David Mitchell - Chaos (ab 20.09.)
#31
Geschrieben 25 September 2013 - 17:47
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
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#32
Geschrieben 25 September 2013 - 18:13
Ich relativiere gar nichts. Aber offensichtlich kann ich meine Position nicht verständlich machen.Frag mal die zahllosen Opfer der Menschheitsgeschichte, ob sie deinen Relativismus ebenso teilen.
Weder durch deine noch durch meine Haltung ändert sich etwas auf der Welt.
Die Identifizierung mit den Opfern ist natürlich sehr anziehend, weil man dann automatisch auf der Seite der GUTEN ist und somit ein guter Menschen. Das ist positiv für das Selbstbild. Aber die GUTEN brauchen natürlich die BÖSEN um sich positiv gegen sie abzusetzen.
Vielleicht ist es sinnvoll mal einen Schritt zurück zu treten und sich die ganze Komplexität anzuschauen und die Kette von Handlungen, die schlussendlich zu schlimmen Taten führt. Nur einen Ausschnitt zu sehen und mit einem Gut-Böse-Schema zu beurteilen finde ich sehr kurzsichtig.
Die Episoden 1, 3 und 4 von Mitchell lassen auch weniger GUT und BÖSE erkennen, sondern die umfassenden Folgen menschlicher Dummheit. Dummheit bedingt durch die Identifizierung mit schwachsinnigen Ideologien, die nicht hinterfragt werden.
Mitgefühl mit den Opfern ist bei mir vorhanden und ein trauriges Gefühl angesichts des tragischen Ausmasses menschlicher Dummheit, die diesen Planeten beherrscht.
#33
Geschrieben 25 September 2013 - 18:38
Mir geht es darum, das Leid in Welt zu vermindern und die Grausamkeiten, die Menschen einander antun abzuschaffen. Katastrophen bei den keine Menschen beteiligt sind gibt es genügend und wird es immer geben, da müssen wir Menschen nicht noch zusätzlich unseren Beitrag leisten.
Und das unsere Haltung daran nichts ändern kann, ist einfach nicht wahr. Sonst gäbe es keinen Fortschritt in der Zivilisierung der Menschheit. Und den glaube ich historisch zu beobachten. Auch wenn die Grausamkeiten des 20. Jahrhundets dem scheinbar Hohn sprechen. Steven Pinker hat ein Buch verfasst (Gewalt), in dem er nachweist, dass die Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte abgenommen hat. Deshalb würde ich behaupten, dass es einen Zivilisierungsprozess gibt. Europa seit dem zweiten Weltkrieg ist das beste Beispiel.
LG Trurl
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#34
Geschrieben 26 September 2013 - 00:08
Ja. Siehe meine Einleitung.Ich relativiere gar nichts. Aber offensichtlich kann ich meine Position nicht verständlich machen.
Dem widerspreche ich. Eine Einzelmeinung ändert natürlich nichts. Sehr viele dagegen schon.Weder durch deine noch durch meine Haltung ändert sich etwas auf der Welt.
Man muss die Sache auch im historischen Rahmen sehen. Man kann doch nicht bestreiten, dass wir heute in Europa in einer unglaublich toleranteren und liberaleren und damit fortschrittlicheren Gesellschaft leben als beispielsweise dem Mittelalter, oder selbst der Welt des 19. Jahrhunderts. Ja sogar in den letzten 30, 40 Jahren, eine Zeit die ich bereits überblicke, hat sich viel getan.
Mit den Opfern muss man sich nicht deshalb solidarisieren, weil sie die Guten sind (das ist nicht notwendigerweise der Fall), oder weil man sich damit selbst eine gutes Gewissen verschafft (das ist nur ein positiver Nebeneffekt), sondern weil die Opfer diejenigen sind die leiden und die Gesellschaft die moralische Pflicht hat sie vor denen zu schützen, die sie leiden lassen. Dass man die dann die Bösen nennt, ist nur eine Definitionsfrage.Die Identifizierung mit den Opfern ist natürlich sehr anziehend, weil man dann automatisch auf der Seite der GUTEN ist und somit ein guter Menschen. Das ist positiv für das Selbstbild. Aber die GUTEN brauchen natürlich die BÖSEN um sich positiv gegen sie abzusetzen.
Kein Einwand meinerseits. Aber man sollte die Menschen nach ihren Taten beurteilen. Natürlich spielen da auch Motive eine Rolle und vor Gericht wird das Motiv einer Tat auch immer berücksichtigt. Es ist doch nicht so, dass die Umstände eines Verbrechens keine Rolle spielen.Vielleicht ist es sinnvoll mal einen Schritt zurück zu treten und sich die ganze Komplexität anzuschauen und die Kette von Handlungen, die schlussendlich zu schlimmen Taten führt. Nur einen Ausschnitt zu sehen und mit einem Gut-Böse-Schema zu beurteilen finde ich sehr kurzsichtig.
Trotzdem: eine stabile menschliche Gesellschaft ohne einheitliche und verbindliche Moralvorstellungen, ohne eine gemeinsame Vorstellung darüber, welche Handlung erlaubt oder nicht erlaubt sind, welche Richtig oder Falsch, Gut oder Böse sind, was Recht oder Unrecht ist, ist mMn. nicht denkbar.
Ich will unsere Diskussion nicht endlos weiterführen. Ich glaub auch dich nun einigermaßen zu verstehen.
Aber vielleicht lesen wir ersteinmal weiter.
