Ein Werkstattbericht von Sven Haupt zu "Wo beginnt die Nacht"
(Gepostet mit Einverständnis des Autors)
"Der Roman Wo beginnt die Nacht entstand, weil ich mich zu lange über Klischees aufgeregt habe. Er ist gewissermaßen das Ergebnis einiger gesammelter Unzufriedenheiten, oder einer inneren Liste von Stereotypen, welche zu lang wurde. Nervige Motive, die ich langsam mal irgendwo adressieren wollte.
Ganz oben auf der Liste stand die Frage, warum die Welt eigentlich immer von Männern gerettet wird. Nun, der Teil ist jetzt nicht schwer. Das lässt sich ja mit geringem Aufwand korrigieren. Schicken wir halt einfach eine Hobbit-Dame los. Mein Unmut ging jedoch noch weiter. Was ist das eigentlich mit der Unschuld vom Lande, die eines Tages in ihrem Heimatdorf Besuch von dem mächtigen Magier, dem Botschafter, dem Geist, dem Roboter bekommt, um zu lernen, dass ihr die Rettung des Landes, oder der Welt, oder des Universum bestimmt ist? Das diese Bestimmungen, oder Weissagungen, oder Überlieferungen gerne die Hälfte der Menschheit übersehen ist schon schlimm genug, aber ist es nicht seltsam, dass nie jemand völlig Falsches auserwählt wird? Ich finde das verdächtig. Man würde doch meinen, dass nur jeder zehnte Auserwählte es überhaupt schafft die Welt zu retten. Der Rest marschiert in die falsche Richtung davon, vertickt das magische Schwert auf eBay, um eine Playstation zu kaufen, oder gerät in eine Superspreading-Schlacht, wird von seinen Gefährten angsteckt, sitzt zu lange in Quarantäne und verpasst den letzten Kampf zwischen Gut und Böse. Oder, und das wäre wahrscheinlich meine Lösung: Die Heldin hat keinen Bock die Welt zu retten, weil verblüffend unfähig und unmotiviert, seit sie herausgefunden hat, dass der Zauberstab zur Drachenabwehr auch Wasser in Cocktails verwandeln kann.
Long story short: Ich wollte unbedingt einen unfähigen Auserwählten. Jemanden für den sich das Universum schämen sollte. Und überhaupt: Mit einem übermächtigen magischen Wesen an seiner Seite kann jeder die Welt retten. Was mich zu meinen nächsten Klischee brachte: Ist es nicht erstaunlich, wie die Kräfte des Guten praktisch auf Knopfdruck die Reihen gegen das Böse schließen? Und so zuvorkommend für jede Auserwählte. Ich würde jetzt erwarten das sich das Böse leise kichernd einen frischen Kaffee holt und danach amüsiert beobachtet, wie die Auserwählte von fünfzig verschiedenen Interessengruppen korrumpiert und zerrissen wird. Im wahren Leben wird der Zugang zum Schicksalsberg von Lobbyisten bewacht. An meiner Heldin sollten pausenlos konkurrierende Kräfte zerren. Es ist doch viel realistischer, wenn ihr zehn wohlmeinende Finger den Weg ins Licht zeigen, jedoch jeder in eine andere Richtung weist. Wie rettet man ein Universum, wenn man nicht weiß wie, und wenn niemand der Unterstützung sein sollte, wirklich hilfreich ist? Ich erwartete chaotische Verhältnisse, die sich bis auf die Chronologie der Erzählzeit auswirken. Leser lieben es, wenn man Unsinn mit der Zeitlinie macht (#Ironie).
Wenn aber Chaos und völlige Unverständlichkeit die Hauptfaktoren des Erzählens sind, was bedeutet das dann für den Weltenbau? Ich habe lange darüber nachgedacht, wie sich ein Universum repräsentieren würde, dass in eine Zerstörung gleitet, welche sich aber eben nicht in bekannt simpler Weise erfassen lässt. (Im Sinne von: Seht dort, die Bösen. Man kann sie gut erkennen, denn sie sind schwarz!) Mir schien es eine gute Gelegenheit ein weiteres Klischee anzugehen, denn mein Universum ist überaus seltsam, um nicht zu sagen: Weird. Nicht in der Science-Fiction und auch nicht in der Fantasy. Eine saubere Trennung zwischen den beiden Genres hat mich sowieso nie überzeugt. Es ist überaus verführerisch Grenzen zwischen Genres auszulösen, jedoch auch sehr gefährlich, denn es geht leicht schief. Benutzt man die Motive zu unbeholfen, entdeckt man kein neues Potential, sondern verärgert die Leser. Ein Magier auf der Brücke eines Raumschiffs führt dann schnell dazu, dass sowohl die SciFi-Fans als auch die Fantasy-Anhänger zu den Fluchtkapseln rennen, um sich aus dem Buch zu sprengen. Es musste also darum gehen Motive zu finden, die in beiden Genres funktionieren und dennoch permanent die Frage nach Zugehörigkeit aufwerfen.
