So, habe fertig. Nachfolgend meine Rezi.
Die Welt in den 1830er Jahren. In Kanton liegt ein elfjähriger Junge im Sterben, nachdem er hilflos mitansehen musste, wie seine gesamte Familie – zuletzt seine Mutter – der Cholera erlegen ist. Buchstäblich im letzten Moment erscheint ein Engländer, der ihm seltsam ähnlich sieht und ihn mit einem Silberbarren heilt. Der Mann nimmt den Jungen mit nach England, wo er seinen chinesischen Namen ablegen muss, seine Sitten und Gebräuche, seine Kleidung und selbst seine Muttersprache aufgeben muss. Robin Swift (wie der Junge nun heißt) begreift schnell, dass der Mann, der offenbar sein Vater ist, dies aber nie öffentlich eingesteht, Chinesen für faul, verschlagen und generell für minderwertig hält. Nur seiner Sprachbegabung und seinem teilweise englischen Blut verdankt es Robin, dass er die Chance erhält, in London, ein Leben in Wohlstand zu führen, und Robin ist bereit, zu lernen und bis zur Erschöpfung zu arbeiten, um nicht in die elenden Lebensverhältnisse, die ihn in seinem Heimatland erwarten würden, zurückkehren zu müssen. Sein Ziel ist Oxford. Dort befindet sich das wichtigste Übersetzungsinstitut des Landes, in einem riesigen Turm, Babel genannt, in dem auch das Silberwerken praktiziert wird. Hierhin kommt Robin als junger Mann, um zu studieren.
„Babel“ zeigt das Britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Macht. Es unterhält ein weltumspannendes Handelsnetz und zahlreiche Kolonien, die es gnadenlos auspresst. Der wichtigste Pfeiler seiner Macht ist in diesem Alternativweltszenario aber nicht Geld, Militär oder technischer Fortschritt, sondern Silber. Silberbarren können Magie wirken, wenn ein Begriff und dessen Entsprechung in einer anderen Sprache in sie eingraviert und die Worte laut ausgesprochen werden. Die Unterschiede in der Bedeutung der beiden Begriffe, nur den Linguisten bekannt, bestimmen den Spielraum, in dem sich die Magie manifestiert. Silberbarren heilen Krankheiten, lassen Schiffe schneller fahren und Gebäude standhalten, deren Fundamente sie nicht tragen können. Um diese Magie ausüben zu können, bedarf es talentierter und hervorragend ausgebildeter Übersetzer.
Das Konzept der Anwendung von Magie durch passende Zaubersprüche erfährt hier eine faszinierende Erweiterung. Nicht die bloße Kenntnis des richtigen Wortes ist entscheidend, sondern die Kenntnis der diesem Wort innewohnenden Bedeutungen, hergeleitet aus der Etymologie. Nur derjenige, der die jeweilige Sprache vollständig verinnerlicht hat, kann Magie wirken. Er muss in dieser Sprache träumen können, um die Bedeutung des Begriffs wirklich verstehen und die Bedeutungsunterschiede, die so wesentlich für den Effekt des Silberwirkens sind, erfassen zu können. Ausführlich und anhand zahlreicher Beispiele werden in dem Roman Begriffe und ihre Entsprechungen etymologisch hergeleitet und winzigste Bedeutungsunterschiede dargelegt. „Trockene“ Sprachforschung mit ihren auf den Nicht-Linguisten üblicherweise recht akademisch wirkenden Disputen wird damit plötzlich zu einer für das Fortbestehen des Empires wesentlichen angewandten Wissenschaft.
Diese Wissenschaft des Silberwirkens kann einzig von der kleinen, elitären Gruppe der Übersetzer ausgeübt werden. Die Ironie dabei liegt darin, dass das Britische Empire dabei auf die Fähigkeiten ausgerechnet derjenigen Völker und Ethnien angewiesen ist, die es zutiefst verachtet: Menschen aus den Kolonien, Menschen anderer Hautfarbe– alle, die nicht dem weißen, britischen Ideal des Menschenbildes entsprechen. Und so leben die zu einem Großteil aus dem Ausland stammenden Professoren und Studenten von Babel leben dabei wie in einer Blase, abgeschirmt vor dem um sie herum herrschenden Rassismus und Sexismus (Babel nimmt als einzige Fakultät auch Frauen auf). Verführt von den Möglichkeiten, die ihm in Oxford offen stehen, von all dem Wissen und den Fertigkeiten, die er erlangen kann, ist Robin zunächst nur zu gern bereit, seine eigene Herkunft zu vergessen und zu glauben, er könne ein Teil der britischen Gesellschaft werden und ihre Anerkennung erlangen. Dabei führt sein eigener Vater, der Professor in Babel ist, ihm immer wieder schmerzlich vor Augen, dass die Toleranz und Wertschätzung, die Robin in Babel erfährt oder zu erfahren glaubt, nur Illusion sind. Babel ist die Verkörperung der Macht des Empire. Wie eine Spinne sitzt es in Oxford und fängt die ausländischen Studenten mit seinen Netzen aus Verheißungen, um sie zu missbrauchen und wegzuwerfen, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben. Nichts verdeutlicht das besser als die Trauer eines Professors um eine vor Jahren verstorbene englische Studentin, während ein gerade erst bei einem Auftrag umgekommener schwarzer Student mit keiner Silbe mehr erwähnt wird.