LG Trurl
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#35
Geschrieben 26 September 2013 - 01:29
Austriae Est Imperare Orbi Universo
#36
Geschrieben 26 September 2013 - 04:39
Denn dadurch ist mir eines schlagartig klar geworden, was ich versucht habe die ganze Zeit zu verdrängen - nämlich, dass der Typ schlicht verrückt ist. Oder genauer - vermutlich an einer wahnhaften Persönlichkeitsstörung leidet (siehe hier). Ich habe zwar unbewusst schon die ganze Zeit eine ähnliche Vermutung gehabt, mich aber geweigert dies so zu sehen, weil ich daran festhielt, Tanaka als selbst verantwortlichen, gesunden Menschen zu sehen, der "nur" eine etwas verzerrte Wirklichkeitsaufassung besitzt. Wenn ich mir aber noch einmal seine Gedanken Revue passieren lasse, muss ich doch zum Schluss kommen, dass diese Verzerrung der Wahrnehmung bereits weit von der Norm entfernt ist. Beharrt er doch immer noch unbeirrt weiter auf seinem Glauben, selbst als fast alle seine Sektenmitglieder, außer seinem Meister, verhaftet sind, und sie sich bereits gegenseitig beschuldigen. Im Gegenteil. Er nimmt sogar noch telepathischen (!) Kontakt zu seinem Meister auf und spricht mit ihm durch einen Hund. Selbst die harmlosen Inselbewohner, die ihm weiterhin freundlich und unschuldig begegnen, werden misstrauisch beäugt, und er fühlt sich bereits ertappt. Siehe die letzte Szene, als er denkt, er wäre bereits überführt, als ihn ein freundlicher Inselbewohner nur mit dem Auto mitnehmen möchte.
Unter dem Aspekt einer krankhaften psychischen Störung ergeben seine merkwürdigen Gedanken aber einen Sinn. Auch die beunruhigende Empathielosigkeit, mit der er die Mutter und ihr kleines Kind in der U-Bahn betrachtet, die doch gleich seinem Gasattentat zum Opfer fallen werden, erklärt sich mit seiner Krankheit.
Wie konnte ich das nur übersehen? Vermutlich, weil ich diesen Menschen einfach nicht leichtfertig zum kranken Irren stempeln wollte und weil diese Reaktion einfach die natürlichste ist, die einem sofort durch den Kopf schießt, wenn man den Text liest.
Welche Konsequenzen hat diese Interpretation? Zunächst die, dass Susanne in dem Sinne recht hat, den Typ nicht als bösen Menschen zu kategorisieren. Er ist einfach nur krank. Auch wenn er aufgrund seiner psychischen Störung unfassbar böse Dinge tut (ich bestehe darauf ). Zweitens muss ich David Mitchell bewundern, mit welchem Einfühlungsvermögen er diese wirre Gedankenwelt schildert und dass ich diese subtile Schilderung nicht sofort durchschaut und gewürdigt habe.
LG Trurl
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#37
Geschrieben 26 September 2013 - 06:41
#38
Geschrieben 26 September 2013 - 07:51
Trurl, ich bin neugierig, ob die letzten Kapitel Deine Einschätzung des 1. Kapitels erneut leicht revidieren werden.
Nur so viel: Meiner Meinung nach wirft Mitchell in diesem Buch (wie auch später in Cloud Atlas) die große Frage nach Schicksal (alias Gott alias demiurgische Mächte) und dem freien Willen auf, natürlich ohne sie zu beantworten. Das muss der Leser für sich selbst leisten.
Oder anders formuliert: Kann die Weltsicht des "Irren" aus Kapitel 1 wahr sein und er aber trotzdem wahnsinnig sein?
Faszinierend finde ich Komplexität die in den verschiedenen Innenansichten der Figuren besteht.
In Kapitel 5 besonders intensiv. Die zwingende Kraft der Beeinflussung und die leichte Beeinflussbarkeit der Menschen. Macht es einen Unterschied ob diese Einflüsterungen von einer fremdem Kraft im Inneren, einer fremden Kraft aus dem Äußeren oder aus der Macht ideologischer Phrasen kommen?
Satoru (2), die Frau (4) und das Wesen (5) scheinen immun gegen solche Einflüsterungen zu sein. Sie haben offensichtlich Zugang zu einer inneren Instanz, die es ihnen möglich macht sich nicht manipulieren zu lassen und ihren eigenen Wegen zu folgen.
Suchbaatar ist noch mal eine andere Kategorie. Vor einiger Zeit habe ich ein Buch über Psychopathen gelesen und gestern einen Zeitungsbericht darüber. Menschen ohne Einfühlungsvermögen, ohne Gewissen, aber mit Macht-Ambitionen. Viele mächtige Männer unserer Gesellschaft gehören in diese Kategorie.
Das Buch hatte den Titel "Politische Ponerologie - Eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke" von Andrzej Lobaczewski.
Und hier ist der Zeitungsartikel von gestern:
http://www.spiegel.d...t-a-924052.html
Bearbeitet von Susanne11, 26 September 2013 - 07:57.
#39
Geschrieben 26 September 2013 - 08:23
Bis zu einem gewissen Grad, wobei ich mir auch da unsicher bin: Die Frau (4) zieht ja einen Teil ihrer Kraft aus dem trost, den ihr der Essigbaum gibt. Der wiederum sich ja in (5) als etwas ganz anderes herausstellt, bis zu dem Punkt, an dem ich mich fragte, ob nicht auch sie "nur" manipuliert worden ist - und wo die Grenze zwischen "guter" Hilfe und "böser" Manipulation verläuft. Dieses Thema wird ja in (5) noch öfter aufgegriffen, denn die Handlungen des Wesens sind - obwohl eigentlich oft gutwillig motiviert - zuweilen mit katastrophalen Auswirkungen behaftet.[...]
In Kapitel 5 besonders intensiv. Die zwingende Kraft der Beeinflussung und die leichte Beeinflussbarkeit der Menschen. Macht es einen Unterschied ob diese Einflüsterungen von einer fremdem Kraft im Inneren, einer fremden Kraft aus dem Äußeren oder aus der Macht ideologischer Phrasen kommen?
