Stanisław Lem
Insel / Suhrkamp
Dieses zweibändige Werk zur Theorie der Science Fiction schrieb Lem 1970; meine Ausgabe ist die vom Autor abgesegnete Übersetzung von Beate Sorger, Wiktor Szacki (Band 1) und Edda Werfel (Band 2) von 1978. Zuvor hatte Lem bereits 1964 seine "Summa Technologiae" veröffentlicht, ein einflußreiches futurologisches Werk, das teilweise eine Art Vorläufer für die "Phantastik und Futurologie" bildet.
Die zwei Bände stehen nun bereits seit etlichen Jahren in meinem Regal (ich habe sie mal günstig aus einem Restposten-Laden mitgenommen), doch trotz mehrerer Anläufe habe ich sie bisher nicht gelesen. Da ich mich inzwischen wieder mehr mit SF beschäftige und auch gelegentlich selbst versuche, etwas zu schreiben, habe ich mir jetzt diese Lektüre verordnet.
Warum ich mich dazu überwinden musste, wird bereits auf der ersten Seite klar, wird man dort doch bereits mit Sätzen wie diesem hier empfangen: "Phantastische Designate gehören teilweise in die Nullklasse, teilweise nicht in die Nullklasse von Beriffen". In diesem Stil geht es dann auch weiter, 475 Seiten lang (aber meistens in weitaus längeren Sätzen).
Das Lesen dieses Buches war dementsprechend wirklich harte Arbeit. Nicht so sehr inhaltlich, sondern vor allem wegen der geradezu leserfeindlichen Form. Lem scheint sich beim Schreiben an Regeln wie diese gehalten zu haben:
[*] Sage nichts auf Deutsch, wofür es nicht auch eine unverständliche, notfalls selbsterfundene Wortblase auf Latein oder Griechisch oder wenigstens Fachchinesisch gibt (so muss man z.B. Umstände "exploitieren" anstatt sie "auszunutzen" oder "-beuten", und "charakterologische Veränderungen" klingen doch viel besser als schlichte "Charakterveränderungen").
[*] Absätze sind Platzverschwendung. Die ideale Buchseite ist ein graues, unstrukturiertes Rechteck aus Buchstaben.
[*] Wenn man zwei Sätze zu einem vereinen kann, dann soll man das auch tun, denn Bandwurmsätze -- notfalls verwende man dazu Semikola, Doppelpunkte oder (gegebenfalls sogar geschaltelte) Parenthesen -- zeugen, insbesondere wenn man den Satz erst versteht, wenn man ihn bis zum Ende gelesen hat, von tiefen Gedanken.
[*] Es darf keine Seite geben, die nicht mindestens einmal das Wörtchen "indes" beinhaltet.
[/list]Spaß beiseite: Ich verstehe nicht, warum das Buch seine Aussage in diesem überzüchteten Kauderwelsch versteckt. Ich kann nur vermuten, dass Lem sich in diesem Werk an die literaturwissenschaftliche Zunft richtet. Diese Leute fassen ihre Traktate ja gerne in einer derart verunstalteten Szenesprache ab, damit sie von Aussenstehenden nicht verstanden werden und sich dann einbilden können, dass das, was sie da treiben, eine echte Wissenschaft sei. (*duck*)
Jedenfalls hat Lem beispielsweise mit den hervorragenden "Dialogen" gezeigt, dass er Tiefschürfendes durchaus verständlich auszudrücken in der Lage ist. Leider ist man in diesem Werk aber streckenweise derart mit dem Entziffern und Dekodieren der Sätze beschäftigt, dass man darüber leicht übersieht, wenn man dabei den Inhalt gar nicht wirklich aufgenommen hat.
Kommen wir zum Inhalt, soweit ich ihn erfasst habe (wahrscheinlich habe ich einiges ausgelassen, schon weil selbst ich mich weigere, für die Lektüre eines Buches ständig ein Wörterbuch "Fachchinesich-Deutsch" zu konsultieren). Das Buch besteht aus fünf Teilen (eine vollständige Inhaltsangabe habe ich hier gefunden):
I. Die Sprache des literarischen Werkes
Dass dieser Teil am Anfang steht, erschwert die Lektüre zusätzlich, denn er ist am trockensten geraten und erscheint gleichzeitig streckenweise doch recht verzichtbar: Viele Aussagen, die man mühsam aus ihrer harten sprachlichen Schale pellt, sind erstens für alle Literatur gültig (und nicht nur SF) und gelegentlich auch fast schon trivial.
