Label, das darauf gepappt wird, um dem Leser diese Ähnlichkeit zu vermitteln. Um diese Problematik zu entschärfen, müßten den Lesern Erwartungshaltung und persönlicher Geschmack abgewöhnt werden. Ich bezweifle, daß das eine gute Idee wäre...
Das Problem sind in meinen Augen nicht die Leser, sondern das "System", so geschwollen das jetzt auch klingen mag. Es ist ja z.B. schön, wenn die Leute Spannung wollen - dummerweise bekommen sie unter den verschiedenen Labels der Spannungsliteratur aber gerade das nicht, weil die Autoren offenbar zu beschäftigt sind, im Auftrag ihrer Agenten Checklisten abzuhaken, anstatt mal einen knackigen Spannungsbogen zu entwickeln. Es geht mir hier gar nicht um high-brow vs. low-brow, es geht darum, dass (selbstverständlich) versucht wird, gleich eine ganze Marke zu verkaufen anstelle des einzelnen Produkts. Gerade die kleinen versuchen das dann oft um so nachdrücklicher, um dadurch irgendwie eine relevante Position im Gesamtmarkt behaupten zu können.
Prinzipiell hast Du recht, aber erneut ist nicht das Label Ursache, sondern der Leser, denn die Leserschaft ist immanenter Bestandteil des "Systems" - bedienen Autor und Verlag die Wünsche der Leserschaft nicht, verkaufen sie nichts. Ich gebe Dir aber recht, daß sich in diesem "System" eine Feedbackschleife entwickeln kann, der das Label als Verstärkungsfaktor oder gar als Auslösefaktor dient. Auf Deutsch: Die Existenz des Labels könnte dazu führen, daß mehr Leser Werke mit diesem Label kaufen, woraufhin dann weitere Autoren/Verlage am Erfolg dieses Labels teilhaben wollen und sich dadurch eine Art Hype aufschwingt. Ich bezweifle aber, daß das Label bzw. seine Existenz einen sonderlichen Einfluß auf diesen Hype hat, da dieser einen Bedarf der Leserschaft wiederspiegelt und sich daher auch ohne Label entwickeln würde (dann hieße es eben "das Buch ist so ähnlich wie..."). Die Intensität mag durch das Label erhöht werden, der grundsätzliche Effekt ist aber meiner Meinung nach davon unabhängig.
Hm. In dem Augenblick, in dem ich einem Roman ein Lapel aufdrücke - Steampunk als Beispiel - mache ich ihn für alle interessant, die sich dafür interessieren. Und für alle anderen uninteressant. Ohne Label ist vielleicht schlauer (dass man ein Stückweit im Klappentext immer etwas raus lassen muss, okay, und eine Unterteilung in SF, Fantasy und Horror ist vielleicht so doof auch nicht; aber sonst würde ich das eher nicht gut finden).
Ich glaube, es ist genau umgekehrt, denn ob ein Buch für einen Leser interessant ist, liegt ja nicht am Label, sondern am Geschmack des Lesers. Wenn ein Roman das korrekte Label trägt, haben die Leser, die an dieser Art Geschichte interessiert sind, eine größere Chance, das Buch zu finden und zu kaufen, sowie diejenigen, die sowas nicht mögen, die Chance, das Buch und somit einen Fehlkauf zu vermeiden. Ein Fehlkauf ist meiner Ansicht nach für Autor und Verlag schlimmer als ein nicht verkauftes Buch, denn der Fehlkauf führt leicht zu negativer Propaganda, und negativ besetzte Emotionen bleiben stärker im Gedächtnis haften als positive. Diejenigen, die zum verwendeten Label keine Meinung haben, werden (jedenfalls ist es bei mir so) durch das Label eher neugierig gemacht als wenn überhaupt nicht erkennbar ist, in welche Kategorie das Buch gehört. Ich kann längst nicht alles lesen, was an möglicherweise interessantem Stoff erscheint. Kann ich also ein Buch nicht sofort als mit hoher Wahrscheinlichkeit für mich geeignet identifizieren, bleibt es ungekauft, da es genügend anderes Material gibt und ich keine Lust habe, meine knappe Freizeit mit etwas zu verschwenden, das mir nicht gefält.
