Sobald wir sterben, geht auch das Ich das mit genau diesem Gehirn verknüpft war zu Grunde.
Ganz allgemein: Gerade den Schlussfolgerungen, die hier aus dieser Annahme gezogen werden, kann ich ganz und gar nicht folgen. Gerade wenn man davon ausgeht, dass dieses Ich sich nur aus unserem Gehirn konstituiert, dann wäre das Ich auf eine theoretisch kopierbare Menge von Daten und Datenverarbeitungsprozessen reduziert. Wenn ich also nicht eine darüber hinausgehende "Seele" annehme, wäre die Kopie selbstverständlich mein "Ich", und zwar exakt dasselbe Ich, wenn nur die Kopie alle Informationen umfasst. Die Selbstillusion wäre in diesem Fall die Vorstellung, dass an der früheren Existenz etwas Einzigartiges war, das ausgelöscht wurde. Denn wenn sich das Ich auf Algorithmen und Daten reduzieren lässt, dürfte man Probleme bekommen, dieses "verlorene Einzigartige" zwischen Original und Kopie zu spezifizieren.
Ein kleines (oder großes) Nebenproblem ergäbe sich aus der Tatsache, dass dieses Ich vielleicht mal auf anderer Hardware läuft. Wenn ich Word auf meinem Rechner installiere oder auf dem Laptop, dann ist es natürlich dasselbe Programm. Aber obwohl ich das Gefühl habe, dass ich in beiden Fällen mit demselben Programm arbeite, ergeben sich in der Praxis Unterschiede - die sich z.B. in der Anzahl der Programmabstürze zeigen
. Aber genau dieses Problem wird bei Morgan auch sehr ausführlich thematisiert, würde ich sagen.
Und auch die psychologischen Konsequenzen aus dem angesprochenen Zeitunterschied zwischen dem Ich beim Selbstmord und der Reproduktion ergeben sich so nicht zwangsläufig. Gerade wenn ich davon ausgehe, dass mein Ich sich mit jedem Augenblick ändert, fällt mir die Entscheidung für den Selbstmord und den Verzicht auf die letzten Erinnerungen und Veränderungen umso leichter - wenn da nichts wichtiges dazugekommen ist, was ich unbedingt behalten will. Denn dann habe ich mich ja schon damit abgefunden, dass mein Ich ständig im Fluss ist, um einen nicht greifbaren Kern herum; dass ich sowieso schon im nächsten Augenblick ein anderes Ich sein würde - egal ob ich mich jetzt erschieße oder nicht. Wenn ich mir dann also das Hirn wegbrenne und die Version von gestern boote, hätte diese Entscheidung etwa den Stellenwert eines bewussten Vollrausches mit kalkuliertem Totalblackout; nur mit dem Unterschied, dass ich die Folgen vorher besser abschätzen kann.
Also, ich denke, viele der hier angebrachten Überlegungen ergeben sich nicht aus dem Setting im Buch. Sie ergeben sich aus den Erfahrungen des heutigen Lesers, der die im Buch dargestellte Situation eben nicht verinnerlicht hat. Gerade wenn es darum geht, wie Leute
in der betreffenden Situation damit umgehen würden, dann finde ich die Darstellung bei Morgan schon ziemlich differenziert.
Ach so, nach diesen tief schürfenden philosophischen Exkursen zu etwas ganz profanem: Hat eigentlich sonst noch jemandem das Hotel so gut gefallen? Irgendwie ist mir das Hendrix im Verlauf des Romans zunehmend zu einer Hauptnebenfigur geworden. Ich fand diesen "Charakter" und seine Interaktion mit Kovacs klasse!
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)