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Die Science-Fiction feiert 2026 ihren 100. Geburtstag - Gratulation! Und ein kritisches Quo vadis, SF?

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    Yoginaut

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Geschrieben Heute, 16:50

Der Begriff Science-Fiction wurde 1926 kreiert: Nächstes Jahr ist also das hundertjährige Jubiläum!

 

Spekulative Fiktionen gab es zwar auch schon vor 1926 - in der Zeit von 1818 bis 1926 wurde es Black Romance (Frankenstein von Mary Shelley ) bzw. Technischer Abenteuerroman (Jules Verne) oder Scientific Romance (H.G. Wells) genannt . Noch frühere Beispiele wurden nachträglich als Proto-SF bezeichnet. *)

 

...das Kind kriegt einen Namen!

Der Begriff selbst stammte tatsächlich aber von einem Fan der die Startausgabe von Hugo Gernsback’s Magazin Amazing Stories vom April 1926 gelesen hatte (s. Bild), in der Gernsback vorschlug die Erzählungen , die er dort veröffentlichen wollte ‚scientific fiction zu nennen. Das erschien dem Fan aber zu sperrig als Begriff und schlug in seinem Leserbrief – Science Fiction vor! So kommt der Begriff tatsächlich aus dem Fandom – das sich mit den Magazinen zu einer wichtigen Basis des aufstrebenden Genres entwickelte.

 

...vom Kleinkind

Das Kleinkind SF war Anfangs ausschließlich in Magazinen zu finden – bei längeren Texten auf verschiedene Ausgaben aufgeteilt – zb. Asimov mit „The Mule“ als Teil der späteren ‚Foundation’ oder A. E. van Vogt mit den Episoden die später zum Roman ‚The Voyage of the Space Beagle’ umgearbeitet wurden.

 

.zum Teenager

1939 war Science-Fiction 13 Jahre alt und in der Pubertät - und sie trat in ein Zeitalter des Wachstums und einer Verbesserung ihrer Qualität ein, dank der prägenden Person John W. Campbell’s, Schriftsteller und Herausgeber des Magazins Astounding. Er scharte die Riege der heutigen Autorenklassiker des Goldenen Zeitalters um sich wie die oben genannten, aber auch andere wie Heinlein oder Clarke – und forderte sie dazu heraus, wissenschaftlich fundierte und qualitativ ansprechende Geschichten zu erzählen: Die klassische Golden Age Periode der SF.

 

...Young Adult Sinnkrise

Nach dem 2. Weltkrieg angesichts der gezündeten Atombombe , dem Schritt in den kalten Krieg und der nuklearen Bedrohung bekam die Mittzwanzigerin SF eine Sinnkrise. Der Fortschrittsoptimismus verschwand und wurde von ernsteren dystopischen Stoffen abgelöst wie Orwell’s 1984 oder Huxley’s ‚Brave New World’. Nicht frei von der Paranoia der McCarthy-Ära kamen im Zuge der 50er („We are property“) Invasionsgeschichten wie Heinleins The Puppet Masters oder Wyndham‘s The Day of the Triffids oder The Midwich Cuckoos dazu.

 

...endgültig erwachsen!

In den 50er und die 60er wurde die SF endgültig erwachsenen: Autoren wie Dick, Bester , Wyndham oder Kornbluth, die in ihren Romanen auch mal Drogen oder Philosophie zu Themen machten – für Robert Silverberg war DAS das Goldene Zeitalter der SF.

 

...die Nonkonformistin

Die SF entwickelte sich den 60ern zur Nonkonformistin die mit literarischem Modernismus und Experimentiergeist eine rohe Kraft und Energie entwickelte , die sie mit der der sich rapide ändernden Welt der Bürgerrechte, Drogen, Psychedelika, des politischen Wandels und der Emanzipation verschmolz – so schreiben nun mehr Frauen SF wie Ursula K. Le Guin oder Johanna Russ. Der britische Autor Michael Moorcock übernahm 1964 das New Worlds Magazin und gab  Autoren eine Heimat wie J. G. Ballard, Brian Aldiss oder Moorcock selbst. Der wichtige Impuls reichte in die 70er und war bis Anfang der 80er spürbar . Am Ende war sie eine Mitten im Leben stehende fünfizgjährige – und dann kam 1977 Star Wars.

