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Babel von Rebecca F. Kuang


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49 Antworten in diesem Thema

#31 Udo Klotz

Udo Klotz

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Geschrieben 09 Juni 2023 - 12:39

Ich habe zwei Aspekte oder Ebenen beim Lesen wahrgenommen, die sich auf die Gut-Böse-Dualität beziehen.

Als erstes das Themenpaket Rassismus-Kolonialismus-Diskriminierung, wo alle links oder rechts einsortiert werden, und die Gruppen unangenehm homogen sind (wir hatten das oben schon). Das zweite ist die Gewaltbereitschaft, um Dinge zu verändern. Es geht zwar auch bei Rassismus-Kolonialismus-Diskriminierung letztendlich um Gewalt, aber da ist es eindeutig. In Robin und seinem Bruder Griffin manifestiert sich die Position, dass zu sanftes Einwirken nichts bewirkt und man nur mit großen Schritten, die dann auch Gewalt beinhalten, vorwärts kommt. Für Griffin ist das klar, Robin wandert schrittweise in die Richtung, einige andere lehnen das ab. Gelungen finde ich, dass R.F, Kuang hier nicht nur zwei Extreme aufzeigt, sondern die Gewaltbereitschaft als einen weiten Bereich fast ohne Abstufungen schildert, mit Notwehr, Mord im Affekt, den Kollateralschäden von Streik und Revolution bis hin zur völligen Eskalation.Und dass sie hier ihre aufgebaute Gut-Böse-Zuordnung bei den Protagonisten durchbricht und so manchen "Guten" nun sehr stark gewalttätig werden lässt, gezielt (Griffin), gezwungen (Robin am Anfang) oder als Befreiungsschlag (Letty).

 

Ist Gewalt legitim? Oder gar notwendig? Es gibt fast keine gewaltfreien Umbrüche und Verbesserungen in der Geschichte, alle Revolutionen und Aufstände waren blutig, und selbst Gandhis gewaltfreie Aktionen haben Menschenleben gekostet. Immer dann, wenn eine Seite zu sehr in die Ecke gedrängt wird, kommt es zu einer heftigen Gegenwehr, seien es Streiks mit Aufständen, seien es Umstürze mit Waffengewalt, und selbst zum Thema Klimakatastrophe reagieren diejenigen, die sich am Abgrund stehend fühlen, mit Aktionen, die Gewalt beinhalten. Oder nehmen wir die Rolle der Medien, die anscheinend nur noch über Streiks und Demos berichten, wenn es dort zu Gewalt kommt, in Form von massiven Einschränkungen vieler Betroffener, siehe Bahnstreik oder die Klimakleber. So lese ich auch Babel, wo die Regierung in London erst agiert, wenn Gewalt auf sie ausgeübt wird, wirtschaftlich und/oder medial.

Ist es Zufall, dass in Robinsons Das Ministerium für die Zukunft nur die gewalttätigen Aktionen etwas bewirken? Dass mir kein SF-Roman einfällt, in dessen zukünftiger Welt die Klimakatastrophe friedlich überwunden wurde, aber etliche, in der eine KI einen Großteil der Menschheit tötet, damit der Rest überlebt?

 

Kann man aus seiner Rolle und seiner Prägung heraus? Ja, unbedingt. Alles andere wäre Stillstand. Dass dies sehr schwer ist, vergisst man vielleicht, wenn fast jeder Roman ein Überwinden eigener erlernter Grenzen propagiert. Insofern ist es eine Abwechslung, wenn dies hier anders geschildert wird. Aber das heißt nicht, dass ich zustimme, dass es zwangsläufig so sein muss.


Udo

#32 Rezensionsnerdista

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    Yvonne

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Geschrieben 09 Juni 2023 - 13:13

Wow ein Lesezirkel und wir sind schon auf Seite 2. In letzter Zeit waren hier ja die Lesezirkel eher etwas ruhiger.

 

Alle schon fertig außer Chris und mir?

 

Ich bin gerade hier:

 

Spoiler

 

Ich denke, dass ich es morgen oder spätestens Sonntag vollenden werde.

 

Es ist gar nicht so einfach, Stellung zu beziehen und mir geht es recht ähnlich wie Lisa. Ich frage mich schon oft, wie ich agieren würde - als jüngerer Mensch vermutlich anders als jetzt. Was Rassismus betrifft, ahne ich durch das Lesen des Buchs allmählich, dass ich als weiße Person mich da nicht so richtig einfühlen werde, nicht richtig.

