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RCE von Sybille Berg gelesen

SciFi Gesellschaft Nahzeit Erde Zukunft Revolution

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7 Antworten in diesem Thema

#1 gregorgross

gregorgross

    Limonaut

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Geschrieben 25 Oktober 2025 - 10:29

In den letzten beiden Wochen habe ich RCE von Sybille Berg (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) gelesen. RCE steht für Remote Code Execution. Das ist das, was passiert, wenn Hacker Admin-Zugriff auf dein System haben und dort Code ausführen können. Es ist der absolute Worst-Case bei Cyber-Security. Und zu einem Teil geht es im Buch ums Hacken, aber nur als Werkzeug für den Plot, niemals spezifisch mit Codezeilen oder speziellen Hack-Abläufen. Zum anderen ist unser System, die Erde, auch gerade in einem Worst-Case-Szenario. Sehr gut recherchiert und dargestellt sind alle unsere aktuellen gesellschaftlichen Probleme. Auch die heutigen Techologien spielen eine Rolle, und zwar im Hinblick auf Überwachung und was sie aus uns und unserer Gesellschaft machen. Eine mögliche Lösung all unserer Probleme, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten spielt eine große Rolle.

 

Der Zustand unserer Welt

 

Sybille Berg beschreibt in diesem Nahzeit-SciFi-Roman den Zustand unserer Welt und unserer Gesellschaft. Beide gehen am immer mehr ausufernden Kapitalismus zugrunde. Sie beschreibt ausführlich und sehr gut recherchiert, was alles schief läuft. Da ist eine nie dagewesene Ungleichheit, die dazu führt, dass einige wenige fast alles besitzen, während alle anderen immer weniger haben. Diese Superreichen kämpfen mit Lobbyismus und gerne auch Steuerhinterziehung dagegen, Steuern auf ihre übermässigen Einkommen und Vermögen zu zahlen. Dadurch wird der Staat immer schwächer und kürzt allen anderen, die ohnehin immer weniger besitzen, immer mehr soziale Leistungen. Und Rechte.

 

Deswegen werden normale Menschen, also die Mehrheit, immer unzufriedener und glauben immer weniger an den Staat. Auch das schädigt unsere Gesellschaft. Statt zu verstehen, dass die Reichen ihre Feinde sind, glauben sie dem, was auf sozialen Medien geteilt wird: Schuld an allem haben Flüchtlinge, Ausländer, insbesondere Muslime, aber auch Frauen, Schwule und Transmenschen. Und vieles von diesem Quatsch kommt, was denkt ihr, aus Trollfarmen und Thinktanks, die von Reichen beauftragt und bezahlt werden.

Statt fürs Verschlechtern des eigenen Zustands demokratische Lösungen zu finden (und die wahren Verursacher, die Reichen, die übrigens auch das mit Abstand meiste CO2 in die Atmosphäre knallen, anzugehen), ziehen sich lieber alle in Isolation zurück und entladen Hass im Internet. Das ist das, was von unserer Gesellschaft übrige bleibt.

 

Wir Normalos, die Mehrheit, werden auch anderweitig auf Trab gehalten, indem man einfach uns die Schuld am Zustand der Welt gibt (und nicht den Firmen und dem ausufernden Endlos-Wachstum, das unbedingt benötigt wird. Technologie überwacht uns alle in Bergs Zukunftsvision immer, außer natürlich die Reichen. Im Buch wird Überwachung ab 100 Millionen Euro Vermögen quasi verboten. Laut Berg werden wir bald alle kleine, smarte Devices tragen, die unser Konsum- und Gesundheitsverhalten überwachen, damit die Krankenkassenkosten super gerecht übernommen werden. Saufen wird bestraft, zu süßes Essen kaufen wird bestraft, Saufen und Essen mit z.B. Aktivistinnen wird bestraft usw. Fliegen dürfen normale Menschen nicht mehr, aber natürlich fliegen Privatjets weiterhin. Wer jung und gesund ist und Sport treibt, zahlt wenig. Wer alt ist oder dummerweise einen Unfall hatte, zahlt eben viel oder fliegt raus, wenn er/sie gerade die Krankenhauskosten bezahlen müssen.