Satoru (2), die Frau (4) und das Wesen (5) scheinen immun gegen solche Einflüsterungen zu sein. Sie haben offensichtlich Zugang zu einer inneren Instanz, die es ihnen möglich macht sich nicht manipulieren zu lassen und ihren eigenen Wegen zu folgen.
Davon hatte ich auch schon gehört, das ist etwas, das ich für plausibel halte. John Brunner schrieb ja einmal: "Wenn es ein Phänomen wie das absolut Böse [irgendwie kommen wir immer wieder auf das Thema ;) ] überhaupt gibt, dann besteht es darin, einen Menschen wie ein Ding zu behandeln."Suchbaatar ist noch mal eine andere Kategorie. Vor einiger Zeit habe ich ein Buch über Psychopathen gelesen und gestern einen Zeitungsbericht darüber. Menschen ohne Einfühlungsvermögen, ohne Gewissen, aber mit Macht-Ambitionen. Viele mächtige Männer unserer Gesellschaft gehören in diese Kategorie.
Dieses Zitat passt als Motto zu Mitchells Roman, aber es passt auch zu ewigen Überlegungen über das Wesen der Macht. Denn Macht ausüben (im Sinne von regieren) heißt oft, beteiligte Menschen in abstrakteren Kategorien wahrzunehmen, sie eben nicht (ganz) als Menschen zu behandeln. Offenbar gibt es eine Form von psychischer Besonderheit, die dieses manchen Leuten leichter macht.
#40
Geschrieben 26 September 2013 - 08:38
Satoru bezieht seine Kraft aus dem Jazz. (Seit dem 2. Kapitel höre ich von morgens bis abends Miles Davis).Bis zu einem gewissen Grad, wobei ich mir auch da unsicher bin: Die Frau (4) zieht ja einen Teil ihrer Kraft aus dem trost, den ihr der Essigbaum gibt. Der wiederum sich ja in (5) als etwas ganz anderes herausstellt, bis zu dem Punkt, an dem ich mich fragte, ob nicht auch sie "nur" manipuliert worden ist - und wo die Grenze zwischen "guter" Hilfe und "böser" Manipulation verläuft. Dieses Thema wird ja in (5) noch öfter aufgegriffen, denn die Handlungen des Wesens sind - obwohl eigentlich oft gutwillig motiviert - zuweilen mit katastrophalen Auswirkungen behaftet.
Das Wesen aus 5 bezieht seine Kraft aus seiner Suche. Aber du hast Recht, aus Unwissenheit sind seine Handlungen anfangs destruktiv.
Wer aber völlig ohne Kraftquelle und inneren Halt ist, ist Neal Brose. Ein Spielball vieler Kräfte, das Ende chaotisch.
Aber ich verweigere mich auch weiterhin den Begriffen "gut" und "böse" als moralische Kategorien. Mal sehen ob ich das bis zum Ende des Buches durchhalten kann.
Bearbeitet von Susanne11, 26 September 2013 - 08:40.
#41
Geschrieben 26 September 2013 - 08:44
Ich verwende sie als gesellschaftliche, diskursive Kategorien und komme damit in diesem Roman ganz gut klar.Aber ich verweigere mich auch weiterhin den Begriffen "gut" und "böse" als moralische Kategorien. Mal sehen ob ich das bis zum Ende des Buches durchhalten kann.
#42
Geschrieben 26 September 2013 - 15:50
Klingt für mich nach Weltverschwörung ("Alle sind verrückt und nur ich kenne die Wahrheit!").Trurl, ich bin neugierig, ob die letzten Kapitel Deine Einschätzung des 1. Kapitels erneut leicht revidieren werden.
Nur so viel: Meiner Meinung nach wirft Mitchell in diesem Buch (wie auch später in Cloud Atlas) die große Frage nach Schicksal (alias Gott alias demiurgische Mächte) und dem freien Willen auf, natürlich ohne sie zu beantworten. Das muss der Leser für sich selbst leisten.
Oder anders formuliert: Kann die Weltsicht des "Irren" aus Kapitel 1 wahr sein und er aber trotzdem wahnsinnig sein?
In Teilen mag seine Wahrnehmung ja der Wirklichkeit entsprechend. Er zieht nur die falschen Schlüsse aus dem was er sieht. Das Wahnhafte daran entsteht erst durch seinen Übertreibungen und durch die Interpretation seiner Wahrnehmung, innerhalb eines nur für ihn und seinen Sektenmitgliedern (aber da bin ich mir nicht mal sicher, ob die das auch glauben) logischen und kohärenten Weltbildes.
Was die Macht des Schicksals betrifft – die Mitchell in diesem und auch im Wolkenatlas immer wieder anklingen lässt – bin ich mir nicht sicher, ob sich Mitchell da nicht doch festlegt. Vor allem, wenn man die Kette der Zufälligkeiten, die sich durch die Geschichten hindurch ziehen, in Betracht zieht. Gerade in der Mongolei-Geschichte werden die Spuren mehr als deutlich gelegt. Wenn dieser unbekannte Geist am Ende seine Körperwanderungsreise wieder bei der Person landet, wo er sie begonnen hat und "zufällig" genau dann jenen freien Körper findet, den er beseelen kann, um das Leben, das ihm vorzeitig genommen wurde, endlich zu Ende zu leben, ist das schon mehr als nur reiner Zufall, sondern die reine Absicht des Autors.
LG Trurl
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#43
Geschrieben 26 September 2013 - 18:18
Austriae Est Imperare Orbi Universo
#44
Geschrieben 26 September 2013 - 20:18
Als ich die erste Geschichte las, dachte ich auch erst instinktiv - "der Typ ist wahnsinnig". Aber da wollte ich es mir auch nicht zu leicht machen. Und der Wikipedia-Artikel gibt mir als Hobby-Psychologe jetzt praktisch die Begründung für dessen Gedanken und Taten. Wie Naut seine Bemerkung meint weiß ich nicht. Und ich kann mir im Moment auch nicht vorstellen, worin der "Sinn" des "Wahnsinns" liegen könnte.@Trurl. Es freut mich, dass meine Eindrücke irgendetwas aufgestoßen haben, bedenke aber bitte, dass das rein subjektive Eindrücke ohne Kenntnis der nachfolgenden Teile des Buches waren.