So wie ich auch manchmal meinen Mann anschaue und mich frage, ob er eigentlich die leiseste Ahnung hat, wie es sein kann, eine Frau in dieser Welt zu sein und wie ich an zig Kleinigkeiten merke, dass er bestimmte Dinge gar nicht bemerkt, weil sie eben nicht "seins" sind.

Würde es mir auch so gehen, wenn ich drei nichtweiße Freund:innen hätte und sie all die kleinen Mikro-Rassismen abkriegen und ich sehe sie einfach nicht? Wie Letty?

 

Wenn das so ist, müsste ich mir deutlich mehr Geduld angewöhnen, aber es ist extrem anstrengend, immer den Erklärbär machen zu müssen. Durch Prosa kann man wenigstens mehr als nur eine Handvoll Personen gleichzeitig erreichen. Nun, zumindest mit Prosa wie Babel, was viele lesen.


Bearbeitet von Rezensionsnerdista, 09 Juni 2023 - 13:13.

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#33 Trenzalore

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Geschrieben 09 Juni 2023 - 15:53

Tut mir leid, aber ich brauche noch einige Tage. Ich komme am Wochenende nicht viel zum Lesen.


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#34 Dyrnberg

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Geschrieben 09 Juni 2023 - 16:01

Wow ein Lesezirkel und wir sind schon auf Seite 2. .

Ja, und: Ein Lesezirkel, der mit dem Satz begann "Ab dem 8. Juni (Donnerstag) lesen wir hier...."

 

Heute ist der 9. Juni und gefühlt sind alle schon fertig. :blink:



#35 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 09 Juni 2023 - 17:25

Ich lese noch!

Und Chris auch ;-)

Grins. Aber wir tauschen uns einfach wild aus, ich lasse alle Spoiler gerade weg

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#36 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 11 Juni 2023 - 08:29

Okay jetzt bin auch ich fertig

Ich warte mal etwas mit meinem Fazit, bin aber insgesamt mit Buch und Ende zufrieden

Finde die Gedanken zu Übersetzungen am Ende sehr interessant

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#37 Udo Klotz

Udo Klotz

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Geschrieben 12 Juni 2023 - 15:05

Ich habe so zügig gelesen, weil ich am Wochenende auf dem GarchingCon war und ab morgen eine Woche unterwegs bin. Für beides wäre so ein dicker Wälzer wenig geeignet gewesen.

 

Ich halte mich zum Plot noch mal zurück, will aber einen anderen Aspekt einbringen, um zu sehen, ob es den anderen auch so ging:

Ich mag Fußnoten, nicht nur in Sachtexten, solange sie hilfreich sind. Terry Pratchett hat sie immer grandios eingesetzt, und Jasper Fforde hat ihnen in der Thursday-Next-Reihe sogar eine plotrelevante Funktion gegeben. Hier in Babel war es aber eine wilde Mischung. Mal sind es bibliographische Angaben, mal Hintergrundinfos zum Geschehen, mal nette Details zum Plot (die man so schön hätte einbauen können), mal Rechtfertigungen der Autorin. Sehr oft wird die gleiche Art von Information in den Text eingebaut, dann wieder in eine Fußnote verlagert, so dass die Fußnotenverwendung erratisch wirkt. Und das fand ich dann eher nervig. Die Infos in den Fußnoten nicht, die war meist interessant.


Udo

#38 Trenzalore

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Geschrieben 15 Juni 2023 - 14:19

So, habe fertig. Nachfolgend meine Rezi.

 

