Hallo zusammen,
die Idee ist keinesfalls neu (siehe Joanna Russ, Tiptree, beide werden auch im Nachwort erwähnt), aber das Buch ist krass. Krass gut.
Das Verschwinden von Sandra Newman, bei uns erschienen bei Bastei Lübbe, hat mich wirklich umgehauen. Ich habe es innerhalb von zwei Tagen gelesen, überall, wo ich nur konnte, im Stehen, Sitzen, in der Mittagspause.
Jetzt bin ich fertig und denke darüber nach, wie ich die Rezension mache, möglichst spoilerfrei, aber trotzdem so, dass das Buch sein richtiges Publikum findet. Einiges ist nämlich durchaus sehr böse, sehr direkt und nicht wirklich subtil.
Teil des Romans ist eine Missbrauchsgeschichte, die weit über das hinausgeht, das ich bisher gelesen habe, sehr ungewöhnlich. Teil des Romans ist auch eine (aus meiner Sicht) sehr treffende Sicht auf Rassismus. Eine sehr wichtige Nebenfigur ist Schwarz (und lesbisch, btw). Einige andere Perspektivfiguren haben einen asiatischen oder Latino (oder beides) Hintergrund.
Einen ähnlichen Roman hatte ich letztes Jahr gelesen, The End of Men (Link zur Gastrezension von Chris Witt, ich hatte den Roman daraufhin auch gelesen). Der war allerdings vergleichsweise sanft, eine Prämisse in die Richtung:
"Wir lieben unsere Männer, aber nicht das Patriarchat". Dort hat ein Virus 90% der Männer getötet, wir haben sie sterben sehen und um sie getrauert. Durch den danach sehr kleinen Anteil an Männern in der Bevölkerung hat sich die Gesellschaftsstruktur verändert, das war sehr schön zu Ende gedacht. Der Roman hat mir auch einiges klar gemacht (auch Banalitäten, wie dass Sicherheitsgurte im Auto eher auf die Sicherheit biologisch männlicher Personen ausgerichtet ist). Der war schon super gut, sicher lese ich den erneut und würde den auch bedenkenlos empfehlen, auch wenn ich oft geheult habe, so richtig krass und scharfkantig ist er nicht.
Anders Das Verschwinden. Die Kritik an Sexismus und männlicher Gewalt (die sehr originelle Formen annimmt) ist schon deutlich schärfer und heftiger und die Prämisse geht auch weit über das hinaus, was End of Men kolportiert.
Ein männlicher Rezensent bei amazon schrieb, dass er glaubt, als Cis-Mann gefiele ihm das Buch vermutlich nicht so gut wie es einer Frau gefallen hätte. Das kann ich absolut nachvollziehen.
Das Buch macht aber auch klar, inwiefern wir Frauen Teil des Sexismus werden, Dinge tun, nicht tun, uns gefallen lassen. Ich würde eher sagen, die Prämisse ist:
"Jetzt, da ich die Strukturen des sexistischen Patriarchats sehen kann, kann ich nicht mehr in die alte Welt zurück."
Das ist auch ein wenig das, was mir seit Jahren Schwierigkeiten bereitet, aber ich sehe das nach und nach und nicht so plötzlich wie die Figuren in diesem Roman, in dem von einer Minute zur nächsten alle Menschen mit Y-Chromosom weg sind. Alle, auch die Föten. Und es kommen auch keine neuen.
Als spannender SF-Roman taugt er auf jeden Fall, ein Stück Mystery mag drin sein, hat mich aber nicht gestört. Die Figuren sind außerordentlich plastisch. Die Beziehungen zueinander sind beeindruckend plastisch. Die Struktur ist toll, aber immer noch konventionell genug für Lesende wie mich.
Als Denkanstoß ist der Roman für mich der Hammer.