Im Kapitel "Die sprachlichen Probleme der Phantastik" geht es z.B. darum, wie ein literarischer Text vom Leser aufgenommen und ein beschriebene Sachverhalt beim Lesen im Kopf Gestalt annimmt. "Die vier Strukturen eines literarischen Werkes" sind nach Lem 1. die Struktur der Darstellung (Erzählperspektive), 2. die Struktur der beschriebenen Welt, 3. die Persönlichkeitsstruktur des Autors und 4. die Umstände, unter denen das Werk aufgenommen wird (also letztlich die kollektiven Persönlichkeitsstrukturen der Leserschaft). Alles ganz plausibel und wortreich erläutert, aber nicht wirklich erleuchtend oder SF-bezogen.
II. Die Welt des literarischen Werkes
Für diejenigen, die sich bis hierher durchgehalten haben, wird es jetzt zur Belohnung interessant, denn nun beginnt Lem ernsthaft mit der Klassifizierung der Phantastik. Als Grundlage nimmt er zunächst die einleuchtende Einteilung von Roger Caillois:
[*]SF liegt vor, wenn die phantastischen Elemente als wissenschaftlich erklärbar dargestellt werden.
[*]In der Fantasy sind sie dagegen ein nicht infrage gestellter Bestandteil der geschilderten Welt. Eine Untergruppe darin bilden die klassischen Märchen, deren Welt einen "eingebauten Automatismus" zum Sieg des Guten besitzt.
[*]Die Horrorstory liegt dazwischen, indem sie Fantasy-Elemente in eine sonst nichtphantastische Welt einbrechen lässt und sie dadurch in ihren Grundfesten erschüttert.
[/list]Es ist nicht zu leugnen, dass das Buch sich ab hier vornehmlich auf die SF konzentriert; das lässt ja schon der Titel vermuten. Zu diesem Zweck wird zunächst die Futurologie, also die Wissenschaft (?) der Zukunftsprognosen, kritisch durchleuchtet und ihre weitgehende Hilf- und Phantasielosigkeit beklagt: Anstatt echte Neuerungen zu erdenken und ihre Implikationen durchzuspielen, werden meistens nur einfache und nicht miteinander in Verbindung gebrachte Fortsetzungen bestehender Trends behandelt und anschließend gesagt: "Es könnte aber auch alles ganz anders kommen".
Am positiven Beispiel von Heinleins Erzählung "Solution Unsatisfactory" stellt Lem dar, dass eine nicht eingetroffene, aber fundierte Prognose hilfreicher sein kann als eine eingetroffene, aber bedeutungslose: Heinlein beschreibt hier noch vor der ersten Atombombe (und dementsprechend technisch unzutreffend) eine Situation, in der es kein Gleichgewicht des Schreckens gibt, sondern nur die Amerikaner über nukleare Massenvernichtungsmittel verfügen und sich mit fatalen Konsequenzen zur Weltpolizei aufschwingen.
Lems wichtigste Forderung: Jede Prognose bis ins Detail durchdenken! Nicht nur einfach eine Erfindung vorhersagen, sondern auch ihre gesellschaftlichen, psychologischen, philosophischen, politischen Konsequenzen durchspielen, sonst fehlt der Prognose letztlich jede Substanz. Er verdeutlicht dies an einer seiner wichtigsten, inzwischen teils Realität gewordenen, Prognosen, der "Phantomatik", die wir heute "virtuelle Realität" nennen. Als leuchtendes Beispiel zu diesem Thema bespricht er im Kapitel "P. K. Dick oder die unfrewillige Phantomatik" dessen Roman "Ubik", in dem es Dick meisterhaft gelungen ist darzustellen, dass eine "echte", also vollkommene Phantomatik keine Möglichkeit zulässt herauszufinden, ob man sich nun in einer virtuellen oder in der "echten" Realität befindet.