LG Trurl
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#45
Geschrieben 27 September 2013 - 06:59
Episode 6 - Hier ist ein Cocktail namens Margarita auch angebracht.Also mir fiele da eher ein Cocktail ein, der einen hübschen Namen hat ...
Meine Güte. Was in deren Kopf vorgeht kann man nur als nackten Wahnsinn bezeichnen.
Wirkt streckenweise wie eine Karikatur. Vor allem die Szene mit dem Kustos in seinem Büro.
Bearbeitet von Susanne11, 27 September 2013 - 07:02.
#46
Geschrieben 27 September 2013 - 11:30
Zu dieser Geschichte habe ich relativ spät einen Zugang gefunden. Eigentlich erst nach dem Treffen Margaritas mit Tatjana, in der sie so etwas wie eine Seelenverwandte zu erkennen glaubt. Dass sich dies als Irrtum herausstellt, muss Margarita am Schluss leidvoll erkennen. Aber man konnte es ahnen, dass etwas mit Tatjana nicht stimmt. Sie war einfach zu freundlich und zu neugierig.
Mich hat an Margarita anfangs ihr arrogantes Getue und die Überheblichkeit gestört, mit der sie ihre nicht ganz so toll aussehenden Arbeitskolleginnen ("Matschfass" Petrova) abkanzelt, die ihr ja nur neidisch sind, weil sie es umso besser versteht ihren Chef Rogorschew um den Finger zu wickeln, auf dessen Posten sie angeblich aus ist. Überhaupt bildet Margarita sich allerhand auf ihr gutes Aussehen ein, das es ihr ermöglicht von den Männern - vornehmlich reiferen verheirateten Herren mit Macht und Geld - alles zu bekommen was sie will. Margarita wird zunächst als ziemlich berechnende "Schlampe" eingeführt (das soll keine Verurteilung sein; mir ist natürlich klar, dass berechnende Frauen nie so gut wegkommen wie entsprechend handelnde Männer), aber im Grunde sehnt sie sich nach Liebe, von der sie glaubt, sie in dem großspurigen Kleingangster Rudi gefunden zu haben, der der Kopf einer Kunstraub- und Kunstfälscherbande ist, der auch Margarita angehört. Dass Rudi ein rücksichtsloser Krimineller ist - es gibt da einen Bemerkung wo sie die kriminellen Machenschaften ihres Geliebten und dessen Brutalität im Umgang mit Schuldnern offen rechtfertigt, Seite 331 - und sie von ihm nach Belieben manipuliert und auch mies behandelt wird - er schlägt sie ab und zu -, will Margarita in ihrer emotionalen Blindheit aber nicht wahr haben.
Und wieder taucht das Motiv der manipulativen Beeinflussung auf. Schön zu erkennen in der Szene, als Rudi ihr seine Liebe vorsülzt, aber nur um sie weich zu klopfen, seinen Geschäftspartner zu beherbergen, der niemand anderer ist, als der uns bereits bekannte mongolische Ex-KGB-Agent und Psychopath vom Dienst Suchbataar.
Mit Maragarita haben wir es nach dem Psycho aus Geschichte Nr.1 und Neal Brose wieder mit jemand zu tun, der abhängig von jemand anderen ist. Bei Neal Brose war es seine Ex-Frau. Beim Psycho sein Meister. Mitchell hat in diese Geschichte wieder zahlreiche Spuren und versteckte Bezüge eingearbeitet, die das Manipulationsmotiv unterstreichen: das Bild von Delacroix, Eva und die Schlange, sowie die fiktiven Dialoge Evas mit der Schlange, die ja eine Metapher für Verführung ist. Hat mir gefallen.
Die Geschichte endet mit einem Knalleffekt. Und das "Böse", in Gestalt des Psychopathen Suchbataar, gewinnt wieder.
Und ich erfahre endlich, woran Neal Brose aus Geschichte Nr. 2 gestorben ist. Das ist mir nicht klar geworden, oder habe es wohl überlesen.
LG Trurl
Bearbeitet von Trurl, 27 September 2013 - 12:01.
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#47
Geschrieben 27 September 2013 - 18:17
#48
Geschrieben 27 September 2013 - 19:17
Hmm, unabhängig davon ob ich dir darin zustimme - ich tue es natürlich nicht -, sollte es nicht eher ghostritten heißen? Passiv. Nicht wir schreiben, sondern wir werden geschrieben, von außen, von jemand oder etwas Fremden. So wie du es eigentlich meinst.Zwei Zitate aus Episode 7 - London:
Regiert also der Zufall oder das Schicksal über unser Leben? Nun, die Antwort ist genauso relativ wie die Zeit. innerhalb des Lebens ist es der Zufall. Wenn man es aber von außen betrachtet und es wie ein Buch liest, ist von Anfang bis Ende Schicksal.
Wir sind alle Ghostwriter, mein Junge. Und das gilt nicht nur für unsere Erinnerungen, sondern ebenso für unser Handeln. Wir meinen alle, die Kontrolle über unser Leben zu haben, aber in Wirklichkeit wird es uns äußeren Kräften vor-geschrieben.
LG Trurl
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#49
Geschrieben 27 September 2013 - 20:18
Das sind zwei Zitate aus dem Buch, d.h. Aussagen von Mitchell und nicht von mir.Hmm, unabhängig davon ob ich dir darin zustimme - ich tue es natürlich nicht -, sollte es nicht eher ghostritten heißen? Passiv. Nicht wir schreiben, sondern wir werden geschrieben, von außen, von jemand oder etwas Fremden. So wie du es eigentlich meinst.
