Da heute erneut ein spielfreier Tag ist, möchte ich die Zeit nutzen, um euch eine kleine Fußball-Anekdote zu erzählen. Viele von euch sind sicher noch baff, ob des erstaunlichen Kantersiegs der deutschen Nationalmannschaft. Manche denken vielleicht sogar, dass es eines der ungewöhnlichsten Fußballspiele aller Zeiten gewesen sein muss. Dass es noch seltsamer geht, beweist aber folgende Geschichte:
Versuch der Karibik (based on a true story)
Wir schreiben den Anfang des Jahres 1994. Die ganze Welt blickt auf die im Sommer stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft in den Vereinigten Staaten. Die ganze Welt? Nein, in der Karibik trotzen einundzwanzig kleine Inselstaaten der globalen Euphorie und freuen sich auf ihr eigenes Turnier: die Karibikmeisterschaft. Spötter aus den großen Fußballnationen mögen jetzt behaupten, dass es in solch einem Turnier nur um eine goldene Ananas gehen könnte, doch tatsächlich bekommt der Sieger auch eine schicke Trophäe und außerdem die Startberechtigung im CONCACAF-Gold-Cup, also der Nord- und Mittelamerika-Meisterschaft. Für viele dieser Mannschaften, von denen einige nicht einmal über wettkampftaugliche Stadien verfügen, ist der Gewinn dieses Turniers somit ihr eigener kleiner WM-Titel.
Es waren damals verrückte Zeiten. Die deutsche Nationalmannschaft veröffentlichte vor einem großen Turnier noch selbst eingesungene Lieder, bei denen sich dem heutigen geneigten Zuhörer nicht nur die Fußnägel, sondern die kompletten Füße bis zur Ferse hochrollen und Stefan Effenberg lernte im Laufe des Jahres, wofür der Digitus medius abseits vom In-der-Nase-Bohren zu gebrauchen ist. Doch eines war schon vor zwanzig Jahren so wie heute: Die Gerontokraten des FIFA-Exekutivkommitees wurden – obwohl die meisten von ihnen in einem Alter sind, in dem man anfängt, wieder Mittagsschläfchen zu halten – nie müde, bahnbrechende Innovationen in den Fußballzirkus einzubringen. Beim jetzigen Turnier beglückten sie uns mit dem Freistoßrasierschaum, doch damals liebäugelten sie gleich mit zwei Ideen.
Einerseits die Golden-Goal-Regel, bei der ein Tor in der Verlängerung das Spiel augenblicklich beendet, und andererseits die Einführung von Verlängerung und Elfmeterschießen in der Vorrunde, denn es kann schließlich nie genug 120-minütige Null-Null-Ballgeschiebe in einem Turnier geben. Ersteres fand dann tatsächlich bei den großen Fußballturnieren von 1996 bis 2004 Anwendung, wovon Tschechien, Italien und einige anderen Nationen ein trauriges Lied singen können. Letzteres wurde einmalig bei der Qualifikation zur Karibikmeisterschaft erprobt, da für die FIFA dieses Turnier wohl das Äquivalent eines Versuchslabors voll weißer Mäuse war – warum nur dort, werden wir noch sehen.
Ein Grund, soviel sei schon mal verraten, war zweifellos der damit verbundene Regelzusatz, dass ein Golden Goal in der Gruppenphase wie zwei reguläre Tore gewertet wurde, schließlich kann in der Gruppenphase auch die Tordifferenz entscheidend für das Weiterkommen sein, und man kann ja nur ein Golden Goal schießen. Es lässt sich im Nachhinein vortrefflich darüber spekulieren, ob diese Idee einem fehlgeleiteten Geistesblitz oder einem leichten Schlaganfall entsprungen ist, entscheidend ist, dass wir ihr eines der seltsamsten Spiele aller Zeiten verdanken.
Am 27. Januar 1994 trafen im Nationalstadion von Barbados die heimische Nationalmannschaft und die Gäste aus Grenada aufeinander, um das letzte Qualifikationsspiel der Gruppe A zu bestreiten. Vor dem Spiel hatte sich folgende Gruppensituation ergeben: Barbados brauchte einen Sieg mit zwei Toren Differenz, um sich für die Karibikmeisterschaft zu qualifizieren, Grenada reichte eine Niederlage, solange sie nur mit einem Tor Unterschied verloren. Anfangs lief alles gut für die Bajan Tridents aus Barbados. Sie gingen mit 2:0 in Führung und wähnten sich schon sicher weiter. Doch dann der Schock – die Spice Boys aus Grenada erzielten in der 83. Minute den Anschlusstreffer. Vier Minuten lang versuchten verzweifelte Bardadier dem Dreizack ihres Wappens alle Ehre zu machen und das 3:1 zu erzielen, doch sie scheiterten an der grenadischen Verteidigung.