Die Welt in den 1830er Jahren. In Kanton liegt ein elfjähriger Junge im Sterben, nachdem er hilflos mitansehen musste, wie seine gesamte Familie – zuletzt seine Mutter – der Cholera erlegen ist.  Buchstäblich im letzten Moment erscheint ein Engländer, der ihm seltsam ähnlich sieht und ihn mit einem Silberbarren heilt. Der Mann nimmt den Jungen mit nach England, wo er seinen chinesischen Namen ablegen muss, seine Sitten und Gebräuche, seine Kleidung und selbst seine Muttersprache aufgeben muss. Robin Swift (wie der Junge nun heißt) begreift schnell, dass der Mann, der offenbar sein Vater ist, dies aber nie öffentlich eingesteht, Chinesen für faul, verschlagen und generell für minderwertig hält. Nur seiner Sprachbegabung und seinem teilweise englischen Blut verdankt es Robin, dass er die Chance erhält, in London, ein Leben in Wohlstand zu führen, und Robin ist bereit, zu lernen und bis zur Erschöpfung zu arbeiten, um nicht in die elenden Lebensverhältnisse, die ihn in seinem Heimatland erwarten würden, zurückkehren zu müssen. Sein Ziel ist Oxford. Dort befindet sich das wichtigste Übersetzungsinstitut des Landes, in einem riesigen Turm, Babel genannt, in dem auch das Silberwerken praktiziert wird. Hierhin kommt Robin als junger Mann, um zu studieren.

„Babel“ zeigt das Britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Macht. Es unterhält ein weltumspannendes Handelsnetz und zahlreiche Kolonien, die es gnadenlos auspresst. Der wichtigste Pfeiler seiner Macht ist in diesem Alternativweltszenario aber nicht Geld, Militär oder technischer Fortschritt, sondern Silber. Silberbarren können Magie wirken, wenn ein Begriff und dessen Entsprechung in einer anderen Sprache in sie eingraviert und die Worte laut ausgesprochen werden. Die Unterschiede in der Bedeutung der beiden Begriffe, nur den Linguisten bekannt, bestimmen den Spielraum, in dem sich die Magie manifestiert. Silberbarren heilen Krankheiten, lassen Schiffe schneller fahren und Gebäude standhalten, deren Fundamente sie nicht tragen können. Um diese Magie ausüben zu können, bedarf es talentierter und hervorragend ausgebildeter Übersetzer.

Das Konzept der Anwendung von Magie durch passende Zaubersprüche erfährt hier eine faszinierende Erweiterung. Nicht die bloße Kenntnis des richtigen Wortes ist entscheidend, sondern die Kenntnis der diesem Wort innewohnenden Bedeutungen, hergeleitet aus der Etymologie. Nur derjenige, der die jeweilige Sprache vollständig verinnerlicht hat, kann Magie wirken. Er muss in dieser Sprache träumen können, um die Bedeutung des Begriffs wirklich verstehen und die Bedeutungsunterschiede, die so wesentlich für den Effekt des Silberwirkens sind, erfassen zu können. Ausführlich und anhand zahlreicher Beispiele werden in dem Roman Begriffe und ihre Entsprechungen etymologisch hergeleitet und winzigste Bedeutungsunterschiede dargelegt. „Trockene“ Sprachforschung mit ihren auf den Nicht-Linguisten üblicherweise recht akademisch wirkenden Disputen wird damit plötzlich zu einer für das Fortbestehen des Empires wesentlichen angewandten Wissenschaft.

Diese Wissenschaft des Silberwirkens kann einzig von der kleinen, elitären Gruppe der Übersetzer ausgeübt werden. Die Ironie dabei liegt darin, dass das Britische Empire dabei auf die Fähigkeiten ausgerechnet derjenigen Völker und Ethnien angewiesen ist, die es zutiefst verachtet:  Menschen aus den Kolonien, Menschen anderer Hautfarbe– alle, die nicht dem weißen, britischen Ideal des Menschenbildes entsprechen. Und so leben die zu einem Großteil aus dem Ausland stammenden Professoren und Studenten von Babel leben dabei wie in einer Blase, abgeschirmt vor dem um sie herum herrschenden Rassismus und Sexismus (Babel nimmt als einzige Fakultät auch Frauen auf). Verführt von den Möglichkeiten, die ihm in Oxford offen stehen, von all dem Wissen und den Fertigkeiten, die er erlangen kann, ist Robin zunächst nur zu gern bereit, seine eigene Herkunft zu vergessen und zu glauben, er könne ein Teil der britischen Gesellschaft werden und ihre Anerkennung erlangen. Dabei führt sein eigener Vater, der Professor in Babel ist, ihm immer wieder schmerzlich vor Augen, dass die Toleranz und Wertschätzung, die Robin in Babel erfährt oder zu erfahren glaubt, nur Illusion sind. Babel ist die Verkörperung der Macht des Empire. Wie eine Spinne sitzt es in Oxford und fängt die ausländischen Studenten mit seinen Netzen aus Verheißungen, um sie zu missbrauchen und wegzuwerfen, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben. Nichts verdeutlicht das besser als die Trauer eines Professors um eine vor Jahren verstorbene englische Studentin, während ein gerade erst bei einem Auftrag umgekommener schwarzer Student mit keiner Silbe mehr erwähnt wird.

