EXODUS Nr. 46 (05/2023)
#301
Geschrieben 11 August 2023 - 18:01
Jetzt in Urlaub lese ich mehr als ich schreibe, also dann in September!
Podcast: Literatunnat
- • (Buch) gerade am lesen:meistens viele
-
• (Film) gerade gesehen: The Whale, Everything everywhere at once, Zurück in die Zukunft III
#302
Geschrieben 12 August 2023 - 08:32
Die Erzählstimme bei Ein vierblättriges Kleeblatt von Maike Braun nimmt sich Zeit und entwirft mit passenden Szenen das Bild einer an Liebe armen Kindheit eines vulnerablen Wunderknaben, geprägt von Diskriminierung und Fremdbestimmung, tragisch versorgt und stabilisiert durch ein lebendiges Mittel, das aufgrund seiner Nebenwirkung den Status des Jungen als Sonderling verstärkt, ihm jedoch ein guter Gefährte wird, auch dann noch, als er, zum Mann herangewachsen, die Fesseln durchtrennt und über sein Leben frei verfügt. Das Coming-of-Age eines Sonderbegabten ist schon oft erzählt worden. Ein vierblättriges Kleeblatt ist eine verkürzte Fassung davon, etwas von X-Men, nur bodenständiger, mit einer Prise Sozialdystopie. Es wird früh deutlich, wie trotz aller belastenden Elemente Tajos Konformität zum System entsteht. Auch wenn seine Wandlung nachvollziehbar ist, kommt sie abrupt und wenig vorbereitet, denn wir erfahren von keiner inneren Entwicklung, keinem Ringen, was denn auch die Spannungskurve flach hält. Tajo funktioniert bis zum letzten Moment reibungslos. Die problematische Ein-Kind-Politik bietet zwar ein zusätzliches, verständliches Motiv an, ist aber kein katalysierendes SF-Element. Ihre Problematik wird im SF-Kontext auch nicht deutlicher, denn sie hat als Regulativ schon in China nicht funktioniert, auch wenn der Umfang der menschlichen Erdbevölkerung als Stellschraube zur Bewältigung der Klimakrise sicherlich erwähnenswert ist. Das SF-Szenario verleiht Tajos Geschichte keine Perspektive, die über das Bekannte hinausführt. Dennoch ist es eine gut erzählte Geschichte, die vor allem durch Tajos Schicksal anrührt.
"Ein vierblättriges Kleeblatt" von Meike Braun: Durchaus interessante Geschichte um eine Art außersinnlicher Wahrnehmung. Ist mir persönlich aber ein bisschen zu unrealistisch.
Ich glaube nicht, dass die Autorin an eine Art außersinnlicher Wahrnehmung dachte. Es geht nur um eine leichte Extrapolation nicht neuronormaler Leistungen (Hochsensitivität und überdurchschnittliche Erkennung von Gesichtern), die heute schon bekannt sind. Auch das lebendige Analogon zu einem Psychopharmakon entspricht einer komplexeren implantierten Pumpe mit Agonisten oder Antagonisten für betroffene entsprechende Transmittersysteme zur Regulation der Wahrnehmung und des Stresses, Substanzen, die in der Geschichte zugleich wie eine Art Pubertätsblocker wirken. All dies gibt es in weniger perfekter Form auch heute schon, wodurch das Szenario plausibilisiert wird.
Die Illustration von Dirk Berger greift auch hier eine Szene der Geschichte auf und kommt der Perspektive eines kleineren Menschen wie Tajo es ist entgegen. Die Visualisierung des etwas morbiden Kunstobjekts finde ich gelungen. Der Hintergrund liegt im hellgrünlich bis gelben Bereich und die zwei Figuren im Vordergrund – Tajo quasi militärisch, die Skulptur skelettartig – heben sich dunkel davon ab. Das gibt der Szene für mich eine klinisch reine, vielleicht etwas giftige, düstere Atmosphäre, und entspricht der Geschichte.
Bearbeitet von Christian Hornstein, 23 August 2023 - 20:11.
#303
Geschrieben 17 August 2023 - 04:44
Na dann will ich die eingekehrte Stille mal wieder unterbrechen.
Ich habe Der Flaschenwal von Uwe gelesen, weil in den Kommentaren ein rührendes Ende erwähnt wurde und ich emotional intensive Texte mag. Die Geschichte fängt ein bisschen wie ein Kinderbuch an z.B. von Astrid Lindgren, ein witziger Dialog zwischen Kindern, die etwas entdecken. Die Erzählerin präsentiert eine Geschichte, in der ein ungewöhnlicher Fund zum Aufbruch einer Familie führt, wobei der Fund in seiner Ausgestaltung für mich mit der dramaturgischen Intention leicht interferiert. Das Lokalkolorit der Story-Welt und die Beschreibung der Familie haben mir gefallen, weil sie originell, plausibel und anrührend sind. Die gewählte Makrostruktur dieser Welt erinnert mit den klar verteilten Rollen an eine Fabel. Als poetische Gerechtigkeit oder humorvoll ironische Rollenumkehr interpretiert, macht sie den ewig untätigen Umweltmuffeln eine lange Nase und verführt zum Schmunzeln. Das zuerst angegebene Motiv für den Aufbruch könnte stärker sein und das danach angebotene bleibt lange nebulös. Dadurch entsteht wenig Fallhöhe und nicht so viel Spannung.
Am Ende
Der emotionale Einschlag wird durch eine exzellent gewählte Formulierung eingeläutet, hätte jedoch noch stärker sein können, wenn er besser vorbereitet worden wäre. Die Entscheidung, die ihm zugrunde liegt, wird wenig plausibilisiert. Die Wirkung wird auch etwas abgeschwächt durch einen erklärenden Abschnitt, der für mich nicht notwendig gewesen wäre.
Die dystopische Geschichte ist insgesamt gut konstruiert und formuliert und entfaltet durch ihr sanftes Narrativ und ihren alltagsnahen Figuren einen eigenen Charme.
#304
Geschrieben 17 August 2023 - 10:22
Danke für die qualifizierte Einschätzung!
"Besser vorbereitet"? Es gibt doch vorher Hinweise, wie zum Beispiel bedeutungsvolle Blicke zwischen den Erwachsenen. Reicht das nicht? Zu auffällig sollte es doch auch nicht sein, dann ist die Wendung nicht mehr überraschend. Ist vielleicht individuell unterschiedlich in der Lesewahrnehmung.