Da hatte ich also mein Setting. Befremdliche Rettung eines seltsamen Universums mittels unfähiger Auserwählter. Jetzt fehlten noch die grundlegenden Fragen …
Nachdem ich das Setting etabliert hatte, brauchte der Roman noch die grundlegenden Fragen. Ich habe zwei gefunden: Die erste fragt, woher die Dunkelheit in uns kommt und was mir tun können, um ihr entgegenzutreten. Daran schließt sich direkt die zweite an, nämlich wie sich die Antwort auf die Identität einer Heldin auswirkt, wenn jeder Einfluss auf sie eine andere Agenda hat. Oder, in einfacheren Worten: Wie frei sind wir eigentlich, wenn es darum geht ein Universum zu retten?
Die erste Frage steht bereits als Titel auf dem Buch.
Im gesamten Universum kommen alle Zeitlinien nach und nach zu einem Ende, weil in jeder von ihnen eine ewige Nacht anbricht. Monster und Parasiten überfallen alle Welten, Religionen und politischer Fanatismus zerstören jede Existent und die ewige Dunkelheit begräbt das Leben unter sich.
Doch diese Nacht ist nur ein äußeres Symptom, eine plakative Visualisierung der Vorgänge im Innern der Menschen. Dort beginnt die Dunkelheit oft schon viel früher.
Immer wieder stellt sich dabei heraus, dass die Menschen keine hilflosen Opfer der Nacht sind, denn wahre Dunkelheit muss von Menschen eingeladen und aktiv gefördert werden. Vorangetrieben von Menschen, welche vielleicht sogar in der Überzeugung handeln Gutes im Leben zu tun. Woher kommen diese Überzeugungen? Sind es äußere Einflüsse, welche unser Leben in die Nacht hineinziehen, oder sind es die einsamen Entscheidungen, welche wir treffen, wenn wir überzeugt sind, anderen oder einem höheren Zweck zu dienen. Sind wir in diesen Momenten ein Individuum innerhalb einer Gesellschaft, oder nur eines der exekutiven Organe, welches die kollektiven Entscheidungen nach außen tragen?
Darauf aufbauend stellte sich mir sofort die Frage nach der Realität diese bizarren Wesens, welches wir Identität nennen.
Mich hat die Frage bewegt, woher eigentlich dieses merkwürdige Ding kommt, dass wir Identität nennen und welches in der gegenwärtigen Zeit unserer postmodernen Gesellschaft immer mehr Macht und Realität zugewiesen bekommt, scheinbar bis an die Grenze des Doktrinären und manchmal auch weit darüber hinaus. Ist Identität angeboren, oder ist es etwas, was wir erwerben können und wenn ja, wie?
Wie finde ich meine sogenannte Identität? Horche ich nach innen auf eine Stimme der Wahrheit, oder horche ich nach außen, auf dass was mir die Gesellschaft zuflüstert (Respektive heutzutage ins Ohr brüllt). Und wenn in meinem Innern eine Stimme spricht, wem gehört diese Stimme dann? Mir? Wirklich? Um einer möglichen Antwort näher zu kommen habe ich zum zweiten Mal eine meiner Protagonistinnen auf die Suche nach ihren Erinnerungen geschickt. In meinem Roman Die Sprache der Blumen bestand Aufgabe der Heldin darin ihre Rolle zu verstehen und diese aktiv anzunehmen, anstatt darauf zu warten, dass jemand für sie die Entscheidung trifft.
In diesem Buch werden meiner Protagonistin Clawdia ebenfalls die Erinnerungen genommen. Diesmal jedoch bekommt die arme Frau keine Pause, denn umgehend beginnen mehre starke Mächte sie als Mittel zum Zweck zu gebrauchen und ihre Persönlichkeit massive zu beeinflussen und zu formen.
Wenn der Kopf der Heldin also voll mit unbewussten Einflüssen ist, welche ihr Handeln lenken, kann man dann am Ende von einer Identität sprechen, wenn die Protagonistin erklärt sie habe eine Entscheidung getroffen?
Wo beginnt meine eigene Persönlichkeit und wie viel davon gehört tatsächlich mir? Wie viel gehört dem Umfeld, welches mich formt?
Es dürfte niemanden überraschen, dass ich keine endgültigen Antworten auf derart fundamentale Fragen finden kann.
Am Ende muss vieles einfach offenbleiben. Ein möglicher Schluss könnte jedoch implizieren, dass in dem Moment, wo wir uns und unseren Platz gefunden haben und beginnen aus unserem wahren Selbst heraus zu handeln, auch die Dunkelheit in uns ein Ende findet. Zumindest dieser Gedanke tröstet mich."
Der Roman könnt ihr hier vorbestellen:
Wo beginnt die Nacht - Eridanus Verlag - Sciencefiction und Dystopien