LG Trurl
#50
Geschrieben 27 September 2013 - 21:22
Ich verstehe den zweiten Satz dennoch nicht. Wenn wir Ghostwriter sind, dann sind wir es doch die unsere Geschichte oder die eines anderen schreiben? Ghostwritten, wie der Titel der englischen Ausgabe auch lautet, würde die Fremdbestimmung exakt beschreiben. Nun, ich muss die Stelle im Buch wohl im Kontext lesen ...
LG Trurl
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#51
Geschrieben 28 September 2013 - 18:25
Stärker als in den anderen Episoden wird in dieser Geschichte das Thema Zufall und Schicksal angesprochen. So reflektiert der ich-erzählende Protagonist, ein etwas ziellos lebender Musiker und Frauenheld, über sein bisheriges Leben, sowie den Einfluss des Zufalls darin. Ein wenig hat die Geschichte darunter gelitten, dass Mitchell den Protagonisten praktisch alles kommentieren lässt. Also wenn ich durch die Stadt fahre mache ich mir nicht einen Bruchteil der Gedanken, die diesem Typen so den Kopf gehen. Da wird jede U-Bahn Station und jeder Stadtteil beschrieben, als würde aus einem Stadtführer zitiert. Das war mir teilweise etwas zu viel des Guten. Ein wenig habe ich anfangs den roten Faden der Geschichte vermisst. Was aber durchaus Absicht sein könnte. Man könnte sagen, dass der Tagesablauf des Protagonisten, oberflächlich gesehen, von der gleichen Zufälligkeit bestimmt wird, die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt haben.
Es sind zunächst die scheinbaren Zufälle, die dem Protagonisten zustoßen und der Geschichte Struktur geben. Da rettet er zufällig einer Frau das Leben, die um ein Haar von einem Taxi überrollt wird. Da ist die junge Frau, der er zufällig in einer Imbissstube begegnet und zufällig Anhängerin östlicher Philosophien ist und an Alpha-Emanationen glaubt, wie der Psycho aus Geschichte Nr.1. Abschließend dann der Besuch im Spielcasino und das Glück im allerletzten Spiel, als er seinen verloren geglaubten Spieleinsatz wieder zurückgewinnt und damit endlich einen Teil seiner Schulden zurückzahlen kann. Dieses zufällige Ereignis führt dann zu der Entscheidung, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und seine langjährige Freundin um die Ehe zu bitten.
Dann tauchen da wieder die geheimnisvollen Bande auf, die die scheinbar zufällig aufeinander folgenden Einzelepisoden miteinander verknüpfen. Es fängt damit an, dass der Protagonist mit Katy Forbes, der Ex-Frau des in Hongkong verstorbenen Neal Brose, die inzwischen wieder in London lebt, zufällig die Nacht verbringt. Er trifft seinen Verleger Tim Cavendish (jener Tim Cavendisch aus Der Wolkenatlas), der zufälligerweise ein Buch des japanischen Gurus aus Geschichte Nr.1 verlegt und wir erfahren, dass Cavendishs älterer Bruder zufällig jener Cavendish ist, dessen Anwaltskanzlei in Hongkong in die Geldwäschegeschäfte verstrickt ist, die Neal Brose getätigt hatte.
Man sieht schon. Da sind ein paar Zufälle zu viel im Spiel, als dass man noch von Zufall sprechen könnte.
Mitchell mag zwar dem Protagonisten die Überzeugung in den Mund legen, dass nur der Zufall sein Leben regiert. Die statistische Verteilung mit dem Mitchell in dem Roman seine "Zufälle" platziert, legen allerdings die Sicht nahe, dass er bereits mit diesem Roman jene Vorstellung vorbereitet, die im Wolkenatlas noch stärker hervortritt, nämlich, dass es die Macht des Schicksals ist, die die Entscheidungen der Menschen insgeheim steuert.
Gefreut hat mich das "Wiedersehen" mit dem ewig klammen Verleger aus Der Wolkenatlas, Tim Cavendish. Diese Figur muss Mitchell anscheinend für so ausbaufähig gehalten haben, dass er ihm im Wolkenatlas gleich eine ganze Geschichte spendiert hat.
Insgesamt eine Episode, die angenehm zu lesen ist und ohne existenzielle Katastrophen auskommt. In einem schnoddrigen, teilweise witzigen Ton geschrieben, mit einem Protagonisten, der gelernt hat mit den "Zufällen" des Lebens und ihren Widrigkeiten einigermaßen zurechtzukommen und trotzdem nicht daran zu verzweifeln.
LG Trurl
Bearbeitet von Trurl, 28 September 2013 - 18:28.
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#52
Geschrieben 28 September 2013 - 19:40
»Hongkong«
Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, um wen es sich bei Neal Brose' ominösen Gast handelt. Zu Beginn (der sehr amüsant geschrieben war) dachte ich, er meint das Hausmädchen. Als dann klar wurde, wer »sie« ist, fand ich das verdammt schaurig – wobei das weniger an Mitchells Beschreibungen ihrer Aktivitäten lag, als vielmehr daran, dass ich unentwegt die Bilder aus den Ring-Verfilmungen im Kopf hatte. Das hatte leider den Nachteil, dass für mich diese Figur mehr Raum einnahm, als ihr von Mitchell sicher zugedacht war.
