@dyke:
Die Beschreibung solcher zukünfigte Auswirkungen heutiger Maßnahemn auf den Menschen und die Gesellschaft erhoffe ich mir mehr von der SF.
Das Problem bei dieser Art von SF ist dasjenige, dass sie oft nicht die die Realität fortschreibt, sondern nur die gerade dem Zeitgeist entsprechenden Ansichten. Für das angesprochene Beispiel "demographische Entwicklung" bedeutet das: Zumindest Ende der 90er war der Stand der Fakten noch derjenige, dass das Bruttosozialprodukt seit den 60ern erheblich stärker gewachsen war, als sich die Quote zwischen Rentnern und Erwerbstätigen verschlechtert hatte. Würde man also derzeit denselben Anteil des Volkseinkommens an die Rentner verteilen wie in den 60ern, als das System ja angeblich noch in Ordnung war, dann könnte man sie sogar bezogen auf das Durchschnittseinkommen besser stellen als damals. Tatsächlich ist das Rentenproblem derzeit gar kein demographisches Problem, sondern einfach nur ein Problem des Sozialversicherungssystems: Mit den weniger werdenden Erwerbstätigen wird insgesamt trotzdem mehr erwirtschaftet, und es schrumpft nur der Anteil des erwirtschafteten Vermögens, dass in die Umlage der Sozialversicherungen einbezogen wird.
In der tagesaktuellen Diskussion werden so komplexe Zusammenhänge allerdings gerne ausgeklammert, aus polititschen Gründen oder wegen der Gruppendynamik oder weswegen auch immer. Eine SF, die zu sehr versucht, heutige Probleme in die Zukunft fortzuschreiben, würde mit ziemlicher Sicherheit regelmäßig in solche Fallen hineintappen, und es entstünde genau die Art von Büchern, die immer dem Zeitgeist hinterherhecheln und 10 Jahre später schon sichtlich obsolet wirken.
Wichtiger für die SF finde ich, sich von tagesaktuellen Problemen zu lösen oder zumindest eine ganz neue Perspektive einzubringen. Erst wenn der Autor eine Perspektive gefunden hat, macht es Sinn, auch aktuelle Probleme darin einzuordnen.
@... zurück zum Thema:
Gerade diese allgemeine Komponente - also wenn der Autor versucht, "literarisch" zu werden und gesellschaftliche Probleme oder die Folgen seiner Technologie zu beschreiben - fand ich im "Unsterblichkeitsprogramm" noch die schwächste Komponente. Er versucht es zwar, versucht es sichtlich; und er reflektiert z.B. auch ganz deutlich das Problem der "Bewusstseinswanderung". Aber irgendwie schafft er es nicht, dem Thema noch etwas Neues abzugewinnen. Alles schon mal dagewesen, schon mal so ähnlich anderswo gelesen. Er gestaltet es nur moderner als ältere Werke der SF.
Also, wenn man über komplexere philosophische oder psychologische Fragen diskutieren will, halte ich den Roman für einen wenig geeigneten Einstieg. Er reißt zwar einige Themen an, bleibt aber an der Oberfläche und reißt eigentlich auch mehr an, als er adäquat behandeln kann.
Ich halte das "Unsterblichkeitsprogramm" in erster Linie für einen klasse SF-Thriller, der gerade auf der Handlungsebene wirkt und dessen Hintergrund sich in erster Linie eignet, um der Story manch interessanten Twist zu verleihen.
@Sullivan:
Es müsste doch eher ein stilles Einverständnis über alles geben solange die Erinnerungen die gleichen sind.
Auch wenn Morgan das Thema sicher nicht erschöpfend behandelt, so kommt m.E. doch rüber, dass der Körper, in dem das Bewusstsein sitzt, einen sehr großen Unterschied macht. Das Ich ist in dem Roman also nicht nur die Summe der Erinnerungen und Algorithmen, die im Stack gespeichert sind, sondern wird offenbar auch von der "Hardware" beeinflusst, auf der es läuft. Hinweise darauf sind hier ja schon genug angesprochen worden, und Erklärungen dafür lassen sich auch problemlos finden. Meines Erachtens nach ist das sogar der wichtigste Subplot des Buches.
Also finde ich einen solchen Konflikt durchaus folgerichtig, und ich denke, es soll wohl auch einen weiteren Hinweis auf die Grundthese des Romans geben.
@alle:
Aber was auch immer der Autor für Schwächen in der Theorie hat: Ich finde, auf erzählerischer Ebene hat er einiges drauf. Gerade wenn Sullivan Kovacs Konfronatation mit seinem "Alter Ego" anspricht: Es gibt ja eine Phase, wo Kovac dargestellt wird, ohne dass explizit gesagt wird, dass er den Körper gewechselt hat. Im englischen Original hatte ich an der Stelle wirklich das Gefühl, dass hier ein ganz anderer Mensch beschrieben wird - und für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, dass der Autor einen Kontinuitätsbruch fabriziert und Kovacs "off-character" agiert. Als sich die Situation später aufklärte, war ich sehr beeindruckt davon, dass der Autor es nur über die Darstellung geschafft hat, die Veränderung durch den neuen Körper spürbar zu machen.
Kommt diese Nuance eigentlich auch in der deutschen Übersetzung noch rüber? Morgan hat ja einen sehr vielseitigen Stil, der in jeder Situation den richtigen Ton trifft - das "Flair" rüberbringt, wenn man das so nennen will
http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/wink.png Ich habe mich immer gefragt, ob man das in der deutschen Ausgabe überhaupt erhalten kann.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)