"Es schöpft dadurch das Potential des Genres nicht aus" → die Geschichte ist keine Science Fiction (die fiktive Technik, der Wal, ist ja nur Auslöser der Handlung und nicht das Thema), es ist Social Fiction. Und in diesem Genre geht es eben genau (zwischen)menschliche Befindlichkeiten, die eben am Ende auch im Mittelpunkt stehen.
#305
Geschrieben 19 August 2023 - 08:28
Danke für die qualifizierte Einschätzung!
"Besser vorbereitet"? Es gibt doch vorher Hinweise, wie zum Beispiel bedeutungsvolle Blicke zwischen den Erwachsenen. Reicht das nicht? Zu auffällig sollte es doch auch nicht sein, dann ist die Wendung nicht mehr überraschend. Ist vielleicht individuell unterschiedlich in der Lesewahrnehmung.
"Es schöpft dadurch das Potential des Genres nicht aus" → die Geschichte ist keine Science Fiction (die fiktive Technik, der Wal, ist ja nur Auslöser der Handlung und nicht das Thema), es ist Social Fiction. Und in diesem Genre geht es eben genau (zwischen)menschliche Befindlichkeiten, die eben am Ende auch im Mittelpunkt stehen.
Vielen Dank für Dein Lob!
Ich beantworte zunächst Deine Frage zum Potential des Genres.
Ja, Du hast völlig recht damit, dass der Wal an sich oder gar die Technik der Biotools keine wesentliche Rolle in dieser Geschichte spielen. Der Tauschgegenstand hätte auch irgendetwas anderes Wertvolles sein können. Und ja, Deine Geschichte kann auch als Social Fiction eingeordnet werden. Ebenso ist es eine Climate Fiction.
Unter SoFi ist ja ein fiktionaler gesellschaftlicher Entwurf gemeint. Ein solcher Entwurf beruht immer auf bestimmten Annahmen. Je nachdem welche das sind, gehört er zu einer bestimmten Sparte. Im belletristischen Bereich wird SoFi meist als Subgenre der SF angesiedelt, weil häufig auf Basis von Erkenntnissen aus der Anthropologie, Soziologie, Psychologie und anderen entsprechenden Disziplinen spekuliert wird. CliFi wird ebenfalls fast immer als SF betrachtet aufgrund der zugrunde liegenden Wissenschaften.
Zu Deiner anderen Frage schreibe ich Dir später etwas.
Bearbeitet von Christian Hornstein, 20 August 2023 - 19:23.
#306
Geschrieben 19 August 2023 - 12:51
So, hier bin ich wieder. Nun zu Deiner anderen Frage, weshalb ich meine, dass der emotionale Einschlag am Ende hätte besser vorbereitet werden können.
Zunächst muss ich erklären, was ich unter emotionalem Einschlag verstehe. Dinge wie die bedeutungsvollen Blicke zwischen den Erwachsenen sind ja unspezifische Hinweise darauf, dass irgendetwas Bedeutsames und potenziell Bedrohliches (in welcher Form auch immer) im Gange ist. Sie wecken eine leise Rätselspannung und ein Hauch von Bedrohlichkeit, mehr aber nicht. Selbst wenn die Wendung ein unspezifischer Schrecken wäre, hätte der Vortext uns nur sehr mäßig dafür auf Touren gebracht. Hier geht es aber sogar um etwas Spezifisches. Also: Was meine ich mit emotionalem Einschlag?
Bearbeitet von Christian Hornstein, 19 August 2023 - 12:53.
#307
Geschrieben 20 August 2023 - 18:56
wäre er Ingenieur, gäbe es die Story nicht, denn dann wäre sicher ein Datenbank-Backup an Bord gewesen .
schön :-)
#308
Geschrieben 23 August 2023 - 09:57
Ich habe Ritter, Tod und Teufel von Scipio Rodenbücher gelesen, weil ich dahinterkommen wollte, welche Rollen diese drei Gestalten aus Dürers berühmtem Stich in einem SF-Kontext einnehmen könnten. Die erzählende Stimme lässt uns lange rätseln, was die drei spätmittelalterlichen Figuren in einem Raumschiff zu suchen haben. Da lange unklar bleibt, welche Bedeutung die Situation für die Figuren hat, und die Figuren auch wenig Angriffsfläche für Einfühlung bieten, ist es nicht leicht, emotional am Geschehen teilzunehmen. Wie sich einer meiner Interpretationen nach herausstellt, handelt es sich um
Mit eleganten Formulierungen führt uns der Text durch das surreal wirkende Geschehen. Nach und nach wird das Rätselhafte entschleiert, wenn auch nicht ganz, und eine Prämisse zur Frage der
kommt zum Vorschein. Eine gewiss originelle Variante zur Behandlung des Themas.
#309
Geschrieben 26 August 2023 - 16:54
genau. Was Du dann als weiteren Twist beschreibst, sehe ich nicht als einen an. Dirac wirkte von Anfang an auf mich wie ein rechthaberisches Arschloch und verhält sich dann auch weiter so.
Habe glatt vergessen dazu noch etwas zu schreiben und hole es schnell nach: Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Der Twist, den ich hier meinte, besteht nicht nur darin, dass
Falls Du das alles vorhergesehen haben solltest, wärst Du der Erste, den ich kenne, und Du hättest mich ziemlich verblüfft.
Bearbeitet von Christian Hornstein, 26 August 2023 - 16:54.
#310
Geschrieben 26 August 2023 - 17:24
Die Menschheit ist halt scheiße und macht alles kaputt und dann geht sie halt auch zu recht drauf! Ja - aber mir reichts echt langsam mit diesen vielen Dystopien!
Da fiel mir noch was zu ein: Warum ich meine, dass wir im Near Future bei der SF nicht an dystopischen Elementen vorbeikommen, hatte ich ja woanders schon geschrieben. Ich bin dennoch der Ansicht, dass es wenig sinnvoll ist, lediglich einen Untergang auszumalen. Wenn es aber darum geht darzustellen, was wir als Menschheit falsch machen, glaube ich, dass dies noch lange nicht ausreichend durchdekliniert worden ist. Wenn es um den Klimawandel geht, haben zwar mittlerweile viele Menschen verstanden, dass es ein größeres Problem gibt, aber wie genau es aussieht, wie es dazu kommt und was das mit unserem Verhalten, unseren Einstellungen und vielem mehr zu tun hat, das ist noch lange nicht jedem klar. Erst recht ist nicht jedem Menschen klar, was er selbst tun könnte und vor allem, wie er die Widerstände - um sich herum und in sich selbst - überwinden könnte. Es zu verdeutlichen, führt zwar noch nicht zu einem Wandel, aber die Einsicht ist ja die Voraussetzung, um ihn selbstbestimmt umsetzen zu können.
