Der späte Wurm von Rebecca Westkott (Genre: SF)
Beim zweiten Lesen lese ich noch stärker die Kritik am Kapitalismus heraus, sehr deutlich, und das erinnert mich wieder daran, dass für mich die Queer*Welten seit einiger Zeit (seit Jahren?) DER Leuchtturm in unserer deutschsprachigen Szene sind, wenn ich daran denke, wie weit die SF-Szene in den USA und co. schon ist. Gestern erst hörte ich eine Folge aus einem (Hugo-prämierten) Podcast, in dem es um Monster ging und was die Gesellschaft als Monster definiert. Beispielsweise was sie nicht kennt, was sie nicht versteht, was nichts nutzt, was nicht produktiv ist. Stark beeinflusst eben vom Kapitalismus. Sie hatten den chronisch kranken, sehr erfolgreichen (und extrem coolen) John Wiswell zu Gast und die Folge dauert neunzig Minuten und es wird viel gelacht, sehr empfehlenswert! (Die Prosa von John Wiswell und sein cooler neuer Fantasy-Roman sind übrigens auch empfehlenswert.)
Zurück zur Story: So etwas lese ich eben in der deutschsprachigen Szene zu selten und ich möchte das bitte mehr lesen! Auch woanders! Ich kann mir denken, warum es bisher nur den QW gelingt, solche Texte zu bekommen und sie haben es auch mehr als verdient, aber bitte, liebe Autor:innen, die jetzt ihre besten Texte zu den QW schicken, schreibt mehr, ballert doch auch die anderen Magazine voll. Chris vom Weltenportal hofft eh darauf, das FFM sehnt sich nach positiv-utopischen SF-Texten (dieser hier wäre vermutlich nicht Near Future genug gewesen) und die Exodus kann das sicher auch mal brauchen. :-)
However, der Text ist recht komplex und vollgepackt und endlich werden auch mal Depressionen, Antriebslosigkeit und Trauma sehr gut beleuchtet. Richtig gelungen ist der Blick von einer erdachten Zukunft auf das (ungefähr) Jetzt. Wie stehen wir denn heute Depressionen und co. gegenüber? Oder traumatischen Reaktionen?
Die Story macht es ziemlich deutlich. Der Mainstream Ton geht in die Richtung "Stell dich nicht so an und komm endlich drüber weg!". So funktioniert die Welt in der Story aber nicht mehr, wie ich nach der einführenden (sehr gelungenen!) Zahnarzt-Szene feststelle. Menschen betrachten unser Jetzt von außen und wundern sich darüber, was üblich und was normal war. Im Geschichtsunterricht erfahren sie von der Ich-Person, welches Verhalten akzeptabel war (bzw. für uns: ist) und welches nicht.
Plus, endlich mal ein gelungener Einsatz von Phrasen! Zeige mir die Phrasen deiner Gesellschaft und ich sage dir, was sie ist. Siehe auch der Titel der Story. Der frühe Vogel fängt den Wurm.
Die Erzählung ist so pickepackevoll mit Weltenbau, guten Überlegungen zu sinnvollen und nicht so sinnvollen Behandlungsmethoden (etwas, das bei einer Spinnenphobie funktioniert, klappt eben nicht bei anderen Ängsten, die begründeter sind). Dann gibt es auch außerirdische Lebensformen und am Ende erfahre ich genauer, wo ich mich überhaupt befinde. Und warum. Und wie es dazu kam. Und ja, es gibt Pupswitze. Die gehen immer, finde ich.
Ein wirklich gute Story, bei der sich mehrmaliges Lesen lohnt. Ich bin womöglich auch nicht beim letzten Lesen angekommen und wende mich dem noch einmal zu.
Die Queer*Welten halten ihr Niveau und bauen es aus und allmählich sind die Texte dem Gros der Szene auch fünf, zehn, oder gar fünfzehn Jahre voraus. Das kann SF nämlich.
Und jetzt die Preisfrage: Wieso können die Autor:innen das, die bei den QW einreichen? Was lesen die, dass sie so schreiben? Die Clarkesworld und die Uncanny? Non-SF? Oder woher kommt diese Aufgeschlossenheit, die Phantasie, das Abrücken vom Mainstream?
Das würde ich wirklich gern mal wissen!