Als Robin seinen Halbbruder Griffin trifft (ebenfalls ein von seinem Vater im Ausland gezeugtes und später nach Oxford geschicktes Kind), beginnt er – mehr aus Trotz – für die Untergrundorganisation Hermes zu arbeiten, die Silberbarren stiehlt, um sie zugunsten Armer und Kranker zu nutzen. Aber erst als Robin von Babel nach China zurückgeschickt wird und dort in die Ereignisse verwickelt wird, die zum Opiumkrieg führen sollten, beginnt er das ganze Ausmaß der verbrecherischen Machenschaften der britischen Regierung und der britischen Oberschicht im Ausland, aber letztlich auch in Großbritannien selbst zu erkennen, wo immer mehr silberverstärkte Technik zum Abbau von Arbeitsplätzen und Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten führt.

Hier zeigt sich m.E. aber auch eine Schwäche des Romans. Um die Folgen des Zeitalters der Industrialisierung für die einfache Bevölkerung, die Auswüchse des ungebremsten Kapitalismus‘ und die – moralisch verbrämte - verbrecherische Politik des britischen Empires gegenüber den Kolonien, aber auch souveränen Staaten wie China, das seine Märkte nicht für das britische Opium öffnen wollte, aufzuzeigen, hätte es des Alternativweltszenarios nicht bedurft. Das Silberwerken beschleunigt und verstärkt all diese Entwicklungen im Roman noch, aber es zeigt m.E. keine wirklich alternative Entwicklung zu der Weltgeschichte auf, wie wir sie kennen. Den einzigen bedeutsamen Unterschied bildet der Streik, den Robin und seine Mitstreiter beginnen, um eben diesen Opiumkrieg zu verhindern. Ein möglicher Erfolg dieses Streiks ist aber nur denkbar angesichts der Wirkmächtigkeit des Silbers, des einzigen phantastischen Elements des Buches. Ob in der realen Geschichte zu irgendeinem Zeitpunkt die Möglichkeit bestand, dass der Opiumkrieg durch ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Tat, hätte verhindert werden können, bleibt offen.

Nachdem der erste Teil des Romans sich in erster Linie auf die Beziehungen zwischen Robin und seinen Kommilitonen bzw. Kommilitoninnen konzentriert, das komplizierte Geflecht ihrer Beziehung, auf ihre Freundschaft, aber auch auf die zwischen ihnen bestehenden Konflikte (die nicht zuletzt auf ihrer unterschiedlichen Herkunft und Jugend beruhen), stellt der zweite Teil des Romans im Ergebnis eine wütende, gnadenlose Abrechnung mit dem britischen Imperialismus dar. Auf fast jeder Seite werden die Verbrechen der Regierung angeprangert, die Ausbeutung und Verelendung der Bevölkerung, die Korruption der Lords und Kaufleute, die Dekadenz der Reichen, die das Silberwerken für eitlen Schnickschnack nutzen statt Krankheiten zu heilen oder Elend zu lindern. Vom stillen, strebsamen Studenten, der erfolgreich die Augen verschließt, wandelt sich Robin zum fanatischen Rebellen, der den Tod Unschuldiger billigend in Kauf nimmt. Und während um ihn herum Oxford zusammenbricht, bricht auch Robins private Welt zusammen, zerstört durch enttäuschte Liebe, Verrat und Schuld.

Die düstere, kompromisslose Wucht des zweiten Teils des Buches ist ein wenig zuviel für meinen Geschmack. Sie lässt keinen Platz mehr für Reflektion, stellt ein ganzes Volk unter Generalverdacht. Auch wenn einige Stimmen Robin zur Mäßigung auffordern, muss man sich als Leser fragen, ob die Autorin der Auffassung ist, dass der Zweck letztlich die Mittel heiligt. Und ob der unvermeidliche Schluss des Romans nicht nur die Konsequenz der Schuld ist, die Robin auf sich geladen hat, sondern auch seine Taten zugleich heroisiert.