Als Robin seinen Halbbruder Griffin trifft (ebenfalls ein von seinem Vater im Ausland gezeugtes und später nach Oxford geschicktes Kind), beginnt er – mehr aus Trotz – für die Untergrundorganisation Hermes zu arbeiten, die Silberbarren stiehlt, um sie zugunsten Armer und Kranker zu nutzen. Aber erst als Robin von Babel nach China zurückgeschickt wird und dort in die Ereignisse verwickelt wird, die zum Opiumkrieg führen sollten, beginnt er das ganze Ausmaß der verbrecherischen Machenschaften der britischen Regierung und der britischen Oberschicht im Ausland, aber letztlich auch in Großbritannien selbst zu erkennen, wo immer mehr silberverstärkte Technik zum Abbau von Arbeitsplätzen und Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten führt.
Hier zeigt sich m.E. aber auch eine Schwäche des Romans. Um die Folgen des Zeitalters der Industrialisierung für die einfache Bevölkerung, die Auswüchse des ungebremsten Kapitalismus‘ und die – moralisch verbrämte - verbrecherische Politik des britischen Empires gegenüber den Kolonien, aber auch souveränen Staaten wie China, das seine Märkte nicht für das britische Opium öffnen wollte, aufzuzeigen, hätte es des Alternativweltszenarios nicht bedurft. Das Silberwerken beschleunigt und verstärkt all diese Entwicklungen im Roman noch, aber es zeigt m.E. keine wirklich alternative Entwicklung zu der Weltgeschichte auf, wie wir sie kennen. Den einzigen bedeutsamen Unterschied bildet der Streik, den Robin und seine Mitstreiter beginnen, um eben diesen Opiumkrieg zu verhindern. Ein möglicher Erfolg dieses Streiks ist aber nur denkbar angesichts der Wirkmächtigkeit des Silbers, des einzigen phantastischen Elements des Buches. Ob in der realen Geschichte zu irgendeinem Zeitpunkt die Möglichkeit bestand, dass der Opiumkrieg durch ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Tat, hätte verhindert werden können, bleibt offen.
Nachdem der erste Teil des Romans sich in erster Linie auf die Beziehungen zwischen Robin und seinen Kommilitonen bzw. Kommilitoninnen konzentriert, das komplizierte Geflecht ihrer Beziehung, auf ihre Freundschaft, aber auch auf die zwischen ihnen bestehenden Konflikte (die nicht zuletzt auf ihrer unterschiedlichen Herkunft und Jugend beruhen), stellt der zweite Teil des Romans im Ergebnis eine wütende, gnadenlose Abrechnung mit dem britischen Imperialismus dar. Auf fast jeder Seite werden die Verbrechen der Regierung angeprangert, die Ausbeutung und Verelendung der Bevölkerung, die Korruption der Lords und Kaufleute, die Dekadenz der Reichen, die das Silberwerken für eitlen Schnickschnack nutzen statt Krankheiten zu heilen oder Elend zu lindern. Vom stillen, strebsamen Studenten, der erfolgreich die Augen verschließt, wandelt sich Robin zum fanatischen Rebellen, der den Tod Unschuldiger billigend in Kauf nimmt. Und während um ihn herum Oxford zusammenbricht, bricht auch Robins private Welt zusammen, zerstört durch enttäuschte Liebe, Verrat und Schuld.
Die düstere, kompromisslose Wucht des zweiten Teils des Buches ist ein wenig zuviel für meinen Geschmack. Sie lässt keinen Platz mehr für Reflektion, stellt ein ganzes Volk unter Generalverdacht. Auch wenn einige Stimmen Robin zur Mäßigung auffordern, muss man sich als Leser fragen, ob die Autorin der Auffassung ist, dass der Zweck letztlich die Mittel heiligt. Und ob der unvermeidliche Schluss des Romans nicht nur die Konsequenz der Schuld ist, die Robin auf sich geladen hat, sondern auch seine Taten zugleich heroisiert.
.