Geschrieben 23 April 2012 - 08:41
Puh, ich bin auch ein bisschen geschockt, dass MKI und Anzubizz hier allein für die Vernunft eintreten müssen. Ich habe mir beim Durchlesen schon einen Haufen gedanklicher Notizen gemacht.
Das fängt schon dabei an, dass Leibowitz am Anfang des Threads auf die Idee kommt, aus einer (noch dazu eher fragwürdigen Behauptung darüber), wie die Natur etwas eingerichtet habe, die Rechtfertigung für ein staatliches Inzestverbot herzuleiten. Sollte die Gesellschaft nicht gerade die Emanzipation vom Naturzwang sein, d.h. der Ausdruck der Fähigkeit des Menschen, auf seine Natur zu reflektieren und sich auch anders zu verhalten? Und entlarvt sich ein Naturbegriff, der hergenommen wird, um durch ihn Sitten, also etwas zutiefst Gesellschaftliches zu rechtfertigen, nicht ohnehin schon als bloß Rechtfertigungsstrategie zur Durchsetzung von bestimmten Moralvorstellungen?
Das Tolle am Menschen und seiner Gesellschaftsfähigkeit ist doch, dass er sich in jedem Einzelfall entscheiden kann, auf das, was ihm als seine Natur erscheint, zu pfeifen und stattdessen ethisch zu handeln - also den anderen z.B. nicht einfach der Not zu überlassen. Das fremde Wünschen und Begehren zu tolerieren, selbst, wenn es einem "unnatürlich erscheint".
Andere haben dagegen scheinbar eine Vorstellung von der Gesellschaft, bei der diese nur dazu da ist, Naturzwang zu verabsolutieren und die Menschen gemäß ihrer von ihnen imaginierten "Natur" zuzurichten. "Die Natur hat Inzest nicht gewollt" (als ob die Natur etwas "wollen" könnte), "und wo der Mensch versagt, muss der Staat eingreifen und ihn bestrafen, zurichten oder eliminieren." Darauf läuft die Argumentation des "Natürlichen" doch letztlich immer heraus. Nun hat die Natur auch keine Antibiotika gewollt, die gibt es allein deshalb, weil der Mensch als reflektierendes, experimentierendes Wesen sich auf sie zurückgewandt und begonnen hat, sie als Mittel zur Steigerung des menschlichen Glücks zu begreifen (mit "begreifen" meine ich nichts quasireligiöses, als hätte die Natur eine derartige Zweckbestimmung, ich meine den Wortsinn: Der Mensch greift in einer bestimmten, ihm eigenen Weise auf die übrige Natur zu).
Um hkoerners Frage zu beantworten: Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Zum Beispiel, dass er die Möglichkeit hat, darauf zu reflektieren, ob Inzest an sich den Individuen Schaden zufügt oder nicht und ob die Gesellschaft deshalb das Recht hat, ihn prinzipiell zu untersagen oder nicht. Jeder vernunftbegabte Mensch sollte nun erkennen, dass Inzest an sich genau wie alle möglichen anderen Sexualpraktiken an sich niemandem schadet. Schaden wird vor allem zugefügt, wenn expliziter oder impliziter Zwang besteht. Für solche Fälle gibt es andere Gesetze. Die Strafbarkeit von Inzest ist nicht nötig, um Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch in der Familie zu verfolgen und zu bekämpfen.
Der Mensch hat die wunderbare Fähigkeit, sich in dem anderen zu sehen - auch in dem Bruder und der Schwester, die einander lieben und miteinander Kinder zeugen. Er kann sich mit ein wenig Vorstellungskraft ausmalen, in ihrer Lage zu sein, er kann in der Folge ihr Leben als lebenswert, ihre Wünsche als legitim begreifen, solange es keine Wünsche sind, die anderen Menschen Schaden zufügen. Das unterscheidet den Menschen vom Tier. Er kann sich dieser Fähigkeit natürlich auch verschließen und solche Menschen zu Missetätern oder schlimmer noch, zu Irrtümern der Natur erklären (und plötzlich ist da eine maßlose Arroganz gegenüber der Natur, die doch gerade noch als höchste Autorität angerufen wurde - jetzt sagt man der Natur mit einem mal, wie sie sich richtig zu verhalten habe), danach streben, sie zu verfolgen und auszumerzen, nur um nicht in Gefahr zu geraten, sich selbst auch nur ansatzweise mit ihnen zu identifizieren (Das ist ja der klassische Modus der Homophobie - wenn man es nicht ertragen kann, durch Menschen, die homosexuelle Wünsche offen ausleben, an die eigenen homosexuellen Wünsche erinnert zu werden, muss man sie eben "wegmachen". Die beste Literatur dazu ist immer doch Theweleits "Männerfantasien" zur faschistischen Homosozialität). Die Konsequenz ist Verpanzerung und Menschenfeindlichkeit.
Ich bin nicht "für Inzest" und nicht "gegen Inzest", sondern dafür, dass Menschen ihre sexuellen und anderen Wünsche gemeinsam - als soziale, aneinander anteilnehmende, gegenseitig ihre Bedürfnisse achtende Personen - ausleben. Ich bin dagegen, dass andere sich anmaßen, der menschlichen Kommunikation und Anteilnahme unter Berufung auf Natur, Sitten, Kultur oder Tradition einen Riegel vorzuschieben.
Und was hkoerners Klagedrohungen betrifft: Lustig, wie so etwas wirklich immer von denjenigen kommen, die sich damit schmücken "unbequeme" und "verfolgte" Meinungen zu vertreten. Die Fantasie, dass man zensiert würde, schlägt immer unglaublich schnell in den Wunsch nach Zensur um. Wenn einer den rassistischen Dreck, den Herr Koerner verzapft, als solchen bezeichnet, fühlt er sich gleich verfolgt und reagiert seinerseits mit der Drohung, verfolgen zu lassen. Da scheint die gleiche paranoide Ambivalenz zugrundezuliegen, die schon die Nazis umtrieb: dem imaginierten Feind unterstellt man eine bedrohliche Allmacht, die man sich eigentlich selbst wünscht. So, wie ich das verstehe, stört hkoerner an "Zensur" ja vor allen Dingen, dass er sie nicht ausüben kann, weil seine Klagedrohungen so wenig Aussicht auf Erfolg haben.
"If the ideology you read is invisible to you, it usually means that it’s your ideology, by and large." R. Scott Bakker
"We have failed to uphold Brannigan's Law. However I did make it with a hot alien babe. And in the end, is that not what man has dreamt of since first he looked up at the stars?" - Zapp Brannigan in
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