 

> "Lassen wir die Menschen ihren Müll in 67 Tonnen trennen und schütten den Scheiß am Ende wieder zusammen, lassen wir sie Kleidung spenden, die wir am Ende verbrennen, nötigen wir sie zu einem Schuldgefühl und übertragen wir ihnen die Verantwortung für alles. Sie müssen nur bewusst konsumieren, wohnen, leben, es liegt an ihnen, sich um die Armen zu kümmern, die Straßen rein zu halten, das Plastik aus dem Meer zu fischen, und lasst uns buhen. Nicht bei den geleasten Jets, die für den Großteil der Verdreckung der Luft zeichnen. Nicht vor den Villen in all den Gated Communities weltweit, die ihre Parkanlagen mit Wasser fluten, währen die Bevölkerung auf ihre mit Fleißpunkten erworbene, rationierte Wasserzuteilung, die Wasserbörse, wartet." (S. 381)

 

 

Und so weiter und so fort. Jeder Bereich des öffentlichen und privaten Lebens wird mit derzeitigen technischen Entwicklungen nur ein bisschen in eine unmittelbare Zukunft überhöht - und am Ende kommt quasi Arbeitslager für alle heraus. Viele von uns werden ersetzt durch Roboter, und landen dann ohne Krankenversicherung am Rand der Stadt. Dort kann man auch, wenn gar nichts mehr geht, Sterbehilfe in Anspruch nehmen, um die Gesellschaft und die Welt von der eigenen unnützen Existenz zu befreien. Wenn jemand ermordet wird, muss man die Polizei bezahlen, falls man sich Ermittlungen wünscht.

 

Wie wir unsere Welt retten könnten

 

Aber, so wie Kim Stanley Robinson in Ministry for the Future, bietet Sybille Berg auch hier eine Lösung an, wie wir alle diese Welt retten könnten. Und, so natürlich bereits der Titel, hacken ist erforderlich, um das alte, kranke, demnächst wieder feudale System zu zerstören.

 

Ich verrate hier nicht mehr als dass dieser Systemsturz uns vielen kaum Angst machen sollte. Im Buch wird das Finanzsystem in allen seinen Auswirkungen zerstört, aber nur, um Ungleichheit zu glätten. Wer eine Wohnung hat, behält sie. Aber warum sollte jemand 50 Wohnungen in 48 Städten auf vier Kontinenten haben? Und wenn die Fabriken nicht mehr globalen Konzernen mit Macht nach oben und unten gehören, glaubt ihr dann, die würde niemand weiter betreiben?

 

Was mir auffiel beim Lesen

 

Erzählt wird das Ganze in einer seltsamen
Formatierung der Sätze, die ein wenig an LinkedIn und andere soziale Medien
erinnert. Aber.
Man gewöhnt sich dran. Und viele der Sätze
klingen auch mit dem Punkt mittendrin und einem weiteren Wort, das einen einzelnen Satz bildet, ganz gut.

Und

noch was fiel mir. Auf.

Das Buch ist quasi ein 679 Seiten langer, einziger Abschnitt ohne Kapitel. Das würde normalerweise stören, hier aber nicht so sehr. Sybille Berg wechselt oft die Perspektiven, geht nahtlos, mitten im Satz, aber sinnvoll von einer Person zur nächsten. Die jeweiligen Personen werden kurz - und witzig - vorgestellt, erläutert anhand von Name, Beruf, sexuellen Interessen, Gesundheit, Vermögen, kurz all dem Quatsch, den man durch sehr granulare, individuelle Überwachung rausfinden kann. Das soll einem dann, so die Idee unserer BigTech-weißen-Übermenschen-die-nach-ihren-Glücksmilliarden-an-Meritokratie-glauben, genau sagen, wen man da vor sich hat. Na, ihr werdet schon sehen, was euch das genau über diese Personen sagt.

 

Jedenfalls liest sich dieser endlose Übergang von einer Person zur nächsten, von einer Perspektive zur nächsten, quasi wie TikTok sich anfühlt. Wisch, nächstes Video, nächste Welt, nächste Gemütsverfassung, nächster Hintergrund und Umfeld und Problem. Und wisch, weiter. Manchmal natürlich kommt jemand wieder, manche sind selten oder wirklich nur einmal da. Manche bleiben auch immer anonym, aber wir Leser wissen trotzdem, wer damit gemeint ist.