Außerdem gab ihr das eine negative Konnotation, doch spätestens am Ende wird eigentlich klar, dass sie kein böser Geist ist. Somit blieb für mich die Frage offen, warum sie Neal und Katy heimsucht. Spürt sie deren Kinderwunsch? Ist es als Warnung an Neal gedacht, damit er sich nicht »in die Scheiße reitet« (so wie ihr Erzeuger, was ja zu ihrem Tod geführt hat)? Oder steht sie ganz am Ende der unaufhaltsamen Talfahrt des Neal Brose und soll ihn nur hinübergeleiten (s.u.)?Dennoch ist dies keine Geistergeschichte: Der Geist hält sich im Hintergrund, wie es sich gehört. Stünde er im Vordergrund, wäre er ein Mensch. (S. 139)
Interessant war Brose' Fixierung auf Satoru und Tomoyo. Er hat schon lange den Glauben an die Liebe verloren, und spielt ständig den Gedanken durch, den beiden »die Wahrheit über die Liebe« beizubringen, obwohl er Satoru und Tomoyo nur einmal kurz gesehen hat. Anfangs hielt ich das für Missgunst, aber ich glaube, es ist viel eher ein traurig verzerrtes Weltbild. Zwar bei weitem nicht so extrem wie das von Tokunaga, aber in der Betrachtung seiner Umwelt ihm nicht unähnlich, da beide die Aufklärung unwissender Mitmenschen als Mission sehen. Sucht man dann nach dem Grund, warum Neal so ist, bekommt man die Antwort von ihm selbst:
Letztendlich geht er mMn daran zugrunde, dass er eben innerlich so zerrissen ist. Oder wie Satoru es im zweiten Teil ausdrückte: man müsse sich im Kopf seine eigene Welt schaffen (was ja ein kohärentes Selbstbild voraussetzt).Der Schlüssel zu Neal Brose liegt in der Erkenntnis, dass seine Existenz aus lauter Schubfächern besteht. […] In jedem dieser Fächer lebt ein Neal Brose, und alle handeln relativ unabhängig voneinander. Das ist mein Leben. (S. 149)
Oder sie sterben an Herzversagen bei einem selbstmörderischen Trip auf ein Bergplateau in der Mittagshitze …Die Menschen, die keine eigene Welt haben, werfen sich irgendwann vor den Zug. (S. 61)
»Der Heilige Berg«
Eine sehr berührende Geschichte. Großartig, wie Mitchell die Geschichte dieser armen Frau schildert, die ihr Leben lang nur in Frieden am Fuß des Heiligen Berges leben wollte. Stattdessen wird sie ständig mit politischen Systemen und Ideologien konfrontiert, die sich alle den Fortschritt auf die Fahne schreiben, aber dann doch nur darum konkurrieren, sich in Irrsinn und Grausamkeit zu überbieten. Aber egal, wie oft ihre Teehütte zerstört wird – sie erträgt es mit Würde:
Dabei zeugen ihre Gedanken oft von einer erstaunlichen Tiefsinnigkeit, die wohl nur mit der buchstäblichen Bauernschläue zu erklären ist. Denn gebildet ist sie keineswegs, was sich immer wieder in ihrer Xenophobie äußert.Wachsam kehrte ich zur Teehütte zurück, die weiter einmal in Trümmern lag. Es sind immer die Armen, die bezahlen müssen. Und die Frauen der Armen bezahlen immer am teuersten. Ich machte mich daran, die Trümmer zu beseitigen. Was blieb mir anderes übrig? (S. 177/178)
Ihr Verhältnis zur – im vorherigen Teil eingeführten – spirituellen Welt ist ebenfalls interessant. Zum einen wären da ihre vielen Gespräche mit dem Baum (der sich ja im nächsten Teil als etwas ganz anderes herausstellt). Auch hier zeigt sie Scharfsinn – und Mitchell seine Vorliebe dafür, keine definitiven Antworten auf existenzielle Fragen zu geben, was im Lesezirkel ja schon angesprochen wurde.
Mehr sagt der Baum nicht. Wobei ich auch glaube, dass er keine Antwort geben kann, weil sie nicht existiert. Gäbe es sie, wäre die Welt wohl nicht so, wie sie ist.»Ich lebe hier still vor mich hin und kümmere mich um meine Angelegenheiten. Ich komme niemandem in die Quere. Warum marschieren immer wieder Männer diesen Weg hinauf und zerstören meine Teehütte? Warum machen sich Ereignisse auf diese Weise selbstständig?«
»Das ist eine sehr gute Frage«, antwortete mein Baum. (S. 193)
Neben diesen Gesprächen hat mich eine Szene ganz besonders beeindruckt: Die Frau begegnet zweimal sich selbst – nach ihrer Vergewaltigung als junges Mädchen wird sie vom Geist einer alten Frau besucht, der sich auf die Truhe am Fuß des Bettes setzt und ihr den Ratschlag gibt, auf ihren Baum zu hören (S. 165). Als sie dann eine Greisin ist, sieht sie, selbst auf dieser Truhe sitzend, den Geist eines jungen Mädchens im Bett liegen und spricht ihr Mut und ebendiesen Rat zu (S. 200/201). Ich frage mich ja, ob das eine Anspielung auf das Motiv des Ouroboros (die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt) und/oder Nietzsches Ewige Wiederkunft ist.
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Okay, das war's erstmal. »Mongolei« und »Petersburg« habe ich auch schon gelesen, aber dazu dann demnächst …
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#53
Geschrieben 29 September 2013 - 08:10
Das ist das ganze normale Leben. Am Ende des Kapitel führt er die Begriffe AUFRICHTIGKEIT und WAHRHEIT ein und erläutert, dass sich in diesem Spannungsfeld das Leben abspielt. Als Wechselwirkung zwischen den eigenen Entscheidungen und dem Zufall.London
Es sind zunächst die scheinbaren Zufälle, die dem Protagonisten zustoßen und der Geschichte Struktur geben. Da rettet er zufällig einer Frau das Leben, die um ein Haar von einem Taxi überrollt wird. Da ist die junge Frau, der er zufällig in einer Imbissstube begegnet und zufällig Anhängerin östlicher Philosophien ist und an Alpha-Emanationen glaubt, wie der Psycho aus Geschichte Nr.1. Abschließend dann der Besuch im Spielcasino und das Glück im allerletzten Spiel, als er seinen verloren geglaubten Spieleinsatz wieder zurückgewinnt und damit endlich einen Teil seiner Schulden zurückzahlen kann. Dieses zufällige Ereignis führt dann zu der Entscheidung, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und seine langjährige Freundin um die Ehe zu bitten.
