tichy, on 27 Jul 2004, 20:44, said:
Wenn ich dann mal mit gleicher Münze zurückzahlen darf: Alles in allem habe ich den Eindruck, dass in erster Linie diejenigen Lem nicht mögen, die (zumindest unterbewusst) wissen, dass er dummerweise Recht hat. Und zwar seit Jahrzehnten in fast allem, was er von sich gibt.
Sehen wir's mal realistisch: Bis etwa Mitte der Siebzigerjahre war Lem noch ein wichtiger SF-Autor. Was danach
kam, ist nicht mehr der Rede wert, und sein Spätwerk ist einfach nur noch eine große Peinlichkeit. Ich habe mir für
einen Beitrag im letzten SF-Jahr bei Heyne sein essayistisches Alterswerk vorgenommen und, glaube ich, nachweisen
können, daß er von den Themen, über die er sich wichtigtuerisch ausließ, überhaupt keine Ahnung hatte. Ohne den
Namen Lem auf dem Cover wären Bücher wie "Die Technologiefalle" oder "Riskante Konzepte" wohl nie veröffentlicht
worden.
Mit anderen Worten: In den letzten dreißig Jahren seiner Karriere (!) hat sich Lem praktisch nur noch auf seinem früherem
Ruhm ausgeruht. Und in dieser Zeit hat er nach und nach auch das verloren, was ihn früher einmal ausgezeichnet hat: In
den Sechziger- und Siebzigerjahren war er mit seinen wissenschaftlichen Kenntnissen auf der Höhe der Zeit. Davon ist am
Schluß nichts mehr geblieben als großmäuliger Dilettantismus. Seine Ausführungen über Informatik, Künstliche Intelligenz,
Internet zeigen nur, daß er die elementarsten Dinge nicht verstanden hat. Ein trauriger Abstieg.
Quote
Lem mögen deshalb einerseits diejenigen nicht, die SF als Eskapismus lesen, andererseits diejenigen, die SF literarisch betreiben wollen, aber erkennen, dass sie Lem nicht ansatzweise das Wasser reichen können.
Gegen Leute, die SF nur aus Eskapismus betreiben, habe ich selber etwas, und mit Lem vergleichen möchte ich mich nicht.
Aber ich habe Dutzende Bücher übersetzt, kenne daher die Niederungen der SF vermutlich besser als Du, und ich lese jede Menge Literatur außerhalb der SF, deshalb traue ich mir schon zu, literarische Leistungen ungefähr einordnen zu können. Und nach bestem Wissen und Gewissen kann ich nur zu dem Urteil kommen, daß es maßlos übertrieben und einfach nicht gerechtfertigt ist, Lem als eine literarische Ausnahmerscheinung in der SF zu betrachten. Ich könnte auf Anhieb zahllose SF-Autoren nennen, die ihn in dieser oder jener Hinsicht schriftstellerisch überlegen sind:
- es gibt in der SF wesentlich kunstvollere, raffiniertere und stilvollere Erzähler als Lem, etwa Gene Wolfe, LeGuin,
Cordwainer Smith, Avram Davidson, Lucius Shepard, auch außerhalb des englischen Sprachraums, die Strugatzkis
zum Beispiel, Gerard Klein, Michel Jeury, Svend Age Madsen usw.
- selbst in seinen besten Büchern war Lem ein eher konservativer Erzähler; was moderne, dynamischere Schreibweisen
angeht, gibt es in der SF bessere als ihn, z.B. Tiptree, Malzberg, Sladek, Carter Scholz, McDonald, Gibson usw.
- wenn man genau hinschaut, war Lem ein Technokrat; Menschen haben ihn nicht sonderlich interessiert, und deshalb
hat er nie etwas geschrieben, was auch nur annähernd an die Intensität herankommt, die ein - zugegebenermaßen viel
schlampiger schreibender - Autor wie Philip K. Dick erreicht hat - was ein Grund dafür sein dürfte, warum Dicks
Bedeutung immer weiter gewachsen ist und Lem für die SF immer unwichtiger wird.
Aber es geht nicht darum, Autoren gegeneinander auszuspielen oder aufzuwiegen. Es ärgert mich nur, wenn Leute, die
sich ganz offensichtlich mit der SF nicht auskennen, einen Autor zur Gallionsfigur erheben und darüber alles andere
disqualifizieren. Ganz nach dem Motto: was ich nicht kenne, das gibt es nicht. Es ist immer noch unsäglich, welche
Unmengen an Schrott in der SF produziert werden, und wenn ich mir viele der erfolgreichen SF-Romane der letzten
Jahre ansehe, fürchte ich, daß sich zur Zeit ein völliger Verfall der Erzählkultur in der SF abspielt. Und gerade deshalb
bin ich persönlich für
jeden Autor dankbar, der die SF um interessante literarische Leistungen bereichert. Selbst
wenn Sturgeon damit recht hatte, daß 90% von allem Mist ist, sind die 10% SF, die nach kritischer Sichtung übrig
bleiben, immer noch eine ganze Menge. Und das war eben nicht Lem allein.
Gruß
MKI
Bearbeitet von Michael Iwoleit, 04 April 2007 - 01:09.