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Die Kultur der SF erlebt eine bedeutssame Krise


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62 Antworten in diesem Thema

#61 molosovsky

molosovsky

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Geschrieben 09 September 2004 - 11:20

Ich habe mich in diesem Thread schon gehörig breit gemacht †¦ hier ein weiteres Puzzle-Teilchen, daß mir mit meinem weitgestellten Fokus beachtenswert scheint. Ein Bericht über den 12. Germanistentag in München. Auszüge aus aus »Die erschöpften Germanisten« von Thomas E. Schmidt in der »Die Zeit« Nr. 38/2004 (09. Sept. 2004):

Es verwundert, wie selten und zögerlich sich die Germanisten, auch die politisch artikulationswilligen unter ihnen, auf das Ästhetische an der Literatur beziehen. Gemeint ist jene Beschaffenheit, die sich historiografischen Einordnungen beharrlich entzieht, das Realitätszerstörende, Utopische an ihr, ihr Anarchisches und Libertäres. Dass der Gedanke der ästhetischen Überschreitung, Übertretung ein untergründig politischer sei und sogar über eine historische Dimension verfüge, scheint den Denkstilen des Fachs entgegenzustehen. †¦ Das Verhältnis der Fachgermanistik zur aktuellen Kunst blieb danach im Wesentlichen unglücklich. Nur wenige setzen sich heute ernsthaft mit neu erscheinender Literatur auseinander. Und theoretisch anspruchsvolle ästhetische Positionen vertritt weder die Literaturwissenschaft noch die Literaturkritik. Die Kanonbildung ist an die TV-Selbstdarsteller und die Marketingabteilungen der Verlage übergegangen. Dabei wäre gerade in dieser Diskussion die Stimme einer ihrer Aktualität gewissen Literaturwissenschaft von Interesse gewesen. †¦ Die Literaturwissenschaft richtet sich an die Literaturwissenschaftler, nicht an ein fiktives Ich in der Gesellschaft, das an seiner Gegenwart interessiert, womöglich von ihr fasziniert ist - und damit auch an der Spannung, in der die Literatur zur Wirklichkeit steht.

Zum Verständnis wichtig ist, daß ich DIE PHANTASTIK und damit auch die SF für eine ästhetische Gattung halte. Freilich kann man die Unterscheidung von Fiktions-Welten auch moralisch sehen - und Phantastik/SF-Feunde kennen derartige Vorwürfe. †¢ die GUTE fiktionale Literatur bildet die Wirklichkeit ab, maßt sich keine ontologische Gestaltung der Fiktionswelt an, entwirft also keine mögliche, parallele, alternative Welten. †¢ und SCHLECHT ist, wenn die ästhetische, kreative und gestaltende Autonomie sich herausnimmt, Fiktions-Welten zu entwickeln, die in direkte Konkurrenz zu den etablierten und traditionellen metaphysischen Großphantasmen treten. Allein die Tätigkeit, verschiedene phantastische Weltentwürfe zur ästhetischen Bewertung zu vergleichen, relativiert die alten Großphantasmen. Schnell stünden sich zum Beispiel zwei gegensätzliche Typen von fiktional-phantastischen Welten gegenüber: †¢ Phantasmen der Sinngebung (betont die tröstende, aufbauende, beruhigende Wirkung von Phantastik; man darf staunen und sich fürchten, je nach Himmel- oder Hölle-Charakter der geschriebenen Exotik; Hang zu manichäischen Güt/Böse-, Licht/Finsternis-Ordnungen; die Gestaltung der phantastischen Welt untersteht ideologischen Absichten); †¢ Phantasmen der Sinnerweiterung (betont die herausfordernde, verstörende und aufregende Wirkung von Phantastik; einfache traditionelle Moralkategorien relativieren sich in komplexen, vielschichtigen Phantastik-Schöpfungen; die Gestaltung der phantastischen Welt ist kreativ motiviert). Zwar verständlich, daß eben zum Beispiel Germanisten einen so gründlichem Konflikt mit ihren Nachbarn (Theologen, Philosophen) scheuen und sich lieber den Gesellschaftswissenschaften an den Hals werfen. Außerdem verlangt die Phantastik - wenn man sich ihr theoretisch annimmt - ein ungleich brazigeres und zugleich feineres Begriffs- und Interpretationswerkzeug, als man zum Beispiel braucht, um Geschichten lediglich daraufhin abzuklopfen, ob die Probleme der Arbeiterklasse oder die Unterdrückung der Frau korrekt abgebildet sind. Schöne Beispiele findet sich auch in der heutigen »Die Zeit« im ergänzenden Artikel »Auf den Klassenstandpunkt kam es an«. Grüße Alex / molosovsky

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

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#62 Henrik Fisch

Henrik Fisch

    Soeinnaut

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Geschrieben 09 September 2004 - 12:00

@molosovsky:

die GUTE fiktionale Literatur bildet die Wirklichkeit ab, maßt sich keine ontologische Gestaltung der Fiktionswelt an, entwirft also keine mögliche, parallele, alternative Welten.

Das wäre für mich zum Beispiel eine Definition, welche die komplette Literaturgattung der SF/Utopie/Phantastik/Fantasy/Horror sofort ausklammert und automatisch auf die Seite der SCHLECHTEN fiktionalen Literatur stellt. In die GUTE Sparte würde für mich dann eigentlich nur noch so etwas wie Krimis und Liebesgeschichten passen, und ich wage zu bezweifeln, dass neue Denkanstöße mit Hilfe dieser Literaturgattung zu leisten sind; vor allem mit Blick auf die zu erwartenden Leserschichten. In dem Fall kann man dann tatsächlich von einer bedeutenden Krise der SF sprechen. Sachliteratur klammere ich hier jetzt einmal aus.