Es erinnert mich ein wenig an das Dritte Reich. Es gab vor der Diktatur und erst recht während dieser Herrschaft zu wenig Korrektiv. Die Mitläufer sind zu wenig mit den Konsequenzen ihres Verhaltens konfrontiert worden und vor allem haben sie keinen Ausweg gesehen, der für sie gangbar gewesen wäre. Das lag natürlich an ihrer Sozialisierung (Dolchstoßlegende, nationale Demütigungsgefühle, Autoritätsgläubigkeit, Antisemitismus seit dem Mittelalter, usw.), aber auch daran, dass in der Gegenwart der Menschen weder in den Anfängen der Naziherrschaft noch zu ihrer Hochzeit Bewusstsein über das, was geschah, noch Verhaltens- und Denkalternativen auf breiter Basis zur Verfügung standen.
Ich glaube, wenn wir Wandel anstoßen wollen, reicht es nicht, uns Utopien hinzugeben. Wir müssen schon das Dystopische in unserem Tun und Denken offenlegen und dann daraus ableiten, was konkret warum verändert werden sollte und wie.
Bearbeitet von Christian Hornstein, 26 August 2023 - 17:38.
#311
Geschrieben 26 August 2023 - 22:20
Es gibt bereits unendlich viele Warnungen vor einer Klimakatastrophe und mehr oder weniger konkrete Anleitungen, was dagegen zu tun wäre. Ich glaube nicht, dass wir als Science-Fiction-Autoren in der Pflicht sind, das auch noch in Geschichten zu kleiden. Die Reichweite davon ist ohnehin geringer als die von einschlägigen Sachbüchern der bekannten Fernseh-Wissenschaftler. Gut, ich habe trotzdem zwei solche Geschichten veröffentlicht, und in meinem Blog kommentiert. Aber letztlich habe ich bei den ohnehin überzeugten offene Türen eingerannt, und die übrigen erwische ich nicht.
Aber ich möchte noch eine andere These dazu in den Raum stellen: Dystopien sind einfach. Die Welt der Protagonisten ist, warum auch immer, auf die Größe eines Dorfes geschrumpft. Die größere Außenwelt existiert nicht mehr. Wer diese Ausgangsbasis wählt, muss nicht eine komplett neue komplexe Welt erfinden, sondern kann sich auf die Konflikte in einem sehr kleinen Rahmen konzentrieren. Das ist für Autoren und Leser ein ganzes Stück einfacher. Eine Cyberpunk-Welt zu erfinden ist sehr viel komplexer als ein Dorf oder eine Familie zu beschreiben, die nach einer Katastrophe auf sich gestellt sind.
Es erinnert mich ein wenig an das Dritte Reich. Es gab vor der Diktatur und erst recht während dieser Herrschaft zu wenig Korrektiv. Die Mitläufer sind zu wenig mit den Konsequenzen ihres Verhaltens konfrontiert worden und vor allem haben sie keinen Ausweg gesehen, der für sie gangbar gewesen wäre. Das lag natürlich an ihrer Sozialisierung (Dolchstoßlegende, nationale Demütigungsgefühle, Autoritätsgläubigkeit, Antisemitismus seit dem Mittelalter, usw.), aber auch daran, dass in der Gegenwart der Menschen weder in den Anfängen der Naziherrschaft noch zu ihrer Hochzeit Bewusstsein über das, was geschah, noch Verhaltens- und Denkalternativen auf breiter Basis zur Verfügung standen.
Das ist, selbst in grober Vereinfachung, historisch so nicht haltbar. Ich habe mich für meine Bücher ausführlich mit dem Thema "Drittes Reich" und den Hintergründen beschäftigt. Das Thema ist, wie diverse Streitigkeiten unter Historikern immer wieder zeigen, sehr komplex, und lässt sich nicht auf "Ausweglosigkeit" oder "fehlendes Bewusstsein" reduzieren, nicht einmal in erster Annäherung.
Letztlich sollten aber auch daran denken, dass ein Zusammenbruch von Zivilisationen auf der Erde immer wieder vorgekommen ist. Das römische Reich ist da keine Ausnahme, nicht einmal ein mahnendes Beispiel, sondern die Regel. Es hat auf der Erde bis heute mehr als 50 Hochkulturen und Zivilisationen gegeben, und sie sind alle zusammengebrochen, mit oder ohne äußere Einflussnahme. Unsere mag eine Ausnahme sein, oder auch nicht. Wir werden sehen. Möglicherweise beschreibt eine durchdacht angelegte Dystopie lediglich eine wahrscheinliche Entwicklung. Und bisher hat sich aus jedem Zusammenbruch eine weitere Zivilisation entwickelt. Aber es gibt schon einen Unterschied:
Diesmal haben wir die Ressourcen der Erde so gründlich ausgebeutet, dass wir jeder neuen Zivilisation den Start schwer machen. In Europa sind Bodenschätze beispielsweise kaum noch zu finden.
#312
Geschrieben 26 August 2023 - 22:40
Habe glatt vergessen dazu noch etwas zu schreiben und hole es schnell nach: Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Der Twist, den ich hier meinte, besteht nicht nur darin, dassSpoiler
Falls Du das alles vorhergesehen haben solltest, wärst Du der Erste, den ich kenne, und Du hättest mich ziemlich verblüfft.
Ich seh da keinen weiteren Twist. Er bleibt sich einfach treu. Was er da konkret treibt fand ich auch gar nicht spannend, vielleicht sind Dir da Details wichtig, die mir als Grundrauschen im Handeln der Figur nicht weiter beachtenswert waren. Ein Twist wäre es gewesen, wenn er seinen Rassismus eingesehen hätte.
Überlicht und Beamen wird von Elfen verhindert.
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#313
Geschrieben 27 August 2023 - 08:23
Ich seh da keinen weiteren Twist. Er bleibt sich einfach treu. Was er da konkret treibt fand ich auch gar nicht spannend, vielleicht sind Dir da Details wichtig, die mir als Grundrauschen im Handeln der Figur nicht weiter beachtenswert waren. Ein Twist wäre es gewesen, wenn er seinen Rassismus eingesehen hätte.
