Oh spannend. Wie so oft ist es sehr verschieden, wer welchen Text mag. Hier meine Gedanken dazu:
Angela Liu: Pinocchio Photographie
Die Ich-Erzählerin Mei-Mei ist eine US-amerikanische Einwanderin mit chinesischen Wurzeln und möchte Medizin studieren. Um diesem Traum ihrer Eltern zu folgen, muss sie ein Praktikum annehmen, bei dem sie dabei hilft, Tote für Fotografien und Filme wieder zum Leben zu erwecken. Als ihr Vater stirbt, berühren sich Privatleben und Arbeit …
Der sprachlich dichte Text, der immer wieder eindringliche neue Bilder findet, mäandert um das Thema Tod und Sterben und nähert sich diesem an, wobei die fiktive Technik der Wiedererweckung von Toten auf mich so kryptisch und gruselig wirkt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es für eine derartige Technik wirklich Kundschaft gäbe. Mir hat besonders die atmosphärische Dichte des Textes gefallen, sowie die kleinen Schilderungen von Personen. Inhaltlich habe ich nicht ganz verstanden, wie Mei-Mei dazu kommt, den Wunsch des Vaters auf diese Art zu interpretieren, aber da ich den Rest des Textes so mochte, hat mich das ebensowenig gestört wie die doch fragwürdige Technik, die eine Menge ethischer Fragen aufwirft.
Kelsea Yu: In Erinnerungen ertrinken wir
Auch in dieser Geschichte geht es um Trauer: Rosalie, Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, lebt zusammen mit anderen in einer unterirdischen Forschungsstation. Als die Welt klimawandelbedingt zusammenbricht, erlischt der Kontakt und die Personen unter Wasser sind auf sich allein gestellt. Auch Rosalies Partnerperson Alex ist verschollen, Rosalie von Trauer und Sehnsucht erfüllt. Als sie eine Pflanze findet, die diese Trauer mit Geschmack erfüllt, verhindert es, dass Rosalie die Trauer weiter wegschiebt …
Auch in diesem Text mochte ich die Sprache, die eigenen Bilder, und die lebendig gestaltete Sehnsucht, die den Text durchzieht. Das Ende bleibt für meinen Geschmack etwas zu offen, auch weil darin der SF-Gehalt keine Rolle mehr spielt, aber insgesamt ergibt sich ein runder, in sich stimmiger Text mit schön gezeichneten Figuren.
Auston Habershaw: Brutparasitismus
Faceless, ein gestaltwandelnder Attentäter, nimmt einen kniffligen Auftrag an. Warum er das tut, warum er Leute ermordet – das bleibt unklar. Der Auftrag erfordert, dass er auf einem Planeten bleibt, auf dem alle Bewohner*innen ermordet wurden und Faceless schummelt und mordet sich durch seinen Auftrag.
Mich konnte die Geschichte nicht einfangen. Einerseits konnte ich in dem Weltenbau mit vier Alienspezies und geplanten Kriegen alle acht Jahre nicht wirklich einen Sinn entdecken, andererseits kam mir keine Figur nahe, so dass ich mich in den Verwicklungen etwas langweilte. Mir war auch gar nicht klar, ob Faceless da eine persönliche Agenda hat oder nicht. Auch sprachlich ist der Text eher glatt und hat so wenig zu bieten, was mich begeistert.
Rebecca Schneider: Ich werde dein Spiegel sein
Mare, eine der ersten Künstlichen, macht ihre Erfahrungen in der Welt. Der Text folgt ihr, wobei der Fokus eindeutig auf den Beziehungen liegt und wir erfahren, wie Mare diese gestaltet und wie sie versucht, sie zu verstehen. Auf der Kolonie, auf der die Menschen und Mare leben, ist ein Virus ausgebrochen, und Tod und Sterben spielen eine große Rolle. Daneben geht es darum, ob Mare und andere Künstliche, wirklich Persönlichkeit entwickeln oder nicht.
Ich mochte die sich mit Mares Persönlichkeit verändernde Sprache und die intensive melancholische Grundstimmung, die der Text gelungen vermittelt. Ob es am Ende eigentlich eine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, ob Mare eine Person ist oder nicht, kann ich nicht wirklich sagen. Und meines Erachtens ist genau diese Mehrdeutigkeit eine große Stärke dieses Textes.
J.A.W. McCarthy: Sieh es als Chance
Mills bekommt von ihren Eltern einen Bruder geschickt. Er ist, wie im Laufe des Textes deutlich wird, ein biosynthetisches Konstrukt, das nur einen Monat lebt und dann stirbt. Harold, der Bruder, verfügt über fiktive Erinnerungen an eine gemeinsame Kindheit und die Gespräche mit ihm bringen Mills in Kontakt mit den Misshandlungen durch die eltern.