 

SF wird zu Sci-Fi uminterpretiert

Der Impakt auf die Interpretation was SF leisten könnte, ist (im negativen Sinn) immens gewesen: Mit einem Mal war das Golden Age der 30er und 40er in der Popkultur angelangt – ein Rückschritt (Strahlenkanonen und Raketenschiffe waren en vogue) , der auch durch das Big Business gefördert wurde: Sci-Fi ließ sich gut monetarisieren und wurde vom allgemeinen Publikum nun überwiegend als (vermeintlich) SF gesehen. Diese Abgrenzung versucht zwischen Massenpublikum tauglichen Stoffen und dem ernsten Anliegen der SF angesichts technologischer Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft ,das Neue zu suchen,Paradigmen aufzubrechen und eine veränderte Sicht auf die Welt zu finden. **)

 

die Schwester Fantasy zieht vorbei

Zudem machte der SF die Schwester Fantasy zunehmend das Leben schwer: Seit der zweiten Hälfte der 70er gewann sie immer mehr an Prominenz (Startschuss als Massenphänomen war 1977 sicherlich Terry Brook’s The Sword of Shannara, ein enorm erfolgreicher Tolkienklon mit Fortsetzungen – Verlage sahen das Fantasy auch ein grösseres Publikum als die Tolkien-Nerds ansprechen konnte. Heute geht das grössere Budget der Literaturverlage in das Schwestergenre – die Kannibalisierung ist im Gange, da dort diesbezüglich zwischen den Genres kein Unterschied gemacht wird. In der Regel starten Auflagen von Fantasy in wesentlich höheren Stückzahlen (einige Hundertausende) , zudem publiziert das Genre Markenprodukte, die geschickt über Serien eine Bindung an den Leser erfahren und gleichzeitig viele verschiedene Altersgruppen anspricht – der SF bleibt da nur eine Nische - um erfolgreich zu sein springt sie manchmal selbst auf den Mehr -vom-Gleichen -Serien-Zug auf - kann man ihr das verübeln?

 

SF strikes back! (aber nur kurz)

Mit dem Cyberpunk gab es bis Mitte der 80er eine rebellische Gegenbewegung zum konservativen, „pulpigen“ Sci-Fi (stiblbildend ist Gibson’s Neuromancer) . Dieser findet sich nun in der Postmoderne wieder: Themen sind der Abgesang auf den Fortschrittsglauben und technologischer Machbarkeit die Freiheit für alle bringen soll. Konsequenterweise kritisch wird so die Gesellschaft als fragmentiert und ungleich betrachtet – und ist auch heute mit aktuellen Fragen verbunden:

 

  • technologischem Determinismus - ethisch relevante Fragen der Künstlichen Intelligenz

  • Machtkonzentration in global agierenden Unternehmen - Abhängigkeitsverhältnisse, exportieren von Ideologien

  • globale Vernetzung - Social Media mit Echokammern und Identitätsverlust

     

Die Sehnsucht des Cybernauten ist so das Transzendente im Cyberspace (durch das neuronale Interface) - und schließt sich so literarisch direkt mit der Romantik des 19. Jahrhunderts kurz: Der Neuromancer – der neuartige Romantiker! Aber der Antiheld (ein isoliertes Individuum , aber ständig vernetzt) lebt in einer düsteren, postindustriellen Zukunft.

 

Das Ende der Geschichte? Space Opera, aber modern, bitte!