Da guter Rat bekanntlich teuer ist, tut es im Zweifelsfall auch eine absurde Idee. Statt in wenigen Minuten noch ein Tor zu erzielen, wäre es doch viel einfacher, wenn Grenada noch eines schießen würde, denn dann hätte man dreißig zusätzliche Minuten Zeit für ein Golden Goal, was ja dann als zwei Treffer gewertet werden würde. Dumm nur, dass Grenada keine Anstalten machte, noch ein Tor zu schießen. Man musste ihnen folglich unter die Arme greifen, entschieden einige barbadische Spieler. Verteidiger Sealy und Torwart Stoute beendeten daraufhin die Angriffsbemühungen und schoben sich im Fünfmeterraum nur noch gegenseitig den Ball zu. Erst einmal passierte nichts, doch plötzlich drosch Sealy den Ball mit Vollspann ins eigene Tor – wer es nicht besser wusste, hätte glauben können, dass ein Voodoo-Zauber Besitz vom rechten Bein des Verteidigers ergriffen haben musste.
Der Ausgleich war gefallen. Nun war es an Grenada, noch einen Treffer zu erzielen. Allerdings reichte ihnen bekanntermaßen auch eine Niederlage mit einem Tor Rückstand und was Barbados kann, können wir schon lange, dachten sich wohl manche der Gäste. Jedoch ohne dies vorher mit ihren Mitspielern oder ihrem Trainer abzusprechen – diese hatten nicht im Traum an eine solche Entwicklung gedacht und waren zum Teil noch verwirrt über das eben gefallene Eigentor, weshalb auf dem Feld das absolute Chaos ausbrach. Einige der Grenader ließen fortan nichts unversucht, um nicht nur ein Tor, sondern notfalls auch ein Eigentor zu erzielen, was nun die Spieler aus Barbados in die wohl einmalige Lage versetzte, in den Schlussminuten beide Tore verteidigen zu müssen. Perplexe Grenader sahen sich während eines Angriffs damit konfrontiert, dass sie von ihren eigenen Teamkollegen ausgekontert wurden, die plötzlich auf ihr Tor zustürmten, wo ebenso perplexe barbadische Spieler für die eigentlichen Verteidiger in die Bresche sprangen und einen Treffer verhinderten, nur um ihnen dann über den ganzen Platz hinterjagen zu müssen, weil die Gäste plötzlich wieder das gegnerische Tor angriffen.
Die Zuschauer auf den Rängen dürften sich angesichts dieser Szenen gefragt haben, ob sie von einer Kokosnuss am Kopf getroffen worden seien. Und nicht nur sie – der Trainer Grenadas kommentierte das Spiel danach folgendermaßen: »Ich fühle mich betrogen. Die Person, die diese Regeln erfunden hat, muss ein Kandidat fürs Irrenhaus sein. Ein Spiel sollte niemals mit so vielen verwirrt über den Platz laufenden Spielern ausgetragen werden. Unsere Spieler wussten nicht einmal, in welche Richtung sie angreifen mussten: unser Tor oder deren Tor. Ich habe noch nie so etwas gesehen. Im Fußball sollte man für den Sieg für die eigene Mannschaft Tore erzielen und nicht für den Gegner.«
Letztendlich bewies die komplette Heimmannschaft in beiden Hälften Libero-Qualitäten und rettete das Unentschieden in die Verlängerung. Dort erzielte Barbados dann das Golden Goal und qualifizierte sich als Gruppensieger für die Karibikmeisterschaft. Leider schafften sie dort anschließend nur zwei Unentschieden und eine Niederlage, schieden als Gruppendritter in der Vorrunde aus und gewannen doch nur die goldene Ananas. Dafür durften sie sich aber gemeinsam mit ihrem Gegner einen Platz in den Annalen der Fußballhistorie sichern.
ENDE
Auf Wikipedia ist diesem Spiel sogar ein eigener
Artikel gewidmet. Und auf Youtube gibt ein 35-sekündiges
Video mit Szenen dieses Spiels – die einzige Filmaufnahme, die davon existiert. Leider gibt es keine Aufnahmen der chaotischen Schlussphase, dafür kann man ab [0:12] aber das Eigentor Barbados' bewundern.