Vielleicht verstehen wir beide unter einem Twist (Wendung) unterschiedliche Dinge. Für mich bedeutet eine Wendung eine unerwartete Entwicklung, die den Verlauf der Handlung und/oder ihre Bedeutung entscheidend verändert. Es muss sich nicht unbedingt um die Wandlung einer Figur handeln. In der Szene verändert sich unter anderem im Verhältnis der beiden Hauptfiguren und in Bezug auf ihre Selbstwahrnehmung etwas entscheidendes, vor allem für Dirac. Es stimmt, dass ich das für wichtig halte. Ich finde es interessant, dass Du es als Hintergrundrauschen erlebt hast.
#314
Geschrieben 27 August 2023 - 09:59
Es gibt bereits unendlich viele Warnungen vor einer Klimakatastrophe und mehr oder weniger konkrete Anleitungen, was dagegen zu tun wäre. Ich glaube nicht, dass wir als Science-Fiction-Autoren in der Pflicht sind, das auch noch in Geschichten zu kleiden. Die Reichweite davon ist ohnehin geringer als die von einschlägigen Sachbüchern der bekannten Fernseh-Wissenschaftler. Gut, ich habe trotzdem zwei solche Geschichten veröffentlicht, und in meinem Blog kommentiert. Aber letztlich habe ich bei den ohnehin überzeugten offene Türen eingerannt, und die übrigen erwische ich nicht.
Es ist sicher keine Pflicht für SF-Autoren, den Klimawandel und seine Folgen zum Thema zu machen. Die SF ist nicht nur dafür da. Ich meinte es anders: Zum einen kommt eine realistische Einschätzung der nahen Zukunft ohne dystopische Elemente nicht aus, leider. Zum anderen haben viele Menschen die Zusammenhänge, ihre eigene Rolle und was damit verbunden ist noch nicht so weit durchdrungen, dass es überflüssig wäre, diese Aspekte in immer neuen Formen darzulegen.
Zur Reichweite hast Du sicher recht und wen eine SF-Geschichte erreicht, hängt von sehr vielen Dingen ab. Es gibt durchaus ein paar Geschichten, die weltbekannt geworden sind und sogar unsere Kultur geprägt haben. Aber natürlich gilt dies nur für sehr wenige. Dennoch würde ich eine Geschichte immer so schreiben, dass sie für ein möglichst großes Publikum taugt und gesellschaftlich relevante Themen fokussiert. Aber auch damit möchte ich keine allgemeine Pflicht definieren.
Aber ich möchte noch eine andere These dazu in den Raum stellen: Dystopien sind einfach. Die Welt der Protagonisten ist, warum auch immer, auf die Größe eines Dorfes geschrumpft. Die größere Außenwelt existiert nicht mehr. Wer diese Ausgangsbasis wählt, muss nicht eine komplett neue komplexe Welt erfinden, sondern kann sich auf die Konflikte in einem sehr kleinen Rahmen konzentrieren. Das ist für Autoren und Leser ein ganzes Stück einfacher. Eine Cyberpunk-Welt zu erfinden ist sehr viel komplexer als ein Dorf oder eine Familie zu beschreiben, die nach einer Katastrophe auf sich gestellt sind.
Ich verstehe unter einer Dystopie einen Entwurf einer Welt oder einer Gesellschaft, die in den Augen der meisten Menschen wesentlich mehr abschreckende als wünschenswerte Eigenschaften besitzt. Cyberpunk-Welten sind in diesem Sinne meist dystopisch. Eine Geschichte, die in einem dystopischen Setting spielt, kann auf eine kleine Gruppe fokussiert sein und die Außenwelt ausblenden, muss dies aber nicht tun. Deshalb müssen Dystopien nicht immer einfach sein. Ich vermute, Du meinst mit Dystopie eine spezielle Variante, nämlich ein Weltuntergangsszenario, bei dem sich narrativ auf ein überschaubares Ensemble in einem begrenzten Setting konzentriert wird. Das wird tatsächlich oft so gemacht, wahrscheinlich auch - wie Du sagst - weil es einfacher ist.
Das ist, selbst in grober Vereinfachung, historisch so nicht haltbar. Ich habe mich für meine Bücher ausführlich mit dem Thema "Drittes Reich" und den Hintergründen beschäftigt. Das Thema ist, wie diverse Streitigkeiten unter Historikern immer wieder zeigen, sehr komplex, und lässt sich nicht auf "Ausweglosigkeit" oder "fehlendes Bewusstsein" reduzieren, nicht einmal in erster Annäherung.
Deshalb habe ich auch noch von der Sozialisierung geschrieben, wobei ich natürlich nicht alle Faktoren aufgeführt habe. Auch die politischen Strukturen, wie sich bestimmte Ereignisse ergeben haben und noch anderes war bestimmend. Ich wollte an der Stelle keine erschöpfende Darstellung bringen, sondern nur die Parallele darlegen und die Bedeutung von Bewusstsein und Verhaltens- und Denkalternativen, die durchaus eine Rolle gespielt haben.
#315
Geschrieben 27 August 2023 - 10:05
Postapokalypsen oder allgemeiner postsinguläre Szenarien sind tatsächlich "einfach", weil ich als Schreibender mir alles so zurechtlegen kann, dass es passt. Dystopien, die sich kontinuierlich aus der existierenden Welt herleiten sollen, sind insofern komplizierter.
#316
Geschrieben 27 August 2023 - 10:33
Der Begriff der Dystopie ist sicher breiter gefasst, und ich hatte in der Tat eher postapokalyptische Szenarien im Blick. Dabei ist aber auch durchaus zu beachten, dass Cyberpunk-Welten zwischen Dystopie und einer durchaus realistischen Projektion der Gegenwart changieren. Dystopien jenseits von postapokalyptischen Szenerien sind oft als Warnungen vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen angelegt. Der Autor nimmt einen aktuellen Trend auf und vergrößert ihn ins Groteske, um die Gefahr aufzuzeigen, die davon ausgeht. Das ist sicherlich eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben der SF.
Das aus meiner Sicht beste Beispiel ist "Oryx und Crake (Korrigiert. Danke, Naut)" von Margaret Atwood. Sie nimmt gleich alle gefährlichen Fehlentwicklungen der Gegenwart aufs Korn, und lässt dann einen der Protagonisten die unerträglich gewordene Welt vernichten, um eine fraglich positive Utopie an ihre Stelle zu setzen.
