Exodus 37 ist seit langem das erste Werk deutschsprachiger Science Fiction, das ich nicht als ebook lese, und es ist auch die erste Exodus-Ausgabe, die ich mir überhaupt je zugelegt habe. Wenn das mal nicht der perfekte Anlass ist, auch mal eine Rezension zu schreiben! Der Ersteindruck des Magazins ist schon mal super: Tolle Aufmachung, schöner Einband, das Layout weiß zu gefallen - ich hatte mir das ehrlich gesagt gar nicht so hochwertig vorgestellt. Zu den Illustrationen möchte ich nicht allzuviel sagen. Das Magazin gibt vielen unterschiedlichen Künstlern und Stilen Raum: von der traditionellen Zeichnung bis zu digitalen Collagen, Anfänger neben Profis - das finde ich gut. Persönlich kann ich wenig mit 'Digital Art' anfangen, und so gefallen mir die Illustrationen von Jascha Gerhardt und Hubert Schweizer am besten. Die Gedichte, nun ja. Lessing ist ein Klasiker, da muss man nichts zu sagen. Johannes Tosins "Teleskop" vermittelt schon irgendwie eine Art romantische Sehnsucht nach den Sternen, klingt aber mit leicht alberner Note aus. Zum dritten "Gedicht" komme ich weiter unten. Also, auf zu den Storys! Achtung! Der folgende Abschnitt enthält viele Spoiler, die ich nicht alle allzugut mit Spoilertags verdecken kann.
1. Jimmy Ahmleth von Daniel Habern Der Konflikt zwischen Mensch und menschenähnlicher Maschine aus der Sicht eines gegen diesen Roboter rebellierenden Kindes. Der Roboter ist eine Art Kindermädchen, aber seine Autorität wird von dem Jungen nicht akzeptiert. Am Ende der Story erkennt der Junge, daß er sich nicht mit Gewalt, sondern nur mit List gegen die Maschine behaupten können wird. An sich ein interessantes Thema, auch wenn man meint, das das Verhältnis von Androiden und Menschen bereits zur Genüge abgehandelt worden ist. In dieser Geschichte passiert nicht viel, es wird nur viel geredet und über Handeln nachgedacht - und weiteres Handeln in die Zukunft verlegt, aber davon können wir natürlich nichts lesen. Sucht man nach einer Aussage des Textes, dann ist es vielleicht die: Dass Roboter und Menschen innerhalb einer Familie ähnliche Rollen einnehmen (können), was zu Konflikten führt. Leider bleibt die Story hier so oberflächlich, reißt diesen Konflikt nur an, sodaß man als Leser kaum Gewinn daraus ziehen kann. Ergänzend sei bemerkt, daß dies mal wieder eine dieser Geschichten ist, die mit englischen Namen versuchen, cooler zu sein, als sie sind.
2. Die Läuterung von Dirk Alt Dies ist vielleicht der beste Text der Ausgabe und zugleich der schlechteste. Aber der Reihe nach. Mein Eindruck nach dem ersten Lesen war: Beeindruckender Text, spannend, mit gut umgesetztem Plot, der seine Ambivalenz auf die Spitze treibt. Aber je mehr ich im Anschluss darüber nachdachte, desto mehr beschlich mich das Gefühl, daß der Text vielleicht gar nicht so ambivalent sein will. Der Protagonist ist ein Asozialer, der sich zeitlebens gegen das herrschende System gewehrt hat. Entlassen aus einem Arbeitslager erhält er die Chance, an einem Läuterungsprogramm der "Staatsjugend" (StaJu) teilzunehmen, um endlich in die Gesellschaft integriert werden zu können. Vorbild für die StaJu ist natürlich die HJ; Kameradschaft, Sittenstrenge und Wehrhaftigkeit sind ihre höchsten Tugenden, die auch Grundvoraussetzungen für den Bürgerstatus sind. Im Laufe der Story, die eigentlich eine Novelle ist, gibt der Protagonist allmählich seine Widerspenstigkeit auf und wird schließlich Mitglied der StaJu, womit er glücklich ist und ihm die Zukunft offensteht. Der Eindruck von Ambivalenz ensteht hauptsächlich dann, wenn man als Leser eine ablehnende Haltung zur NS-Zeit hat, wenn man fast automatisch an Indoktrination, Gehirnwäsche, Unterdrückung und Mord denkt. Es gibt die Parallele StaJu - HJ, aber sie ist nur äußerlich, die Figuren verhalten sich ganz anders als vermutet. Man könnte also denken, hier werden auf die bekannten Klischees verzichtet, mit denen man üblicherweise und durchaus plakativ die Handelnden totalitärer Systeme charakterisiert und beschreibt; man könnte auch meinen, es gäbe hier eine Parallele zu 1984, dessen Protagonist ungerechtfertigterweise in die Systemkonformität gezwungen wird. Nur: Es ist keine bewusste Entscheidung zu klischeefreier Beschreibung 