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#39 Udo Klotz

Udo Klotz

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Geschrieben 18 Juni 2023 - 07:51

Die Zusammenfassung des Plots finde ich sehr gelungen, bei den Interpretationen bin ich aber anderer Meinung.

Wenn Du sagst, dass es die phantastischen Elemente nicht benötigt, um den Kapitalismus und Kolonialismus aufzuzeigen, dann unterstellst Du, dass es die Intention der Autorin war, einen Kolonialismus-Roman zu schreiben. Ich behaupte mal, es ging der Autorin primär darum, die Bedeutung von Sprache und die Leistung von Übersetzung herauszustellen, und der von Rassismus geprägte Kolonialismus ist nur eine reizvolle Bühne dafür, die zudem erlaubt, systemische Diskriminierung am Beispiel der Historie aufzuzeigen.Falls meine Unterstellung der Intention der Autorin stimmt, ist der Kniff mit der durch Etymologie aufgeladene Sprachmagie, die sich materiell so symbolisch in Silberbarren manifestiert, sehr gelungen und zudem erfrischend neu.

Ja, in der zweiten Hälfte wandert der Fokus von der Sprache zum Rassismus, vom Elfenbeinturm der (Sprach-)Wissenschaft zur Brutalität des Alltags mit Unterdrückung und Diskriminierung, was in blutige Aufstände mündet.Ich fand den Weltenbau nicht übertrieben, sondern indifferenziert. Keinem wird erlaubt, das Korsett des Klischees abzulegen.

Ich würde aber trotzdem der Autorin nicht unterstellen, dass ihre Ansichten mit denen der Hauptfigur übereinstimmen. Könnte es nicht auch sein, dass sie die Frage, wo die Grenze ist, durch die fehlende Relativierung umso intensiver stellen will?

Ich finde es interessant, dass diese doch sehr ausführliche Rezension über ein Buch, in dem es so vielfältig um Sprache geht, völlig ausspart, wie die Autorin es verfasst hat. Kein Wort über den Sprachstil der Autorin, über ihren Umgang mit der Sprache.


Udo

#40 Trenzalore

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Geschrieben 18 Juni 2023 - 20:27

Hallo Udo,

ich weiß natürlich nicht, welche Intention die Autorin beim Schreiben hatte. Du magst damit Recht haben, dass es der Autorin primär darum ging, die Bedeutung von Sprache und die Leistung von Übersetzung herauszustellen. Bis zur Mitte des Romans war ich auch dieser Ansicht. Kuang hat aber ihren Roman nicht in ein zeitlich nicht konkretisiertes viktorianisches Setting gesetzt. Sie hat ihn am Vorabend des Opiumkrieges spielen lassen, einem historischen Ereignis, das die Überheblichkeit des Britischen Empires und seinen Glauben, anderen Völkern überlegen und deshalb berechtigt zu sein, sie zu unterwerfen, in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt. Ein Volk, das sich im Recht glaubt, wenn es ein anderes Land zwingt, das von ihm produzierte Rauschgift zu importieren, in Kenntnis dessen, dass dieses Rauschgift Millionen von Menschen in Abhängigkeit, Elend und Tod treiben wird. Wenn ich ein solches, für China traumatisches geschichtliches Ereignis als Hintergrund eines Romans wähle, geschieht das m.E. nicht nur, um die Bedeutung von Sprache und Übersetzung herauszustreichen. Wer sich nur ein wenig mit chinesischer Geschichte befasst hat (und ich bin da wirklich nur ein interessierter Laie), erkennt schnell, welche Folgen der verlorene Opiumkrieg für China hatte. Ein Teil der Vorbehalte, die zwischen China und dem Westen bestehen (und ich will hier wirklich nicht für das chinesische Regime Partei ergreifen), dürfte auf diesen verlorenen Opiumkrieg zurückzuführen sein. Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer zu glauben, dass es der Autorin nicht auch zugleich um deutliche Kritik am Kolonialismus ging. 