Jerome wird auch erwähnt. Im Haus von Alfred und Roy.Dann tauchen da wieder die geheimnisvollen Bande auf, die die scheinbar zufällig aufeinander folgenden Einzelepisoden miteinander verknüpfen. Es fängt damit an, dass der Protagonist mit Katy Forbes, der Ex-Frau des in Hongkong verstorbenen Neal Brose, die inzwischen wieder in London lebt, zufällig die Nacht verbringt. Er trifft seinen Verleger Tim Cavendish (jener Tim Cavendisch aus Der Wolkenatlas), der zufälligerweise ein Buch des japanischen Gurus aus Geschichte Nr.1 verlegt und wir erfahren, dass Cavendishs älterer Bruder zufällig jener Cavendish ist, dessen Anwaltskanzlei in Hongkong in die Geldwäschegeschäfte verstrickt ist, die Neal Brose getätigt hatte.
Das ist nur so, wenn man von außen drauf schaut, sozusagen aus der Autoren- und Leserperspektive.Man sieht schon. Da sind ein paar Zufälle zu viel im Spiel, als dass man noch von Zufall sprechen könnte.
Als Beteiligter hat man nicht genug Übersicht um so etwas überhaupt erkennen zu können.
Außerdem braucht Mitchell diese ZUFÄLLE um die Geschichten miteinader zu verbinden.
Bearbeitet von Susanne11, 29 September 2013 - 14:17.
#54
Geschrieben 29 September 2013 - 08:21
Die Menschen, die keine eigene Welt haben, werfen sich irgendwann vor den Zug. (S. 61)
Ich sah lächelnde Gestalten, die sich zum Druckausgleich in ihre Träume einschlossen. (S. 421)
Du darfst hier nichts so genau nehmen. Lerne alles im Kopf zu erleben, was du nicht außerhalb tun kannst. (S. 467)
In der Episode Clear Island taucht Mo in Hongkong bei jenem Huw Llewellyn unter, der bei der Aufsichtsbehörde für Kapitaltransfer arbeitet. Der Huw, der Neal Brose in Panik versetzt hat.
#55
Geschrieben 29 September 2013 - 18:41
Ja natürlich.
Das ist nur so, wenn man von außen drauf schaut, sozusagen aus der Autoren- und Leserperspektive.
Man sieht schon. Da sind ein paar Zufälle zu viel im Spiel, als dass man noch von Zufall sprechen könnte.
Als Beteiligter hat man nicht genug Übersicht um so etwas überhaupt erkennen zu können.
Außerdem braucht Mitchell diese ZUFÄLLE um die Geschichte miteinader zu verbinden.
Die Frage ist aber, was Mitchell mit diesen sogenannten Zufällen zeigen möchte. Man könnte zum Beispiel interpretieren, dass wie im Roman, auch im realen Leben unbekannte Verbindungen existieren, die wir aus der Froschperspektive unserer individuellen Existenzen und Weltanschauungen nicht wahrnehmen (wollen oder können).
In dem Roman sind diese Verbindungen nicht rein zufällig da (sondern werden absichtlich hergestellt), auch wenn die Episoden auf den ersten Blick nur für sich selbst stehend erscheinen sollen und von völlig getrennten Lebenswegen erzählen. Mitchell hat die Verbindungen auch nicht allzu offensichtlich geknüpft. Es gibt i.d.R. keine direkten Verbindungen der Protagonisten untereinander, sondern nur indirekt über Bekannte, die wieder jemand kennen, der in einer anderen Episode auch eine Rolle spielt. Wie Jerome, der Kunstfälscher, der auch ein Bekannter Roys und Alfreds war.
Später merkt man dann, dass es viele weitere Verbindungen geben hat, die mit späteren Episoden verknüpft wurden. Hinweise, die man überlesen hat und sich sich erst später wieder daran erinnert, dass man von dieser Person schon früher gelesen hat. Wie zum Beispiel, dass Mo Muntervary in der Mongolei ebenfalls zu den Zuggästen der Transsibirischen Eisenbahn gehört hatte und auch mit Sherry, der australischen Rücksacktouristin, Kontakt hatte. Ich blättere inzwischen immer wieder zurück, weil mir irgendein Name plötzlich bekannt vorkommt.
Das sind kompositorische Tricks des Romans, die erstens Spass machen und zeigen, dass der Roman von Mitchell durchgeplant wurde und er nicht einfach drauflos geschrieben hat. Er hat sich ganz genau überlegt, wie er den Roman und die Geschichten aufbaut und auch was er damit bezwecken möchte. Es ist nach meinem Eindruck deshalb durchaus nicht so, dass Mitchell einfach nur Fragen stellt. Er formuliert auch ein paar mögliche Antworten und legt auch eine bestimmte - ich denke, nicht zufällige - Sichtweise der Welt nahe. Dass es hinter den scheinbaren Zufälligkeiten der Welt, ein verborgenes Muster gibt, das alle Ereignisse irgendwie kausal und nicht nur statistisch miteinander in Beziehung setzt - dass Gott eben nicht würfelt und "alles miteinander verbunden ist", wie es später im Wolkenatlas heißen wird.