'des Bösen' erkennbar und Diederich Holdling ist nicht Winston Smith - er und die anderen Devianten verdienen ihre Bestrafung. Überhaupt, der Text gibt sich die größte Mühe, die StaJu in bestmöglichstem Licht darzustellen: Ihre Anführer und Mitglieder sind tatsächlich fair, sitt- und strebsam, auf Ausgleich und ehrliche Kameradschaftlichkeit bedacht, während die "Devianten", die Asozialen, die Widerständler zu Gewalt und 'unzüchtigen Gedanken' neigen und auch schon äußerlich ihren Lebenswandel anzeigen und so klar negativ erscheinen (Fettleibigkeit oder durch Drogen ausgezehrte Körper usw.). Zwei der Devianten, in denen der Protagonist zunächst Verbündete sieht, die ihn aber bei der ersten Gelegenheit verraten, heißen Mosche und Bog (genannt Buck). Zufall wird es ja wohl kaum sein, daß der eine einen jüdischen Namen trägt und der des anderen im Prinzip sowas wie 'Finanzsumpf' bedeutet... Und auch andere Namen sind sprechend: Reinerz ist selbsterklärend; Diederich Holdling verweist auf Volk und Treue. Das Schlüsselerlebnis des Protagonisten, nach dem er seinen Widerstand aufgibt und ernsthaft das Ziel hat, ein treuer Staatsbürger zu werden, ist seine Erkenntnis, dass sein Hass auf das System durch Neid auf die systemkonform Lebenden verursacht wurde. Er erkennt also die niederen Beweggründe für seinen Widerstand. Und wenn man am Ende tatsächlich mit einem schmissigen Lied auf den Lippen dem Sonnenaufgang entgegenmarschiert, ist die Dichotomie perfekt (und da ist dann auch der historische "Massenmord an den europäischen Muslimen" nur noch halb so schlimm, immerhin redet man ja darüber im Rahmen der Aussöhnung). Um nochmal auf meine Eingangsbemerkung zurückzukommen: Der Text ist handwerklich sauber geschrieben, er versteht es, den Leser zu führen - man kommt nicht umhin, für den Protagonisten zu hoffen, dass er seine negativen Einstellungen überwindet, dass er es trotz aller Widrigkeiten, die in ihm selbst begründet sind, schafft, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Aber für jemanden, der weder für AfD noch Identitäre Bewegung Sympathien hat, muss der Text aufgrund seiner so positiv dargestellten Gedankenwelt befremdlich wirken. Apropos befremdlich: Direkt im Anschluss an diese Story folgt mit "Vater unser" von Arnold Spree (bei dem es sich um das Pseudonym des ehemaligen Herausgebers Heinz Wipperfürth handelt und dessen Kurz-Bio in dieser Ausgabe sich wie folgt liest: "[...] kämpft mit satirischer Feder und scharfem Schwert um die Befreiung Konstantinopels (heutiges "Istanbul") aus der Herrschaft der Osmanen.") ein Spottgedicht auf Erdogan, das hauptsächlich dazu dient, den Islam als blutrünstigen Widersacher darzustellen (dabei gibt es natürlich durchaus angebrachte Kritik an Erdogans Politik, wie z.B. die aktuelle Kurdenverfolgung, aber wahrscheinlich ist die "Islamisierung des Westens" viel schlimmer). Jedenfalls ist das ein rein politisch-ideologischer Text ohne jeden phantastischen oder SF-Bezug, und man kann sich durchaus die Frage stellen, ob die Gruppierung der beiden Texte Zufall ist. 3. Upgrade für Sandra Meier von Angela & Karlheinz Steinmüller Eine etwas primelig-provinzielle Wirtschaftsmathematikerin soll aufgrund ihrer Formeln in eine Gruppe von "Experimentatoren" (die natürlich keine Verschwörer sind, nein nein), die im Hintergrund die Weltwirtschaft manipulieren, rekrutiert werden, was sie letztlich ablehnt. Pointe der Story: Die Formeln werden trotzdem benutzt, weisen aber einen nicht bemerkten Rechenfehler auf, was die Märkte zum Absturz bringt. Die Protagonistin quittiert das lediglich mit der Frage an sich selbst, wie ausgerechnet ihr dieser Fehler hatte passieren können. Die Formeln sind in dieser Story ein Gimmick, das kaum nachvollziehbar bleibt; im Grunde geht es hier nur um den Kontrast von der schillernden Welt des Hochfinanz- und Wirtschafts- "Adels" und Provinzialität. Ist vielleicht humorig gemeint, das Ganze, aber ich weiß nicht recht ... *schulterzuck*
4. Check Out von Thomas Kolbe Geschichte über ein Billighotel, wo man sich, statt ein vollwertiges Zimmer zu mieten, einfrieren lassen kann. Im Wesentlichen harmlos-nette Story mit vorhersehbarer Pointe und ohne wirkliche Aussage oder Tiefe.