Ich weiß auch nicht, ob die Ansichten der Autorin mit denen der Hauptfigur übereinstimmen. Mich stört aber die einseitige Konzentration auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung des Rechts. Auf der letzten Seite des Epilogs heißt es: "Die Zeichen mögen zwar auf Sieg stehen, doch er muss durch Gewalt erzwungen werden, durch Blut und Leid, durch Martyrium." Victoires Worte nehmen also Bezug auf Robins Opfer. Hier findet jedenfalls eine Rechtfertigung und Glorifizierung statt. Natürlich sind Robin und Victoire nur Figuren in einem Roman. Sie sind für den Leser aber auch positive Bezugspersonen. Ich muss mich also als Leser schon fragen, was mir der Autor sagen will, wenn er seine "Helden" so handeln lässt, wie er sie handeln lässt, insbesondere nach einer m.E. mit Kritik derart vollgeladenen zweiten Romanhälfte. 

Was die Sprache betrifft, hast Du Recht, dass ich zum Sprachstil und den Umgang mit Sprache nichts geschrieben habe. Ich hätte ergänzen können, dass das Buch gut und flüssig geschrieben ist und mir der Sprachstil gefallen hat. Ich bin aber trotz des Themas nicht der Meinung, dass der Umgang der Autorin mit der Sprache im Vergleich zu anderen Autoren besonders heraussticht. Die Möglichkeiten, hier mit Sprache zu experimentieren oder besondere Stilmittel einzusetzen, hat sie m.E. nicht genutzt. Was ich schade fand, ist der Umstand, dass die Autorin zwar die Etymologie der einzelnen Begriffe akribisch recherchiert hat, die unterschiedlichen Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen sich aber weder in den Ansichten, Handlungen, Empfindungen noch in der Sprache der einzelnen Hauptpersonen niederschlagen. Die Ausübung der Magie äußert sich recht schlicht darin, dass die Worte auf den Silberbarren vorgelesen werden und dann die Wirkung eintritt. Hier hätte man darstellen können, wie sich beim Anwender die Bedeutung des Begriffs erschließt. Aber stets geht es nur um das Suchen und Aussprechen passender Wortpaare. 

 

Liebe Grüße

Chris


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#41 Rezensionsnerdista

Rezensionsnerdista

    Yvonne

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Geschrieben 19 Juni 2023 - 07:25

Was ich interessant fand (und dafür brauchte es den phantastischen Unterbau), dass die Menschen mit besonderen Sprachkenntnissen so unverzichtbar waren für die Handlung. Sonst hätte der Streik ja auch viel weniger Nutzen gehabt (klar, sie haben den Ort besetzt, aber sie waren auch selbst in ihrem Beruf so unverzichtbar). 

 

In unserem echten, historischen Kolonialismus waren die Menschen viel zu leicht ersetzbar.


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#42 Trenzalore

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Geschrieben 19 Juni 2023 - 07:59

Da hast Du recht. Ich fand es in diesem Zusammenhang auch interessant, dass es offenbar schon genaue Überlegungen gab, wie man sich einen geeigneten Übersetzer "heranzüchtet" (früh, aber nicht zu früh aus dem Heimatland holen, isoliert aufwachsen lassen usw.). Der Übersetzer wurde damit zu einer bloßen Ressource, aber eben einer sehr wertvollen. 


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#43 Udo Klotz

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Geschrieben 19 Juni 2023 - 10:44

Danke Chris, ich denke, die gezielte Wahl des historischen Zeitpunkts ist mir etwas entgangen. Das verschiebt den Fokus tatsächlich mehr, als ich es gelesen hatte. Ich sehe ja auch beide Motivkomplexe, Sprache/Übersetzung und  Kolonialismus/Rassismus/Diskriminierung, und mit Deiner Argumentation bin ich mir nicht mehr sicher, welcher überwiegt. Sicherlich anfangs der erste der beiden, dann zunehmend der zweite, bis dieser massiv dominiert.

 

Was den Sprachstil der Autorin angeht, ist mir auch aufgefallen, dass sie sich hier sehr zurückhält, Also genau die Möglichkeiten der Sprache, die sie mit Etymologie und Translationsdifferenzen auslotet, nicht selbst für ihren Text nutzt. Obwohl das Setting und der Weltenbau mit den vielen auftretenden Personen unterschiedlicher Herkunft (kulturell und materiell) so viele Möglichkeiten eröffnet hätten, das auch in den Dialogen zu spiegeln. Und ja, die Idee der Magie ist toll, die sprachliche Ausgestaltung eher dürftig - im Vergleich zur Theatralik, in der Zaubersprüche normalerweise vorgetragen werden. Aber genau diesen Widerspruch finde ich halt auch bemerkenswert und erwähnenswert.