Bearbeitet von Fermentarius, 27 August 2023 - 12:29.
#317
Geschrieben 27 August 2023 - 11:10
#318
Geschrieben 27 August 2023 - 12:01
Ich müsste auch endlich Mal die folgenden Teile lesen, kenne bisher nur Teil 1, der hat mir auch gefallen
Podcast: Literatunnat
- • (Buch) gerade am lesen:meistens viele
-
• (Film) gerade gesehen: The Whale, Everything everywhere at once, Zurück in die Zukunft III
#319
Geschrieben 04 Dezember 2023 - 19:31
Humanicity von Christian Hornstein
So, ich habe mir die Ausgabe ja noch mal besorgt, eigentlich wegen der Storys, die ich vielleicht nominieren will (KLP), aber ich habe mir bei der Gelegenheit auch Humanicity noch mal durchgelesen, da ich es unfair finde, dass der Autor hier so fleißig rezensiert und ich seine Story nach Erscheinen ratlos abgebrochen habe.
Und die Story in In andere Welten war sehr kurz und ging größtenteils an mir vorbei.
Okay, diesmal habe ich zu Ende gelesen. Ich habe auch einen starken Verdacht, dass mich beim ersten Versuch solche Sätze abgehalten haben:
"Sie hat sicher die Kontingenzregel mit zeitlich unmittelbar vorausgehender Bedingung angewandt und alles Weitere aus den Faktenfeldern herbeikorreliert."
Es kommt noch mehr davon, aber geballt am Anfang, danach wird der Stil flüssig und verständlich.
Ich habe auch schon auf Seite 1 mein erstes Highlight gefunden:
"Dirac grinste und kämmte sich mit weit auseinandergespreizten Finger ein helles Haarbüschel aus der Stirn, wie um sich zu belohnen."
Das ist ja eine typische Geste der Hauptfigur in The Expanse (falls der Autor das auch gelesen hat), aber da hier wird noch etwas ergänzt.
Beim Dirac-Test haben viele die Parallelen zu Blade Runner gezogen, was auch naheliegend ist, aber hier geht es um etwas anderes, eher um die Person die testet und den Test selbst, und um eine komplexe Beziehung (der Hauptfigur zu Yuge, der ihm "wie ein Bruder" ist (wenn auch mit massiven Wenns und Abers) und der ihm einst das Leben gerettet hat.
Die Story hat nach dem für mich etwas schwierigem Anfang massenhaft gute Momente und auch sehr menschliche, sogar subtile (als er ein Holo mit einem älteren Paar quasi liebkost und ich lese das so, dass es sich hier um seine Eltern handelt, aber klar wird es nicht und dann setzt die Szene noch einen obendrauf).
Wenn man den Plot zusammenfassen würde, würde es wirken, als würde die Story mir als Leserin (ich denke, "Vielleserin" wäre hier nicht übertrieben) nichts Neues bieten, bis auf das Ende (aber das Ende war eh nicht so meins), aber es sind eher die Zwischentöne, die Details, die hier den Lesespaß bringen.
Dirac steht auf der einen Seite (die, die Macht haben) und Yuge auf der anderen (Bittsteller). Aber Dirac fühlt sich Yuge verpflichtet, noch immer, trotz all der Zeit. Wie genau Yuge zu Dirac steht, würde sich lohnen, zu untersuchen. Nutzt er ihn nur aus? Der Schluss legt nahe: Nein, das ist es nicht. Es geht ihm um etwas anderes und er geht verdammt weit dafür, es zu erreichen.
Dirac tut Yuge einen Gefallen (erneut) und zieht als Meliore einen Test durch bei einem Geschöpf, dass Yuge entwickelt hat.
"Dirac stelle sich die Anspannung der Entwickler vor, wie sie einfältig hofften, ihr Baby würde bestehen"
Das zeigt schon, wie Dirac sich, seinen Test und die Entwickler und ihre Produkte auf der anderen Seite sieht. Und dass er nie auf dieser anderen Seite stand. (Solche Leute ... nun ja, das kann selten gut gehen, oder?)
Produkte bestehen den Test auf Humanicity nicht. Aber am Ende wird Dirac hart auf die Probe gestellt, entpuppt sich als schlechter Verlierer, es gibt einen Twist (den ich ganz gut finde) und dann ein ziemlich blutiges Ende (bei dem ich eher so ratlos davorstehe).
Insgesamt hätte die Story am Anfang und am Ende vielleicht noch etwas Mühe nötig gehabt, aber in der Mitte ist schon verdammt viel Lesespaß für mich da gewesen
Podcast: Literatunnat
- • (Buch) gerade am lesen:meistens viele
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• (Film) gerade gesehen: The Whale, Everything everywhere at once, Zurück in die Zukunft III
#320
Geschrieben 04 Dezember 2023 - 19:36
Beim letzten Satz der Story braucht man eigentlich nicht zu googlen. Im Text wird zuvor erklärt, was eine Hurwicz-Situation sein soll (Exodus, Seite 113, linke Spalte, zweiter Absatz). Diese Passage ist wichtig, weil sie die Pointe der Geschichte vorbereitet.
Unmenschliche Figuren. Na ja, es sind extreme Charaktere (zum Schärfen des Konflikts). Solche Menschen gibt es aber durchaus, wenn auch nicht so oft. Perspektivisch bleibe ich ja bis auf einen kurzen Moment bei Dirac. Dieser Mann ist kein Sympathieträger und hat auch keine filigranen Regungen zu bieten. Offenbar ist auch der motivationale Hintergrund der Figuren unklar geblieben, was Ralf und Sam explizit angesprochen haben, obwohl der relevante Teil der Backstory und andere Informationen da sind und zum Stiften von Sinn ausreichend zugänglichen Subtext bieten. Das weiß ich von anderen, die diesen Text gelesen haben. Es ist durchaus möglich, sich in diese Figuren hineinzuversetzen und mitzufühlen. Lest Ihr vielleicht lieber von alltagsnäheren Charakteren und habt Euch wegen des Zeitdrucks nicht näher mit den Figuren in Humanicity befasst?
Wie war es eigentlich für Dich Yvonne? Dein Kommentar zu Humanicity ist ja etwas mysteriös.
Ich hatte die Passage sogar markiert (die die Hurwicz Situation erklärt), aber die Pointe habe ich trotzdem so wenig verstanden wie die anderen.