5. Das Zeichen von Erik Simon Überhaupt keine Science Fiction, sondern Fantasy. Wieso hat diese Geschichte Aufnahme ins Magazin gefunden? Immerhin: Die Idee, dass ein beschworener Dämon den Beschwörer seinerseits in einen Bannkreis zwingt ist ganz amüsant, aber als tragende Idee viel zu wenig. Vieleicht als Episode oder funktionales Element in einem RPG ganz reizvoll, aber nicht für eine eigenständige Story.
6. Krankenbesuch von Rolf Krohn Ein Außerirdischer besucht die Erde und verstößt gegen das Gebot der Nichteinmischung, indem er eher zufällig und ungewollt Menschen heilt. Prinzipiell ist die Story ein Plädoyer für die Einmischung, wenn es um Leid und Leben geht, gerade wenn dies persönliche Konsequenzen nach sich zieht. Dafür jedenfalls Daumen hoch!. (Frage am Rande: Hat es eine Bewandnis mit der Betonung von Wittenberg? Man hat den Eindruck, da ist eine tiefere Bedeutung, aber ich sehe sie dann doch nicht...)
7. Schneefall von Arno Behrend Story über den Existenzkampf von intelligenten Produktionplattformen auf der Venus. Das beschreibt Prämisse, Plot und Aussage des Textes in einem Satz. Mehr ist da leider nicht.
8. Das Universum von H. D. Klein Sehr kurzer Text über eine Fliege, deren Welt aus dem Inneren einer Lampe besteht, die durch deren Zerstörung jäh erweitert wird. Es geht hier natürlich um das Sich-Selbst-Überschätzen und den Scheuklappenblick auf seine Umgebung. Die Story ist ganz okay, wenn auch nicht weltbewegend.
9. Die Wettermaschine von Lothar Nietsch Recht interessantes Post-Apoc-Szenario, in dem die verbliebenen Menschen in Stammesstrukturen leben und die Vergangenheit nur teilweise und verfälscht tradiert worden ist. Leider macht das mißlungene Ende das Potential der Story zunichte. Der Autor hätte ein schönes, "utopisches" Ende finden können, das möglicherweise das gemeinsame Inbetriebnehmen der Station darstellt, mit einem positiven Ausblick in die weitere Zukunft ... Nun ja. Der Fokus liegt am Ende auf der Dummheit des Protagonisten, der plötzlich ohne erkennbaren Grund - und entgegen seiner vorherigen Charakterisierung als intelligent, rational, gelehrt - auf die Idee verfällt, der Leiter der Raumstation (zu der die Handelnden im Laufe der Geschichte gelangen) sei Gott. Natürlich ist er verzweifelt, als sie dessen Leiche finden, und mit dieser Verzweiflung endet die Story. Wie gesagt, es hätte eine schöne, runde Endzeiterzählung mit sogar positivem Ausblick werden können, leider hat sich der Autor anders entschieden.
10. Seltene Erden von Jan Gardemann Banaler Krimi, dessen SF-Elemente bloße Staffage sind. Immerhin taugt der Text als Begründung für die von einigen vertretene These, daß Inquits hauptsächlich mit "sagen" und "fragen" gebildet werden sollten.
11. Weihnachtsmann von Maksym Shapiro Außerirdische verzichten auf die Invasion der Erde aufgrund von mißverstandenen Fiktionen (Weihnachtsmann, SF etc.). Anfänglich ist die Story wirklich toll: Der Austausch zwischen Katja und den "orangenen Grashüpfern" ist lustig, aber leider hat der Text letzten Endes nicht mehr als dieses abgedroschene Thema zu bieten. Sehr schade. Fazit: Was mir bei den Storys durch die Bank auffällt, ist daß sie im Vergleich mit vielen anderen Veröffentlichungen deutscher SF stilistisch unauffällig bis sogar gut sind. Es gibt nur einen echten Ausreißer, bei dem wohl die Heftromanroutine durchschlägt. Ich wünschte mir jedoch, daß die Autoren vielleicht etwas mehr zu sagen hätten, ihren Texten hier und da etwas mehr Tiefe gestatteten. (Und ja, mir ist die Ironie durchaus bewusst, dass ausgerechnet die beiden Texte, die in dieser Ausgabe am meisten auf 'politische Tiefe' zielen, mir eher Befremdung als Begeisterung verursachen.)
Bearbeitet von schilling, 16 Februar 2018 - 22:08.