III. Die Strukturen der literarischen Kreation
Jetzt geht es an's Eingemachte: Wie bringt man phantastische Elemente in einer Erzählung ein? Lem unterscheidet nach ihrer Struktur drei Methoden, die er die "nuklearen Operatoren" der Phantastik nennt:
[*]die Substitution von Elementen in ansonsten herkömmlichen Strukturen (Pistole>>Laserwerfer, Auto>>Raumgleiter, Dämon>>Alien usw.);
[*]die Inversion, also die Umkehrung gewohnter Muster (Alien hält Menschen als Zootiere, Pflanzen fressen Tiere);
[*]die Spielstruktur, in der bestimmte "Spielregeln" zwischen bestimmten Elementen festgelegt werden (Geister spuken nur zur Geisterstunde, Zauberer dürfen keine Waffen tragen); auf diese Weise können völlig von der Realität losgelöste Welten entstehen, ohne dass alles in Beliebigkeit versinkt;
[*]sowie Kombinationen der drei obigen
[/list]Die Inversion ist gleichzeitig ein probates Mittel zur Erzeugung komischer Situationen: "Mann beisst Hund" (und das ist durchaus kein Zufall, denn Humor und Lachen sind wahrscheinlich schlicht unsere psychisch-körperlichen Reaktionen auf überraschende Situationen, die als harmlos erkannt werden (meine Anm.)). O-Ton Lem: "Es gibt sogar bekannte Schriftsteller, deren Ruhm in der wissenschaftlichen Phantastik auf diesem einfachen Prinzip der Umstellungen gründet." Hirnlos angewandt ist die einfache Inversion das Rezept schlechthin für die SF-Fastfood-Massenproduktion, aber: "selbst eine simple Inversion [kann], wenn sie das oberste Prinzip eines Werkes ist, diesem einen langen Atem geben [...], aber nur, wenn sie umfangreiche semantische Konsequenzen hat." Daraus folgen zwei Dinge:
[*]Erstens wieder die Forderung: Wer etwas phantastisches ersinnt, möge dies dann bitte einschließlich aller sich daraus ergebenden Implikationen tun, sonst ist die Vision ohne Gehalt.
[*]Und zweitens die Erkenntnis, dass allein eine strukturalistische Analyse (die obige ebenso wie jede andere) unmöglich die subjektiv empfundene Qualität eines Werkes erschließen kann.
[/list]Strukturalistische Analysen können aber dazu beitragen, diese Qualität zu erschließen. So liegt es beispielsweise nahe zu behaupten, dass ein Autor ein um so besseres Werk abgeliefert hat, je mehr Elemente seiner Welt er einer der drei elementaren Operationen der Phantastik unterzieht und dabei sowohl die jeweiligen Konsequenzen als auch das Zusammenspiel dieser Elemente überzeugend durchspielt (wie ein Jongleur, der, je besser er ist, desto mehr Bälle in Bewegung halten kann). Gleichzeitig braucht ein längeres Werk, um sich auf durchgehend gleichbleibendem Niveau zu halten, mehr solche phantastischen Elemente als eine kurze Erzählung. Am Ende dieses Teils bespricht Lem eine Reihe von Werken unter diesen Aspekten.
IV. Vom Strukturalismus zum Traditionalismus
Ein weiteres, ähnliches Zeichen für eine durchdachte und geschickt konstruierte Erzählung äußert sich paradoxerweise in einer "Polyinterpretierbarkeit": Der Leser kann sich während der Lektüre (und manchmal auch darüber hinaus, siehe "Ubik") nicht entscheiden, auf welche Weise die Geschichte zu interpretieren ist. Ein solches Werk hat mehrere Bedeutungsebenen (Lem spricht von "gnoseologischen Bedeutungen"), neben der unmittelbaren Handlung beispielsweise Handlungs-Nebenstränge, politische Anspielungen oder philosophische Konfliktfelder. Auch hier drängt sich wieder der Vergleich mit dem Jongleur und seinen vielen Bällen auf.