Und mein Kommentar von heute ist dann vielleicht weniger mysteriös :-)
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#321
Geschrieben 05 Dezember 2023 - 14:23
So, jetzt habe ich noch mal die Story von Lisa Jenny Krieg gelesen, da ich die auch als recht gut in Erinnerung hatte, um zu testen, ob sie auch in meine Top-Storys gehört. Da ist dann aber die Konkurrenz zu groß, ich würde mich gern mal auf zehn beschränken. Drei der vierzehn habe ich schon aussortiert.
Nun habe ich eine weitere erneut gelesen, die bereits in meinen Best Of ist
Uwe Post: Der Flaschenwal
Nach nochmaligem Lesen würde ich sie für mich ca. auf meinem persönlichen siebten Platz einstufen, vorläufig jedenfalls, und damit müsste sie in den Top-10 verbleiben (wenn jetzt nicht überraschend noch Top-Storys dazukommen, beispielsweise aus dem Teil von In andere Welten, den ich noch lesen werde).
Ich-Erzählerin ist Rübe (11 J, weiblich) und der Ton ist sehr gut getroffen. Auch die anderen Kinder (auch der Fünfjährige) klingen auch wirklich wie Kinder, was eine der großen Stärken der Story ist. Das Szenario ist aus Kinderperspektive auch besser erzählt, vermutlich geht es sogar nur so.
Es spielt an der Nordsee, nahe der Ems, sofern ich alles gut zusammensortiert habe, in einer unbestimmten Zukunft. aber ich würde vermuten, noch in diesem Jahrhundert.
Der Weltenbau geschieht da, wo er geschehen sollte, nämlich in Nebensätzen:
"Im Kindergarten lernten sie singen, malen und hoffen, aber nichts über Wale." (Das mit dem "hoffen" wird auch noch mal aufgegriffen)
"Wale sind keine Landtiere wie Menschen und Schafe." (Schaffe gehören stark zum Alltag und kommen direkt nach den Menschen.)
"Oma war schon lange tot" (Rübe ist erst elf. Offenbar sterben die Leute hier oft recht jung.)
Es hat außerdem Humor (aber keinen Klamauk!), wie hier: Es ist unklar, was für ein Geschlecht der Wal hat, dann heißt es über das Kind Mangi:
"Sie war zur Schwanzflosse des Wals gelaufen. Vielleicht ließ sich dort herausfinden, ob das Tier männlich oder weiblich war."
"Schade, die das dünne Gras abweideten und uns mit einer Mischung aus Missgunst und Gleichgültigkeit anschauten."
Einige Rätsel der Erwachsenen werden angedeutet, wie die Affäre zwischen dem Vater und Tante Rike oder auch die Gefühle, die der Vater und Tante Rike haben, als sie den Plan fassen, der sich Rübe nur allmählich offenbart.
Der Wal ist ein Biotool, eine biologische Maschine. Frisst Plastikmüll, stellt daraus neue Flaschen her, die benutzbar sind.
Der Schluss ist gut vorbereitet, beim zweiten Lesen unübersehbar.
Eine kleine Einschränkung gibt es: Die Familie der Protagonistin lebt in dem schlechteren Teil des Landes, weil sie von "Leugnern" abstammt. Ich lese das so, dass Klimaleugner (oder deren Nachfahren) bestraft werden durch schlechtere Lebensbedingungen und ein Aufstieg schwer möglich ist.
Das ist schon ziemlich politisch und sehr klar, mir persönlich etwas zu klar. Auch wenn ich die Aussage verstehe und selbst schwer genervt bin von gewissen Dingen. Ich bevorzuge es subtiler.
Nichtsdestotrotz eines der Highlights aus 2022.
Ich werde noch Grüter und Braun ein zweites Mal lesen, sieben Storys sind für mich gesetzt, drei hätte ich ja noch Platz.
Plot: Ein Wal liegt am Strand, kackt neue Plastikflaschen (dank der Kinderperspektive passt der Ausdruck auch super. Meine Kinder reden auch so).
Podcast: Literatunnat
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• (Film) gerade gesehen: The Whale, Everything everywhere at once, Zurück in die Zukunft III
#322
Geschrieben 06 Dezember 2023 - 15:40
Humanicity von Christian Hornstein
So, ich habe mir die Ausgabe ja noch mal besorgt, eigentlich wegen der Storys, die ich vielleicht nominieren will (KLP), aber ich habe mir bei der Gelegenheit auch Humanicity noch mal durchgelesen, da ich es unfair finde, dass der Autor hier so fleißig rezensiert und ich seine Story nach Erscheinen ratlos abgebrochen habe.
Und die Story in In andere Welten war sehr kurz und ging größtenteils an mir vorbei.
Okay, diesmal habe ich zu Ende gelesen. Ich habe auch einen starken Verdacht, dass mich beim ersten Versuch solche Sätze abgehalten haben:
"Sie hat sicher die Kontingenzregel mit zeitlich unmittelbar vorausgehender Bedingung angewandt und alles Weitere aus den Faktenfeldern herbeikorreliert."
Es kommt noch mehr davon, aber geballt am Anfang, danach wird der Stil flüssig und verständlich.
Ich habe auch schon auf Seite 1 mein erstes Highlight gefunden:
"Dirac grinste und kämmte sich mit weit auseinandergespreizten Finger ein helles Haarbüschel aus der Stirn, wie um sich zu belohnen."
Das ist ja eine typische Geste der Hauptfigur in The Expanse (falls der Autor das auch gelesen hat), aber da hier wird noch etwas ergänzt.
Beim Dirac-Test haben viele die Parallelen zu Blade Runner gezogen, was auch naheliegend ist, aber hier geht es um etwas anderes, eher um die Person die testet und den Test selbst, und um eine komplexe Beziehung (der Hauptfigur zu Yuge, der ihm "wie ein Bruder" ist (wenn auch mit massiven Wenns und Abers) und der ihm einst das Leben gerettet hat.
Die Story hat nach dem für mich etwas schwierigem Anfang massenhaft gute Momente und auch sehr menschliche, sogar subtile (als er ein Holo mit einem älteren Paar quasi liebkost und ich lese das so, dass es sich hier um seine Eltern handelt, aber klar wird es nicht und dann setzt die Szene noch einen obendrauf).