Feinfühlig und gut beobachtet wird die wachsende Beziehung der beiden beschrieben. Am Ende gibt es einen überraschenden Twist, es wird aber auch viel offengelassen. Insgesamt hat mir dieser Text über eine sehr belastete Tochter-Eltern-Beziehung sehr gut gefallen, auch wenn rein vom Weltenbau her nicht einleuchtet, warum irgendjemand ein derartig kurzlebiges Konstrukt kaufen sollte.
Katherine Ewell: Die Leiden des neuen Zeitalters
Die Hauptfigur in diesem Text ist weit über 200 Jahre alt und ordnet alles in ihrem Leben dem Ziel unter, nicht sterben zu wollen. Sie stellt sich für medizinische Experimente zur Verfügung und gibt alles Geld für teure Behandlungen aus, die ihr Leben verlängern. Leider hat das die Nebenwirkung, dass ihre Zeitwahrnehmung sich verwirrt, sie lebt gleichzeitig im Jetzt, in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Der Text bekommt es hin, diese Verwirrung auch sprachlich sichtbar werden zu lassen und arbeitet dabei gelungen mit Rhythmisierung und Wiederholung. Die verschiedenen zeitlichen Ebenen verschwimmen, was real ist, was war und was nie passiert ist, wird unklar. Langlebigkeit wird in dieser Geschichte zur Bürde, die auch den Verwandten viel abverlangt und stellt so die Frage danach, was sie kosten darf.
Natasha King: Plötzliches Verhängnis
Dieser sehr brutale Text erzählt von einer Person, die sich das Wissen und die Psyche anderer einverleiben kann. Durch die verschiedenen Personen, die sich in der Hauptfigur mischen, bleibt immer wieder vieldeutig, was erzählt wird und die dem Körper angetane Gewalt wird auf Abstand gehalten. Auch wenn ich den Text sprachlich sehr mochte, konnte ich den brutalen Inhalt und die fiese Pointe nicht wirklich genießen und weiß nicht wirklich wieso. Der Text catcht mich einfach nicht.
Mahmud El Sayed: Erinnerungen an verlorene Erinnerungen
Gute Geschichten über den Verlust von Erinnerungen habe ich in den letzten Jahren einige gelesen. Die hier bietet einen neuen Aspekt: Die Erde ist von Außerirdischen besetzt und haben eine Erinnerungssteuer eingeführt. Alle Menschen müssen regelmäßig Erinnerungen abgeben. Ahmed, die Hauptfigur entscheidet sich für ein Erbstück, denn er möchte seinem dementen Vater eine letzte Reise ermöglichen.
Von trauriger Grundstimmung durchzogen erfahren wir von den verschiedenen Erinnerungsverlusten und einer sich ändernden Kultur um diese herum. Der Text endet offen und gibt so eine Menge Nachdenkstoff.
Z.K. Abraham: Ihr Körper, das Schiff
Dieser titelgebende Text ist der erste in dieser Sammlung, der mich nicht wirklich angesprochen hat. Ich hatte stilistisch meine Mühe damit, irgendwie holperte ich gefühlt hindurch. Weder die Figur noch das Setting wurde für mich plastisch. Die Hauptfigur ist Navigator auf einem Generationenschiff, wobei die Bewohnenden in Stämme gegliedert sind, die sich durch ihre Berufe, ihre Kleidung und ihre Traditionen unterscheiden. Die Hauptfigur gehört zu den Abweichler*innen, jenen Leuten, die ihren Stamm verlassen haben und das Schiff sabotieren wollen. Als endlich der ersehnte zu besiedelnde Planet entdeckt wird, möchte diese Figur dafür sorgen, dass das Schiff diesen Planeten nie erreicht. Für mich ist aber die Motivation der Person zu vage (sie möchte im Schiff bleiben), noch warum sie, die offenbar unter massiven (für mich ebenfalls vage bleibenden) psychischen Schwierigkeiten leidet, so unbegleitet durch das Schiff stolpert und Schaden anrichten kann. So ließ mich der Text achselzuckend zurück.
Michael Teasdale: Frank Petersen kommt nach Hause
In dieser Welt können Menschen nach ihrem Tod wieder auferstehen: als KI in einem von einem anderen Menschen übernommenen Körper. Auch Frank ersteht wieder auf, aber seine Familie ist nicht froh darüber. Die KI, aus deren Sicht der Text geschrieben ist, versucht herauszufinden, warum. Was hat Frank verborgen?
Auch wenn der Text in der Art des Verbrechens ziemlich nah am Klischee arbeitet und Frank als Figur wenig spür- oder sichtbar wird, konnte ich den Text gut lesen. Um ihn richtig gut zu machen, fehlt eine Ausarbeitung von Figuren (auch die Nebenfiguren bleiben blass) und Welt, auch bin ich über ein paar Merkwürdigkeiten wie “die Nachbarin von nebenan” gestolpert. Und wieso in fiktiven Texten immer Rorschachtests vorkommen müssen, die in der Realität als altmodisch gelten, wird wohl immer ein Rätsel bleiben ...
