Hallo zusammen,
Thomas Wörtche ist ein kritischer Geist - vor allem auf dem Feld der Kriminalliteratur. In einem Artikel im Culturmag (culturmag.de) benannte er Anfang 2020 das Problem aktueller Kriminalromane wie folgt zusammen:
Nicht mehr ein Erfolgstitel wird kloniert (Dan Brown ist dafür ein gutes Beispiel oder die Welle der „Öko“-Thriller im Gefolge von Frank Schätzings „Der Schwarm“), sondern einzelne, als besonders verkaufsträchtig eingeschätzte Elemente werden kombiniert, als störend oder verstörend eingeschätzte Elemente schon vor dem Produktionsprozess ausgeschlossen. Den Konzernverlagen (und dem Kettenbuchhandel, der mit der Forderung nach immer mehr „optimierten“ Produkten in die Verlagsprogramme hineinregiert) arbeiten „Schreibschulen“ und ähnliche Unternehmungen zu, die ein Regelwerk von „geht“ in einem Kriminalroman oder „geht nicht“ erstellen, das nicht mehr von ästhetischen, poetologischen oder erkenntnistheoretischen Erwägungen geleitet wird, sondern von rein betriebswirtschaftlichen.
*zu finden im zweiten Teil von "Crime Fiction und das literarische Feld in Deutschland" zu finden da -> http://culturmag.de/...d-teil-1/123561
So wie im Krimi werden wohl auch bei Dystopien (und gewiss auch anderen Subgenres der SF) verschiedene Module so kombiniert, dass das Endprodukt verkauft werden kann. Natürlich muss verkauft werden, aber wenn man sich Wörtches Artikel durchliest, dann stößt man auf all die Autoren, die in den 80ern und 90ern innovativ und experimentierfreudig (erzählerisch, stilistisch ...) den Krimi aus den Tiefen der vermeintlichen "Schundliteratur" bis in die Feuilletons hinein geschrieben haben. Auch die wurden gekauft (teils sogar sehr gut), sind aber inzwischen trotz des enormen Anwachsen des Krimi-Marktes so gut wie verschwunden.
Und damit bin ich wieder bei "Tribes of Europe" und meinem "Von allem Etwas und das im chicen Look" - auch wenn ich jetzt nur den Trailer (und eine kurze Inhaltsangabe) für meine Einschätzung heranziehen kann, ist da für mich nur Schema F.
Und damit bin ich bei meinem Delany Dilemma. Sein Roman "Nova" und der Erzählungsband "Treibglas" haben mir das Lesen von SF arg verleidet. Wenn ich sehe bzw. lese, was alles möglich war, frage ich mich, warum das nicht mehr möglich ist. Okay, natürlich ist es noch möglich, es gibt Autoren wie Dath, Marrak, Post, Iwoleit ... Aber denen stehen die Vorschaulisten der Verlage gegenüber - in denen sich vermehrt Autoren finden, die als Selfpublisher feste - also buchhalterisch planbare - Größen geworden sind.
Wo bleibt in den Vorschaulisten das Mutige, das Visionäre? In der Dystopie? In der Space Opera? Und, und, und ...?
Mit "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" gab es vor gar nicht mal all zu langer Zeit einen (Alternativ-)Roman, denn ich als "mutig" bezeichnen würde. Und mit Raphaela Edelbauers "Dave" (ich habe ihn angefangen zu lesen und bin hellauf begeistert) gibt es wieder einen Roman, den ich (Stand: Seite 50) als mutig bezeichnen würde. Und wo erscheinen diese Romane? In SF-Reihen? Nö. Und wer erinnert sich an Arno Schmidts "Gelehrtenrepublik" oder an "KAFF auch Mare Crisium"?
Mir liegt nichts ferner, als hier eine Diskussion über was-ist-gute, was-ist-weniger-gute und was-ist-schlechte SF anzustoßen. Geschmäcker sind verschieden. Und sie werden auch nach dem fünften Zoff verschieden bleiben. Es geht auch nicht um geht und schlecht. Es geht mir um Fortschritt. Und ich darf mir doch wünschen, dass es trotz der Brandhorstisierung und Eschbachisierung der SF (au weia, ich habe es wieder getan ...) auch noch Neues in Sachen SF gibt, eben das Innovative, das Experimentelle, das Mutige - eben etwas, das sich nicht liest, wie nach Erfolgsrezept (aka Schema F) zusammengeschrieben.
Ja, ich weiß, ich bin off-topic geworden, daher noch flott zurück zum Thema: Ich frage mich, wie ein dystopischer Roman sein müsste, der mehr bietet als das Einerlei aus bekannten Versatzstücken? Mit "Finsterwalde" hat Max Annas tief ins Herz des Politischen gezielt - aber er ist eh ein sehr politischer Autor (der die Kunst beherrscht, das nicht aus seinen Texten herausquillen zu lassen).
Ein letztes off-topic: Ich wusste noch nicht, dass Saltatio Mortis eine Metall-Band ist, ich habe die immer für eine Mittelalterband gehalten. Okay, die letzten CDs klingen arg nach Metall (die aktuelle habe ich mir deshalb schon nicht mehr gekauft), aber "Manufactum II" z.B. ist richtig schön fetziges Mittelalter ...
Und nun schalte ich zurück zu Edelbauers "Dave".
Viele Grüße
Tobias