Wenn man den Plot zusammenfassen würde, würde es wirken, als würde die Story mir als Leserin (ich denke, "Vielleserin" wäre hier nicht übertrieben) nichts Neues bieten, bis auf das Ende (aber das Ende war eh nicht so meins), aber es sind eher die Zwischentöne, die Details, die hier den Lesespaß bringen.
Dirac steht auf der einen Seite (die, die Macht haben) und Yuge auf der anderen (Bittsteller). Aber Dirac fühlt sich Yuge verpflichtet, noch immer, trotz all der Zeit. Wie genau Yuge zu Dirac steht, würde sich lohnen, zu untersuchen. Nutzt er ihn nur aus? Der Schluss legt nahe: Nein, das ist es nicht. Es geht ihm um etwas anderes und er geht verdammt weit dafür, es zu erreichen.
Dirac tut Yuge einen Gefallen (erneut) und zieht als Meliore einen Test durch bei einem Geschöpf, dass Yuge entwickelt hat.
"Dirac stelle sich die Anspannung der Entwickler vor, wie sie einfältig hofften, ihr Baby würde bestehen"
Das zeigt schon, wie Dirac sich, seinen Test und die Entwickler und ihre Produkte auf der anderen Seite sieht. Und dass er nie auf dieser anderen Seite stand. (Solche Leute ... nun ja, das kann selten gut gehen, oder?)
Produkte bestehen den Test auf Humanicity nicht. Aber am Ende wird Dirac hart auf die Probe gestellt, entpuppt sich als schlechter Verlierer, es gibt einen Twist (den ich ganz gut finde) und dann ein ziemlich blutiges Ende (bei dem ich eher so ratlos davorstehe).
Insgesamt hätte die Story am Anfang und am Ende vielleicht noch etwas Mühe nötig gehabt, aber in der Mitte ist schon verdammt viel Lesespaß für mich da gewesen
Vielen Dank für Deine ausführliche und differenzierte Rückmeldung, Yvonne. Ich freue mich, dass Dir manches an meiner Geschichte gefallen hat.
Ja, die Technikkommunikation hat viele abgeschreckt. Das werde ich in Zukunft anders lösen.
Ich habe die Romane vom Autorenduo James Corey nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Ich kann mich jetzt nicht erinnern, dass James Holden dort durch diese Geste charakterisiert wird. Falls ich es nur vergessen oder übersehen haben sollte, wäre es eine interessante Koinzidenz. Jedenfalls hatte ich nicht James Holden vor Augen als ich Dirac entworfen habe.
Du bist die erste von denen, die sich öffentlich zu Humanicity geäußert haben, die erwähnt, dass es beim Test im ersten BR-Film und in Humanicity um unterschiedliche Dinge geht, aber Du liegst genau richtig. Beim Voight-Kampff-Test und der Testsituation im Roman von Philip K. Dick geht es zwar auch um die Fähigkeit zur Empathie, wie bei den Fragen zur Theory of Mind in meiner Geschichte, allerdings steht im Roman das klassische dicksche Thema der Realitätsauflösung im Vordergrund. In meiner Geschichte spielt dieser Aspekt der Verstörung in Bezug auf die eigene Identität keine Rolle, sondern es geht um Dominanz, Anerkennung und Wertemaßstäbe - also vor allem um Beziehung, zu sich und anderen Menschen. Im ersten BR-Film geht es dann darum, eine bestimmte Art von Neurose zu diagnostizieren, damit die Replikanten zu entlarven und in ihrem Sklavendasein zu halten. Im zweiten BR-Film sind Replikanten außerdem keine Maschinen, sondern biologische, wenn auch künstlich hervorgebrachte Wesen. In meiner Geschichte geht es darum, dass der Tester sein eigenes Ego bestätigen möchte, einer Art eugenischem Elitismus anhängt und Yuge verzweifelt um Anerkennung kämpft. Das hast Du gesehen und auch erkannt, dass es nicht so sehr um den Plot, sondern um die Zwischentöne geht. Das ist gut.
Du bist auch bislang die einzige, die das mit dem Holo der Eltern erwähnt. In dieser kleinen Szene steckt viel Subtext, wie an manch anderer Stelle. Diese Inhalte erschließen sich erst, wenn verschiedene Informationen intuitiv in einen Zusammenhang gebracht werden. Ich habe festgestellt, dass dies für viele Leseri nicht so selbstverständlich ist. Es scheint schwieriger zu sein, solche Tiefenstrukturen zu erschließen, als ich dachte. Das ist für mich eine wichtige Erkenntnis.
Das Ende ist halboffen. Es ist offen, was aus Yuge und Dirac wird. Erzählt wird Diracs doppelte Kränkung und Yuges Verzweiflung, die allesamt auf die Frage verweisen, wovon wir Menschen unseren Wert abhängig machen wollen. Das ist für manche Leseri nicht deutlich geworden. In Bezug auf die Transparenz solcher Inhalte der Tiefenstruktur werde ich in Zukunft noch mehr achten.
Die Pointe in Bezug auf die Hurwicz-Situation sei kurz erklärt:
Was ich nun auch festgestellt habe, ist, dass selbst meine SF-affinen Probeleseri nicht ganz repräsentativ sind für die Leseri in der SF-Szene. Das liegt wahrscheinlich an ihrer Rolle. Als Probeleseri scheinen sie die Texte anders zu lesen, weil sie wissen, dass sie sich hinterher dazu äußern werden. Auch das ist eine interessante Erkenntnis.
Ich überarbeite gerade eine Geschichte, die für eine Veröffentlichung im Mai 2024 geplant ist. Da berücksichtige ich bereits alle genannten Punkte und bin sehr gespannt, ob es mir gelingt, diese Probleme zu lösen.
Bearbeitet von Christian Hornstein, 06 Dezember 2023 - 15:44.
#323
Geschrieben 07 Dezember 2023 - 08:45
Hi Christian,
ich bin auch ganz froh, dass ich die Story nun doch gelesen habe. Im Mai hat sie mich megamäßig auf dem falschen Fuß erwischt. :-) Und am Anfang tut die Story ja auch ihr bestes, gewisse Lesende abzuschrecken.
The Expanse: Das kam nur in den Romanen vor. Ich halte es auch für Zufall.
Ähnliche Tests gab es ja auch im Roman Athos von Nils Westerboer, da wurde getestet, in welchem Modus die KI arbeitet. Tests von KIs finde ich oft ganz interessant. Ich mochte den Roman Träumen Androiden ... sehr gern und habe den Film erst danach geguckt. Die waren echt anders. Fast zwei unterschiedliche Storys!