 

An beides gewöhnt man sich schnell, weil Sybille Berg flott und überzeugend schreibt, schnoddrig fällt mir auch ein. Mir hat’s sehr gut gefallen. Ich denke, das Buch ist wichtig für euch alle, genau in dieser Zeit. Denn wir sind die normalen Menschen, die von Superreichen und riesigen, supranationalen Firmen verarscht werden. Und Sybille Berg öffnet uns dafür die Augen und zeigt uns sogar einen möglichen Weg, das zu lösen. Unser letztes Aufstehen, um diese Welt vor dem Untergang zu retten.

 

Lesen nicht euer Ding? Was ist mit Theater?

 

Wem das Buch zu dicke ist, im Berliner Ensemble gibt’s RCE als Theaterstück. Das lohnt sich selbst für Leute, die eher selten oder gar nicht ins Theater gehen. Denn das ist wirklich modern inszeniert, von Bühnenbild mit viel Beamer-Effekten, dieser dauernd abwechselnden Sprech- und Sichtweise des Buches, verstörendem Gang und Tanz der Schauspieler, bis hin zu Techno-tanzenden, rosa Aliens.

 

Meine Rezension habe ich auf meinem Blog gepostet ➜ https://denkpass.de/...e-berg-gelesen/


Bearbeitet von gregorgross, 26 Oktober 2025 - 10:20.

Mein Blog findest du auf https://denkpass.de
Was ich gerade lese, findest Du auf https://bookrastinat...ser/gregorgross

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#2 Naut

Naut

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Geschrieben 25 Oktober 2025 - 10:46

Gute, ausführliche Besprechung. Danke dafür.

Aber warum dieser furchtbare Monospace-Zeichensatz?
Liest gerade: Zafón - Der dunkle Wächter

#3 gregorgross

gregorgross

    Limonaut

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Geschrieben 25 Oktober 2025 - 18:42

Oh sorry. Da passierte irgendwas mit Einfügen und Schriftart und bla bla jetzt in serifenlos. Auch bissl Abschnitte hervorgehoben.


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#4 Naut

Naut

    Semantomorph

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Geschrieben 25 Oktober 2025 - 21:17

Viel besser!
Liest gerade: Zafón - Der dunkle Wächter

#5 Kai Brassel

Kai Brassel

    Ufonaut

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Geschrieben 28 Oktober 2025 - 15:49

Ich habe das Buch kurz, nachdem es herauskam, also vor etwa drei Jahren gelesen. Mit gemischten

... Gefühlen.

Die atemlose, durch den "schrägen" Drucksatz, teilweise zer-

stük-

kelte

Erzählweise hat was, war auf die Dauer aber etwas anstrengend. Ich weiß auch nicht, ob diese formalen Kniffe den Inhalt wirklich besser transportieren, als es eine traditionelle Erzählweise getan hätte. Aber wahrscheinlich steht man als etablierte Literatin auch unter einem gewissen Druck, sich auch bzgl. Form und Stil immer mal wieder etwas Neues ausdenken zu müssen. Die Einzelheiten der Geschichte sind in der Tat gut recherchiert, ergeben aber m. M. auf 680 Seiten ausgebreitet, keinen besonders spannenden Plot. Das hat das Buch, wie ich finde, mit Robinsons Ministry for the Future gemeinsam. Mein Verdacht bei beiden Büchern: Das recherchierte Material sollte dann auch irgendwie in die Geschichte rein.

 

Was Theater betrifft, bin ich wirklich gespannt, wie das auf die Bühne gebracht wird. Neben der Berliner Inszenierung, von der ich ein paar vielversprechende Ausschnitte im Fernsehen gesehen habe, gibt es seit Kurzem auch eine vom Bochumer Schauspielhaus (https://www.schauspi...uecke/26851/rce), die ich morgen besuchen werde. Sibylle Berg schreibt ja selber auch viel für das Theater. Weiß jemand, ob und inwieweit sie an den Inszenierungen beteiligt war?