Und genau das ist der Aspekt, der sich den rein strukturalistischen Analysen entzieht: Der Leser muss selbst entscheiden, ob das Werk in vielen Facetten kunstvoll "schillert" (Zitat Lem) oder in einer langweiligen Farbe erscheint. In einem polyinterpretierbaren Werk können die Leser dabei gelegentlich Farbtöne erkennen, die der Autor überhaupt nicht (bewusst) angestrebt hat: Als Beispiel nennt Lem seinen Roman "Solaris", in dem manche Leser eine Metapher für die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen einem Individuum und der Gesellschaft zu erkennen meinten.
V. Die Soziologie der Science Fiction
Wer schon nicht das ganze Buch durcharbeiten will, sollte doch zumindest diese 60 Seiten unbedingt lesen. Denn hier versucht Lem zu ergründen, warum die SF nun schon seit Jahrzehnten in ihrer eigenen, von der Literatur fast völlig ignorierten, Suppe schmort. So schreibt er bereits in der Einleitung des Buches: "Das Bild des typischen SF-Lesers, das den Herausgebern vorschwebt, ist eine wahre Beleidigung; denn diese uneingeschränkten Beherrscher des SF-Reiches halten dessen Fans für primitive Halbidioten, die man mit keinen schwierigen Problemen [...] konfrontieren darf."
Bei Lems Analyse dieser Situation kriegen zunächst unvermeidlich die Autoren, Verleger, Kritiker wie auch das "Fandom" ihr Fett weg, z.B. in Form von Aufzählungen der sich darbietenden Lächerlichkeiten. Ich sehe da übrigens einige Anknüpfungspunkte zur hier parallel laufenden Diskussion über Sinn und Bedeutung des Kurd-Laßwitz-Preises: "Die jährlichen Tagungen der 'Fanatiker' und die Wettbewerbe für das beste SF-Werk in den USA erinnern manchmal an ein in ihrer Dämlichkeit ärgerliches Familientreffen, auf dem alle alle loben."
Wie es zu dieser grotesken Situation gekommen ist, dass ein Literaturfreund, der etwas auf sich hält, "natürlich" keine SF liest, und ein auf seinen Ruf bedachter Autor die SF heute tunliuchst meiden sollte, erklärt sich Lem dadurch, dass SF durch eine (historisch genauer ausgeführte) "Formkrise" zunehmend zu einer Ware wurde, die die Verlage nur noch nach Auflagenpotential beurteilen und nicht mehr nach "literarischer Qualität". Dadurch entsteht eine selbstverstärkende Rückkopplung: Der Verdienst des Autors pro Buch sinkt, der dadurch mehr Bücher produzieren muss, dabei bleibt unvermeidlich die Qualität auf der Strecke. Genau dies aber zementiert den Status der SF als Tummelplatz der Billigliteratur, so dass die Verlage in diesem Bereich gar keine Experimente mehr wagen können: Die "Schund-Leser" wissen es nicht zu schätzen, die "Literaturfreunde" lesen keine SF und der Markt für intelligente SF ist zu klein für das Risiko. Diese Theorie unterfüttert er mit konkreten Zahlen, die jeden, der mit SF Geld verdienen will, auf den Boden der Tatsachen zurückholen dürfte.
Mein Fazit
Ich habe aus der Lektüre unmittelbar zwei Anregungen aufgenommen:
[*]Der Kernpunkt der Qualitätsbewertung guter SF scheint mir das lebhafte Bild des "schillernden" Werkes zu sein. Ein solches Schillern in allen Farben des Struktur- und Bedeutungsspektrums ist jedenfalls ein gutes Zeichen für anspruchsvolle Lektüre. Aber nicht unbedingt das einzige: "Wenn ein Talent ohne die Unterstützung durch die Intelligenz in der Literatur manchmal auch durchaus Betroffenheit auslösen kann, so macht uns eine talentlose Intelligenz in einem belletristischen Werk, leider, nur müde."
[*]Die Sezierung der vielen als Beispiele besprochenen Werke nach ihren Methoden finde ich sehr interessant als Anregungen für eigene Ideen, in die man die hierbei erkannten Mechanismen nutzen und die beobachteten Fehler vermeiden kann.
[/list]Einen Kommentar von Lem selbst zu "Phantastik und Futurologie" kann man übrigens auf seinen offiziellen Seiten hier nachlesen.
-- tichy