Frank Ward: In den Tagen danach
Sibby ist unterwegs, um etwas oder jemanden abzuholen, und erfährt Ausgrenzung. Wir folgen ihr und erfahren die Diskriminierung, ohne dass wir etwas darüber erfahren, welchen Job sie gerade hat. Ward gelingt es zwar, mich als Leser*in bei der Stange zu halten, allerdings wirkt das Vorenthalten von Informationen auf mich schon bald sehr gekünstelt und schafft viel Abstand zur Hauptfigur und zur Welt.
Als sich herausstellt, was sie tut und was an ihr besonders ist, ist das zwar eine gekonnte Pointe, allerdings erfahren wir bis zum Schluss nicht genau, was eigentlich ihn Beruf ist und warum genau welche Regierungsbehörde eingeschaltet wird. Dass sie die bevorstehende Aufgabe inhaltlich so wenig beschäftigt, ist angesichts des Inhalts (den ich aus Spoilergründen nicht verrate) vollkommen unglaubwürdig. Schade: Die Idee hat mir im Ansatz gut gefallen, aber hier musste für meinen Geschmack zu viel der Pointe untergeordnet werden. Und was hat der Titel eigentlich mit dem Inhalt zu tun?
Everdeen Mason: Scarlett
Jon arbeitet in der Entwicklung von Gesichtserkennungs-KI und versteht sich gleichzeitig als Künstler. Mithilfe eines Stipendiums bekommt er die Möglichkeit, eine seiner KI mit einem Körper zu versehen und so baut er sein weibliches Sexidol mit Riesenbrüsten, vollen Lippen und schmalster Taille und nennt sie Scarlett – nach dem Sexkunstwerk eines Kollegen. Was nach Klischee klingt, ist es leider auch. Sowohl Jon als auch Scarlett wirkten auf mich wie zugespitzte Abziehbilder ohne wirkliche Motive und bei den Dialogen, auch denen mit einem Freund Jons, überkam mich oft die Fremdscham. Das Ende ist dann passend plakativ und in seiner Konsequenz sehr vorhersehbar.
Mich überzeugt hier weder der Plot, noch die Figuren, noch die Welt. Auch sprachlich kann mich die eher einfach gehaltene Sprache des Textes mit häufig generischen Bildern und Vergleichen nicht überzeugen.
Kel Coleman: In der Angelegenheit Homo sapiens
Drei Roboter geocachen miteinander und zwei von ihnen tauschen sich darüber aus, ob die Menschen als ausgestorbene Spezies wieder belebt werden sollten oder nicht. Und wenn ja: zu welchen Konditionen?
Eine ganz niedliche Geschichte, die an für mich merkwürdigen Stellen kryptisch bleibt.
Jana Bianchi: Dein kleines Licht
Eine schwangere Frau ist neben einem zu Untersuchungszwecken gefangenen Außerirdischen die einzige überlebende Person auf einem Raumschiff. Aber es gibt keine Kommunikationsmöglichkeiten und obwohl die Frau Technikerin ist, kann sie nichts reparieren. Der Text, der mir an manchen Stellen unlogisch erscheint, lebt vor allem von der Atmosphäre: Wir erleben die Alleingeburt mit (merkwürdigerweise kann die Hauptfigur ohne Anleitung stillen) und wie Mensch und Alien zusammen um ihr Überleben ringen.
Das Ende ist für meinen Geschmack etwas zu süßlich und tischt mir eine Moral auf, die der Text an sich nicht ganz hergibt; angesichts des vorher skizzierten Weltenbaus erscheint die Moral unglaubwürdig. Trotzdem habe ich diesen Text gern gelesen, vor allem wegen solche Details wie, dass Raumanzüge natürlich weder Schwangere noch Babys mitbedenken – eine Form der Diskriminierung, die schon heute besteht und zu selten gesehen wird.
Naomi Kritzer: Das Jahr ohne Sonnenschein
In einer USA der Zukunft kommt es zur Katastrophe und die meisten Systeme brechen zusammen. Die Menschen in einer Nachbarschaft organisieren sich, treiben Tauschhandel und bauenn Nahrung an. So entsteht in der Dystopie eine kleine utopische Gemeinschaft.
Die Geschichte ist eine slice of live ohne wirklichen Spannungsbogen und verbreitet eine positive, angenehme Grundstimmung. Ich mochte sie sowohl sprachlich als auch von den Figuren her.
Besonders spannend finde ich ja immer die Stellen, an denen verschiedene Lesende zu verschiedenen Interpretationen kommen. Bei Brutparasitismus scheint mir beispielsweise, dass ich da etwas Grundlegendes anders interpretiert habe als andere Lesende und die Herausgeberinnen.