LG Trurl
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
- • (Buch) gerade am lesen:Jeff VanderMeer - Autorität
- • (Buch) als nächstes geplant:Jeff VanderMeer - Akzeptanz
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• (Buch) Neuerwerbung: Ramez Naam - Crux, Joe R. Lansdale - Blutiges Echo
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• (Film) gerade gesehen: Mission Impossible - Rogue Nation
#56
Geschrieben 29 September 2013 - 19:21
Was meinst du mit "verborgenes Muster"? Die Zufälle sind ursächlich für andere Ereignisse.Das sind kompositorische Tricks des Romans, die erstens Spass machen und zeigen, dass der Roman von Mitchell durchgeplant wurde und er nicht einfach drauflos geschrieben hat. Er hat sich ganz genau überlegt, wie er den Roman und die Geschichten aufbaut und auch was er damit bezwecken möchte. Es ist nach meinem Eindruck deshalb durchaus nicht so, dass Mitchell einfach nur Fragen stellt. Er formuliert auch ein paar mögliche Antworten und legt auch eine bestimmte - ich denke, nicht zufällige - Sichtweise der Welt nahe. Dass es hinter den scheinbaren Zufälligkeiten der Welt, ein verborgenes Muster gibt, das alle Ereignisse irgendwie kausal und nicht nur statistisch miteinander in Beziehung setzt - dass Gott eben nicht würfelt und "alles miteinander verbunden ist", wie es später im Wolkenatlas heißen wird.
Wenn Katy Forbes den Queen Anne Stuhl nicht zu dem Zeitpunkt bekommen hätte, dann hätte Marco nicht Mo Muntervary retten können. Diese wäre nicht wie geplant nach Irland gereist und hätte das schwarze Buch nicht an die Ziege verfüttern können. So war der Texaner gezwungen auf ihre Bedingungen einzugehen und sie hat den Zoowärter konstruiert mit den schlussendlichen Folgen.
Dazu fällt mir der Spruch ein dass der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Hurrikan am anderen Ende der Welt auslösen kann.
Lass uns doch mal die Meta-Ebene nachverfolgen ...
Quasar ruft irrtümlicherweise Satoru an. Dadurch erhält Satoru die Gelegenheit Tomoyo kennen zulernen. Das hat zur Folge, dass der nach Hongkong fliegt. Dort sieht Neal Brose das Liebespaar, der daraufhin nicht zu seiner Arbeit geht und in der Folge stirbt.
Neal Broses Tod verursacht die Krise bei der Anwaltkanzelei und als Folge ....
Ich glaube es geht nicht linear, man muss es als Netz von Verflechtungen aufzeichnen.
#57
Geschrieben 29 September 2013 - 20:33
#58
Geschrieben 29 September 2013 - 20:40
Stimmt. Aber ein Netz von Verflechtungen wie dieses, entsteht nicht zufällig.Was meinst du mit "verborgenes Muster"? Die Zufälle sind ursächlich für andere Ereignisse.
(...)
Ich glaube es geht nicht linear, man muss es als Netz von Verflechtungen aufzeichnen.
Wenn es nur um eine lineare Abfolge von sich zufällig begegnenden Leuten ging, die in der Rückschau eine kausale Wirkungsklette ergibt, würde ich dir zustimmen. Aber es gibt zusätzlich ein Beziehungsnetz über Nebenpersonen, die über zufällige Begegnungen hinausgeht. Letztlich sind über Umwege ja fast alle irgendwie miteinander verbunden.
Hier geht es eindeutig um Beziehungen und nicht allein um den Zufall.
Und wenn man die Quelle diese Beziehung nicht allein durch den Zufall erklären kann muss man einen anderen Mechanismus annehmen. Den kenne ich aber nicht. Deshalb ist er "verborgen".
LG Trurl
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
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#59
Geschrieben 30 September 2013 - 06:38
Der Mechanismus besteht in der dichterischen Freiheit von Mitchell, er hat den Roman so konstruiert. Vielleicht könnte jemand, der sich mit Chaostheorie auskennt, eine eventuell verborgene Ebene besser erkennen.Stimmt. Aber ein Netz von Verflechtungen wie dieses, entsteht nicht zufällig.
Wenn es nur um eine lineare Abfolge von sich zufällig begegnenden Leuten ging, die in der Rückschau eine kausale Wirkungsklette ergibt, würde ich dir zustimmen. Aber es gibt zusätzlich ein Beziehungsnetz über Nebenpersonen, die über zufällige Begegnungen hinausgeht. Letztlich sind über Umwege ja fast alle irgendwie miteinander verbunden.
Hier geht es eindeutig um Beziehungen und nicht allein um den Zufall.
Und wenn man die Quelle diese Beziehung nicht allein durch den Zufall erklären kann muss man einen anderen Mechanismus annehmen. Den kenne ich aber nicht. Deshalb ist er "verborgen".
Wenn ich an die Diskussionen über den Anfang denke, dann ist das Ende "interessant."
Um GUT und BÖSE geht es jedenfalls nicht.
Bearbeitet von Susanne11, 30 September 2013 - 06:40.
#60
Geschrieben 30 September 2013 - 06:48
Dieser Zwangsläufigkeit stimme ich nicht zu. Derartige Geflechte ereignen sich andauernd, auch in der "echten" Welt, und ich gehe durchaus davon aus, dass es kein Schicksal gibt.
Ich denke, dass Mitchell hier dem Leser durchaus die Freiheit lässt, Schicksal für sich anzunehmen oder abzulehnen.
Die Chaostheorie (heute ja eigentlich als Singularitätentheorie bezeichnet) sagt ja aus, dass extrem nichtlineare Systeme beim Durchlaufen singulärer Punkte dazu neigen, nicht voraussagbares Verhalten an den Tag zu legen. Das passt aber zum Roman: Im Nachhinein ist vieles darin erklärbar, was zunächst wie völlige Willkür erscheint.Vielleicht könnte jemand, der sich mit Chaostheorie auskennt, eine eventuell verborgene Ebene besser erkennen.
Ad spoiler: Das war es übrigens, was ich oben meinte. Der Psycho aus (1) ist völlig wahnsinnig, hat aber trotzdem in vielen Details ein korrektes Bild.
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