Bestimmte Labels halte ich für notwendig und finde ihr Fehlen ärgerlich. Aber eigentlich nur in Bezug auf den Besuch von echten Buchhandlungen. Dort möchte ich im SF-Regal genau das finden und keine Krimis. Den Großteil meiner Lektüre wähle ich aber inzwischen nach den Labels aus, die ihr durch Internet-Quellen verliehen wurden, etwa durch dieses Forum.
Ich halte die Labels auch in Internetbuchhandlungen für notwendig - ob ich nun persönlich oder online stöbere, die Frage ist in beiden Fällen dieselbe: Wird mir dieses Buch gefallen? Die möchte ich schnell und ohne großen Aufwand mit hinreichender Sicherheit beantworten können. Ist das nicht möglich, wird das Buch halt nicht gekauft, ews gibt ja genügend andere, die sich weniger unfreundlich verhalten. Ich sehe es als Dienstleistung am Kunden, eine Ware leicht einschätzbar zu präsentieren.
Bestes Beispiel für unnötige Labels ist ja gerade "Steampunk". Es beschreibt eher ein technologisches Setting als die literarische Herangehensweise.
Das halte ich für eine äußerst gewagte Behauptung. "Steampunk" ist ebenso ein auf den *Inhalt* bezogenes Label wie "SF", "Space Opera" etc, nur mit enger gezogenen Grenzen. Keines dieser Label sagt estwas über die literarische Herangehensweise aus, dafür müßtest Du nicht Literaturgenres, sondern Literaturgattungen verwenden (und die gehen dann quer durch sämtliche Genres).
Aber sie können auch eine Orientierung sein. Für den Autor, er weiß somit was erwartet wird. Für den Verlag, der abschätzen kann, ob das etwas für ihn und seine Schiene ist und wie er es bewerben soll. Für den Käufer / Leser, der mit einem knackigen Begriff überhaupt erstmal auf dahin gebracht wird, den Klappentext und vielleicht auch im Buch zu lesen.
Genau.
[...]das Problem ist nur, dass ich, wenn ich Sätze wie "Die erste deutschsprachige Clockpunk-Anthologie" höre, ich mich an Sätze erinnert fühle wie: "Neu: Jetzt mit 17% mehr Schoko-Chunks" oder "Sie sparen 23%"! Ich finde das in den meisten Fällen einfach nur aufdringlich.
Da hast Du in der Tat recht. Aufdringlich ist das. Das ist das Wesen der Werbung...
Ein mir wichtiger Punkt ist, daß ein Werk durchaus mehr als einem Subgenre angehören kann und dann auch entsprechend gekennzeichnet werden sollte. Das würde auch die Notwendigkeit der ständigen Erfindung neuer Bezeichner verringern - Horror und Romanze statt "Dark Fantasy".
Ich möchte mich bei allen Diskutanten für ihre Beiträge bedanken, ich habe jetzt verstanden, warum Genrelabel als schädlich wahrgenommen werden können. Persönlich stimme ich dieser Wahrnehmung nicht zu, da nicht das Label die Ursache der Probleme ist, sondern die Gesamtheit der Leserschaft und ihr Wunsch nach neuem Lesestoff, der bereits bekannten und für gefällig befundenen Werken ähnlich sein soll. Um diesem Problem entgegenzuwirken, müßte im Leser Neugierde auf etwas neues entfacht werden, das Entfernen der Label hätte dagegen meiner Meinung nach nur Unzufriedenheit beim Kunden zur Folge.
Bearbeitet von Martin Stricker, 18 Januar 2012 - 20:26.