Rein aus dem Bauch heraus würde ich die Definition der von Dir genannten guten und schlechten fiktionalen Literatur umdrehen, soll diese These in einem SF-Forum Gehör finden.

ontologische Gestaltung der Fiktionswelt

Was verstehst Du denn eigentlich genau unter diesem Begriff? Oder: Was wäre für Dich eine nicht ontologische Gestaltung einer Fiktion?

Bis dennen,
Henrik

Bearbeitet von Henrik Fisch, 09 September 2004 - 12:08.

Gerade fertig gelesen
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#63 molosovsky

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Geschrieben 09 September 2004 - 13:49

@ Henrik:
Die oben von mir angeführte exemplarische Einteilung von GUTER und SCHLECHTER Literatur sollte die Argumentation der »Verächter der Phantastik« erläutern. So wie ich (mit aller Bescheidenheit des letztendlich Geschmacksurteilenden) die Möglichkeiten der Phantastik verstehe, muß man GUT und SCHLECHT bei dem Beispiel oben austauschen. Ich finde es eben gut, wenn fiktionale Welten als Konkurrenz zu *tatsächlichen* oder mehrheitlichen Wirklichkeits-Auffassungen antreten.

Unter ontologische Gestaltung einer Fiktionswelt verstehe ich grundlegende Seins-Abweichung der Fiktionswelt von der wahrgenommenen Welt. Natürlich ist die Umschreibung wahrgenommene Welt schwammig, denn darunter kann man sowohl die Wahr-Aussagen der Wissenschaften (exakt und empirisch), die Explikationspraxis mit Instrumenten, die Datenerhebung und -Auswertung verstehen, aber eben auch die impressionistischen, subjektiven, launengeprägten Aussagen der Selbst- und Umweltwahrnehmung †¦ Eine Aussage wie: »Diese Disco hier ist fad heute abend«, ließe sich durchaus mit (quasi) wissenschaftlichen Methoden gewinnen und formulieren, ist aber kaum sinnvoll und zurecht allen zu mühsam.

Jede phantastische Zutat bei einer Fiktion ist eine ontologische Abweichung von der echten Welt. Die Raumschiffe der Gegenwart haben wenig gemein mit denen vieler Science Fiction-Welten; humanoide Außerirdische sind reine Spekulation sowohl der SF-Zunft, der Verschwörungstheretiker, als auch der Wissenschaft und dergleichen Beispiele mehr.

Aus Autorensicht: für eine realistische Fiktion recheriert und verarbeitet man ausschließlich tatsächliche Gegebenheiten, man entwirft keine Abweichungen zu den ontologischen Gegebenheiten. Geflügelte Katzen, zum Leben animierte Schuhe oder höhere Lebewesen (egal ob KI, Engel, Dæmon oder sowas wie Solaris) sind in realistischen Fiktionen nur als Phantasie, als Gedankenspiel und »subjektive Realität« einer der fiktiven Personen möglich, aber nicht als objektiver Teil der fiktiven Welt. - Um eine weitere Unübersichtlichkeit aufzuzeigen sei angemerkt, daß sich auch im Rahmen von realistischen Fiktionen ausgesprochen phantastische Dinge anstellen lassen. Als Paradebeispiel kann hier wohl »Kaff« von Arno Schmidt herhalten. Real- und Fiktiv-Ebene sind hier schon typographisch deutlich voneinander unterscheidbar.

Jede phantastische Fiktion ist prinzipiell ebenfalls in diesem Raum der tatsächlichen (oder realistischen) Gegebenheiten verortet, sonst ließen sich gar keine nachvollziehbaren Geschichten oder sogar Sätze formen (kein Autor könnte ein lesbares Buch schreiben über eine ausgedachte Kultur, deren Sprache sich um das tausendfache schneller wandelt, als die der echten irdischen Sprachgemeinschaften †¦ »Finnegans Wake« kann als eine der letzten Bojen vor dem totalen Chaos in dieser Richtung betrachtet werden).

Nur eine kleinere (nicht gleich automatisch bessere) Menge phantastischer Welten schaffen es deshalb überzeugend, über den Kulissenbau hinauszugehen und zu zeigen, was vorstellbar ist, wenn man mit den grundlegensten Seins-Gegebenheiten *herumpfuscht*.
Als Beispiel für so einen Text der das wagt, kann ich auf das lesenswerte Buch »Und immer wieder die Zeit - Einstein's Dreams« von Alan Lightman hinweisen. Meiner Meinung waschechte SF, wenn Albert Einstein als junger Patentamtangestellter 1905 bei seiner faden Arbeit von 30 möglichen Welten träumt, in denen die Zeit sich sehr anders als in unserer Welt verhält. (Oder wie Morpheus es umschreiben würde, konnte Einstein eben die Regeln und Gesetzte der Matrix in seiner Phantasie ganz gut ausschalten, umgehen und verbiegen).

Das alles denkt sich bei mir halt so, weil ich moralische Kategorien der Kunst- oder Unterhaltungsprodukt-Betrachtung für überholt halte. Ich gehe lieber von ästhetischen und interpretations-ökonomischen Gesichtspunkten an solche Sachen rann. Das allein steigert den Wert von Phantastik ungemein.

Grüße
Alex / molosovsky

P.S.: Ach ja Henrik: ich teile Deine Meinung, daß man nicht nur sklavisch auf NEUE IDEEN Wert legen sollte. Gutes Variieren, Permuiteren, Kombinieren, Auswählen des Bildrahmens usw können sehr unterhaltsame und erhellende Geschichten hervorbringen, und sich dabei nur aus »dem Fundus bedienen«, ohne ein neues Requisit oder Kostüm zu kreieren.

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