 

Was die Gewalt als Mittel zum Zweck angeht, da fällt mir auf, dass Babel sich da in guter Gesellschaft befindet.Es gibt ja derzeit etliche Versuche, eine Utopie zu beschreiben, wie man unsere derzeitigen Probleme mit Klimakatastrophe und Zerstörung des Lebensraums bewältigen kann. Ich habe jedoch noch keine gelesen, in der auf Gewalt verzichtet wurde, sie war immer zentraler Bestandteil, um eine Veränderung zu bewirken. Alle diese Romane haben die Botschaft, dass Einsicht und freiwilliger Verzicht nicht ausreichend sind, dass dieser Hebel zu klein und zu langsam ist, um die Probleme anzugehen. Da passt Babel einfach ins Schema, auch ins historische mit all den Aufständen und Revolutionen, die in der Regel nie gewaltfrei waren. Die Novemberrevolution von 1989 ist anscheinend wirklich die große Ausnahme.

 

Wenn man nun in Babel die Gewalt, die für den Umsturz aufgewendet wird, der Gewalt gegenüberstellt, die als alltägliche Machtausübung im Roman geschildert wird, im Kontext von Rassismus und Diskriminierung, dann relativiert sich das auch noch mal und wird zur naheliegenden Lösung für Probleme, weil niemand Alternativen erlebt hat. Nicht, dass ich hiermit Gewalt rechtfertigen oder legitimieren will.Aber gewaltfreie Lösungen benötigen auch ein passendes Umfeld.Für mich bleibt somit nur die Frage, wo die Linie ist, die man nicht überschreiten sollte - und die hier von Robin eindeutig überschritten wurde.


Udo

#44 Trenzalore

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Geschrieben 20 Juni 2023 - 06:27

Ich habe noch eine Sache vergessen, die ich erwähnen wollte. Die Autorin ist offenbar Doctor Who-Fan. Ist’s Bigger on the Inside.
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#45 Pogopuschel

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Geschrieben 20 Juni 2023 - 09:33

Wenn man nun in Babel die Gewalt, die für den Umsturz aufgewendet wird, der Gewalt gegenüberstellt, die als alltägliche Machtausübung im Roman geschildert wird, im Kontext von Rassismus und Diskriminierung, dann relativiert sich das auch noch mal und wird zur naheliegenden Lösung für Probleme, weil niemand Alternativen erlebt hat. Nicht, dass ich hiermit Gewalt rechtfertigen oder legitimieren will.Aber gewaltfreie Lösungen benötigen auch ein passendes Umfeld.Für mich bleibt somit nur die Frage, wo die Linie ist, die man nicht überschreiten sollte - und die hier von Robin eindeutig überschritten wurde.

Ich denke, das ist der entscheidende Puntk des Buchs, das im Original übrigens Babel: Or the Necessity of Violence heiißt. Die Gewalt der Unterdrückung durch Einzelpersonen, aber vor allem durch die Strukturen und das System, wird dabei gerne vergessen.



#46 Liza

Liza

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Geschrieben 20 Juni 2023 - 13:09

Ja, der Punkt hat mich auch sehr zum Nachdenken gebracht. Ich denke die Autorin/das Buch hat dabei in gewissem Umfang schon Recht, dass ein großes, mächtiges System sich nicht so leicht ändern lässt, und ja, vielleicht auch tatsächlich nur durch Gewalt. Das ist natürlich schon eine heftige Ansage, aber ich würde dem nicht einen gewissen Wahrheitsgehalt absprechen.



#47 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 20 Juni 2023 - 13:09

Ich halte das auch für die Prämisse und finde das nicht sehr realitätsfern, aber auch echt heftig


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#48 Trenzalore

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Geschrieben 20 Juni 2023 - 13:17

Ja, das geht mir genauso. Deswegen hatte ich ja auch so ein Unbehagen beim Lesen.
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#49 Udo Klotz

Udo Klotz

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Geschrieben 26 Juni 2023 - 08:57

Babel hat den Locus Award gewonnen: https://locusmag.com...awards-winners/


Udo

#50 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 26 Juni 2023 - 09:01

... und ich kann gar nicht weit genug streuen, wie viel Spaß der Kaiju-Roman von Scalzi mir gemacht hat :-)


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