Bearbeitet von Kai Brassel, 28 Oktober 2025 - 15:51.

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.


#6 rostig

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    Temponaut

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Geschrieben 28 Oktober 2025 - 16:40

Ich fand sowohl GRM als auch RCE sehr interessant und tw. recht originell. Berg suhlt sich zwar  ausgiebig in den kommenden Katastrophen, zeigt aber auch wie junge Leute dagegen vorgehen. Ob das realistisch ist oder nicht - es gibt den Geschichten eine Art Silberstreif am Horizont. 



#7 gregorgross

gregorgross

    Limonaut

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Geschrieben 29 Oktober 2025 - 19:53

@Kai: Ich weiss nicht, in wie weit Sybille Berg bei den Theaterinszenierungen involviert war. Aber hier in einem Zug sitzend, ohne das Buch zur Hand, meine ich mich daran erinnern zu können, sie mache auch Theater. Stand so zumindest hinten bei den Info über Sybille Berg. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass sie zumindest etwas dabei war.

Wie dargestellt, denke ich, dass diese Zerstückelung ein Versuch war, den Text an das, was beschrieben wird, anzugleichen / den Texten auf sozialen Medien nachzuempfinden. Das ist - wie die sozialen Medien - auf Dauer anstrengend, da hast Du recht. 

@Temponaut: GRM liegt hier und wartet auf mich. Ich schiebe aber erstmal haufenweise anderes Zeug dazwischen. Und was die Hoffnung angeht, dass diese Konflikte lösbar sind, die halte ich für wichtig. Denn eigentlich, so sieht man ja in RCE, ist unser Untergang überdeterminiert. Wenn man das alles auf sich wirken lässt, was da an Überwachung, Betrug, Steuerhinterziehung usw. aufgelistet ist, dann sollten wir alle (außer ca. 1000 Milliardäre) völlig verzweifelt sein. Aber bereits beim Lesen vergisst man ja bereits fast alles. Die Auswege aus KSRs Ministerium für die Zukunft und Bergs RCS sind sich übrigens teilweise ähnlich: die Ungleichheit muss zerstört werden und der Weg aus der Katastrophe kann von uns nur beschritten werden, wenn er gerechter ist als das, was wir haben.


Bearbeitet von gregorgross, 29 Oktober 2025 - 19:55.

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#8 Kai Brassel

Kai Brassel

    Ufonaut

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Geschrieben 01 November 2025 - 15:03

Am Mittwoch habe ich die Inszenierung des Bochumer Schauspielhauses von RCE gesehen und war sehr angetan. Im Unterschied zum Buch, dass dem Lesenden quasi direkt ins Gesicht springt, zieht die Aufführung des Publikum durch eine leise Ansprache gleich zu Beginn sofort in den Bann. Man ist ganz bei den fünf Protas, wenn sie ihre und andere Leidensgeschichten im komplett entfesselten Kapitalismus schildern, ihrer Wut und ihren Plänen zum Sturz des Systems. Das minimalistische Bühnenbild gibt den Schauspielerinnen umso mehr Gelegenheit zur Entfaltung. Für deren Leistung und die Inszenierung insgesamt gab es stehenden Applaus. Wer hat die Gelegenheit hat, sollte mal wieder ins Theater gehen und sich das Stück anschauen.

Beim anschließenden Bier mit dem Schauspieler Konstantin Bühler und meinem alten Deutschlehrer (die beiden sind befreundet) habe ich manches Interessante über die Entstehung des Stücks erfahren, u. a., dass Sibylle Berg neben ihren 20 Romanen auch 30 Theaterstücke geschrieben hat, an der Bochumer Inszenierung aber nicht mitgewirkt hat.

GRM werde ich mir wohl nicht mehr antun, aber vielleicht den mit 400 Seiten vergleichsweise kurz geratenen Abschluss der Trilogie, der kürzlich herausgekommen ist: https://www.ndr.de/k...a,berg-122.html. Darin geht sie anscheinend über dystopische Kritik hinaus und beschäftigt sich mit der Frage, wie es denn nun besser gehen könnte.


Bearbeitet von Kai Brassel, 01 November 2025 - 15:04.

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.




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