Okay, den Kampf um Anerkennung von Yuge habe ich verstanden, mich hat nur verstört, wie weit er dafür geht.
Das Holo der Eltern war ja auch massiv subtil. Ich stehe total darauf, wenn eigentlich für den Hauptplot unwichtige Dinge zu entdecken sind, oft erst nach mehrmaligem Lesen. Sie charakterisieren hier die Hauptfigur ganz gut und fügen ein Stück Weltenbau ein und ich denke, die Atmosphäre dazu kriegen alle Lesenden mit, auch wenn sie an dem Detail nicht klebenbleiben. Ich finde, sowas können wir eher mehr als weniger brauchen!
Wenn nicht alle Lesenden das merken, was soll's. Ich glaube, auch nicht bewusst bemerkte Details tragen zur Dichte einer Story bei (oder gerade die!).
Halboffene Enden sind vielleicht etwas gewagt. Aber nun gut. Die Beziehung der beiden und ihre unterschiedlichen Werte und Ziele haben mir jedenfalls gut gefallen. Das hat schon ziemlich viel Tiefe.
Ich sehe, ich hatte die Pointe nicht verstanden und selbst jetzt nach der Erklärung fällt es mir schwer. Wenn es zu komplex wird, hauen dir manchmal Lesende ab, denn niemand will sich ja beim Lesen dumm fühlen. Wir denken ja meistens von uns, wie clever wir sind. Grins.
Mai 2024, vermutlich die nächste Exodus? Die lese ich dann. Bin gespannt. Bei deiner Story von In andere Welten warte ich mal die anderen Rezensionen ab, die von Helge hat ja schon meine Augen etwas weiter geöffnet.
Podcast: Literatunnat
- • (Buch) gerade am lesen:meistens viele
-
• (Film) gerade gesehen: The Whale, Everything everywhere at once, Zurück in die Zukunft III
#324
Geschrieben 08 Dezember 2023 - 18:24
Liebe Yvonne,
ja, der Roman von Philip K. Dick und die BR-Filme sind drei ganz unterschiedliche Inhalte. Ich könnte jetzt ziemlich viel darüber erzählen, weil diese Werke eine Art Spezialgebiet von mir sind, aber das würde zu weit führen.
Wenn nicht alle Lesenden das merken, was soll's. Ich glaube, auch nicht bewusst bemerkte Details tragen zur Dichte einer Story bei (oder gerade die!).
Auf jeden Fall, auch in Filmen. So etwas ist eine Spezialität von mir, nur leider gibt es dann vieles, das nicht erfasst wird. Diese Dinge gehören zur Tiefenstruktur eines Textes. Ich habe festgestellt, das in meinen Texten zum Teil zu viele wesentliche Informationen auf dieser Ebene liegen und das ist nicht gut, weil dann von vielen zu wenig verstanden wird. Momentan bemühe ich mich, die wichtigsten Informationen alle bis zur Oberflächenstruktur durchscheinen zu lassen.
Ich sehe, ich hatte die Pointe nicht verstanden und selbst jetzt nach der Erklärung fällt es mir schwer. Wenn es zu komplex wird, hauen dir manchmal Lesende ab, denn niemand will sich ja beim Lesen dumm fühlen. Wir denken ja meistens von uns, wie clever wir sind. Grins.
Ja, klar. So etwas möchte ich natürlich auf keinen Fall. Deshalb arbeite ich auch viel mit Probeleseri, was aber offenbar nicht ausreicht, um solche Dinge abzufangen. Deshalb habe ich meine Arbeit im Lektorat intensiviert und achte besonders auch auf diese Punkte.
Mai 2024, vermutlich die nächste Exodus? Die lese ich dann. Bin gespannt. Bei deiner Story von In andere Welten warte ich mal die anderen Rezensionen ab, die von Helge hat ja schon meine Augen etwas weiter geöffnet.
Ja, genau, die nächste Exodus. Für In andere Welten bin ich noch nicht so weit. Ich komme aber demnächst dazu.
Bearbeitet von Christian Hornstein, 08 Dezember 2023 - 18:25.
#325
Geschrieben 19 Dezember 2023 - 12:13
Brandzeichen von Thomas Grüter
Ich habe von Grüter vorher mindestens drei andere Geschichten (zwei andere aus der Exodus und eine aus einem Spektrum der Wissenschaft, glaube ich) gelesen, diese hier ist bisher mein persönlicher Liebling von ihm.
Der Ich-Erzähler wird mir sofort sympathisch und nah, die Welt auch, ist unserer recht ähnlich, also near future. Ich hätte die Erklärung nicht gebraucht, warum Zeitslots für Vorträge bei Konferenzen begehrt sind, aber nun gut, vielleicht bin ich bei zu vielen Konferenzen. :-)
Die beruflich-freundschaftliche Beziehung zu Ellie (Dr. Wong) fand ich klasse, auch das Detail mit der Überwachung nett, genauso wie Phishing zum Tesla-Auto. Ellie ist außerdem in ihrer Härte gegenüber sinnlosen Anmachen empowernd, ein schönes Gegengift zu einigen weniger modernen Frauenfiguren anderer zeitgenössischer SF.
SpoilerKlar, das mit dem Hund und das letzte Wort der Story waren sicher ein wenig drüber, das war ein bisschen zu arg in Richtung Klamauk, beim Hund musste ich an MIB denken.
Ich habe die Story jetzt erneut gelesen. Mir gefällt die erste Hälfte besser als die zweite, in der zweiten Hälfte gibt es Action (aber nicht sooo interessant wie der Einstieg) und das mit dem sprechenden Hund Ciara fand ich wieder etwas drüber (MIB hin oder her und auch ich mochte Frank).
Trotzdem, das mit dem Brandzeichen vom Anfang und vom Ende ist schön rund, auch das "Uga" am Ende fand ich witzig. Insgesamt hätte ich mir zwar vermutlich eine Story gewünscht, die sich selbst etwas ernster nimmt. Trotz allem - ich reihe sie ein in meine Best-Of aus 2023. Die Ideen und die Spannung der ersten Hälfte sind einfach zu geil.
Dann lese jetzt nur noch drei oder vier Storys aus den Klima Zukünften 2050 nochmal und dann schließe ich den Kurzgeschichtenjahrgang ab.
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