Aber der Cyberpunk als neue Bewegung war nur von kurzer Dauer – denn bald fand die SF sich nochmals in der Space Opera wieder - als moderne Variante ab Ende der 80er: Der Einfluss des Kulturzyklus von Iain M. Banks mit dem Auftaktband  Consider Phlebas  war enorm. Was nicht heißt das die Romane selbst schlecht waren – definitiv reicherte Banks das oft konservative , simple Subgenre auf neuartige Weise mit New Wave und Themen des Cyberpunks an – und ging so weit über „Abenteuer im Weltraum“ - so Philip K. Dick’s sarkastischer Kommentar über die seinerzeit gängige Space Opera eines E.E. „Doc“ Smith oder Edward Hamilton und deren Epigonen - hinaus ***). Charakter – bzw. Gesellschaftsentwicklung und gleichzeitig wissenschaftlich fundierte Hard SF waren den ambitionierteren unter den Autoren genauso wichtig. Aber der SF war zunehmend etwas abhanden gekommen: Der Impuls als Schafferin neuer Bewegungen ẃar endgültig gestoppt worden. Was hätte sich nach dem Cyberpunk entwickeln können - anstatt der Aufsplitterung in unzählige Subgenres mit repetitiver - im besten Fall mit interessanten Varianten gut erzählter – SF?

 

 

 

Quo Vadis, SF?

Wo steht also die SF nach 100 Jahren? Computer Games, Internet und Smartphone Streaming machen der sich (hoffentlich nicht!) in den letzten Zügen befindlichen SF zu schaffen. Neue Impulse scheinen eher aus dem Literatur-Mainstream über die Slipstream SF zu kommen, die die Kernfrage der SF stellt: „What if…? Was wäre wenn...?“. ****) .

Das geschieht auch dort nicht immer überzeugend – vielleicht wäre manchen auf der SF Welle mitreitenden Mainstream Autoren zu empfehlen (ebenso aber den jungen Genre SF Autoren) mehr die sogenannte Vintage SF der 50er bis 80er lesen, die diese essentielle Frage in den Mittelpunkt stellte. Nicht um deren Themen zu wiederholen, aber um den Impuls SF artig wieder aufzunehmen.

 

Konzeptionelle Durchbrüche (also der Paradigmenwechsel auf eine neue Weltsicht) finden sich heute meist reduziert auf außerirdische Artefakt - oder First Contact Geschichten. Dabei entwickelt sich real die Technologie und deren Auswirkungen der nächsten 10 – 30 Jahren auf das Individuum und die Gesellschaft exponentiell. Demografischen Faktoren , Klimawandel oder Fluchtbewegungen werden immer relevanter . Eigentlich eine Fundgrube für SF Themen, die das Neue suchen und in die Zukunft extrapolieren. Diese Themen werden vereinzelt auch aufgegriffen *****) , aber gegenüber dem Schwergewicht des allzu oft eskapistischen Erzählens stellt sich die Frage, ob die SF (und damit die engagierten Kleinverlage, die das Risiko eingehen, sich auf den Kern der SF zu besinnen) überleben wird.

 

Hoffen wir das Beste für 2026 und danach!

 

 

*) Mary Shelley „Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818)“ wiederum übernahm die Bestrebungen der düsteren Variante der Romantik eines E. T. A. Hoffmann (z.b. Der Sandmann von 1816).

Bsp. Für Proto-SF: Johannes Kepler – Somnium (1634), Jonathan Swift – Gulliver’s Travels (1726)

 

**) Paradebeispiele in der Genre SF sind „Inverted World“/“Der steile Horizont“ von Christopher Priest oder „Orbitsville“ von Bob Shaw, „Non-Stop“ von Brian Aldiss. Neuerdings Adam Roberts mit seinen High Concept Romanen(„The This“, „The Thing itself“, „Polystom“

 

***) Die Serien Lensmen oder Skylark von Smith und „Starkings“ von Hamilton aus den 30ern betrachten Fortschrittsgläubig die Technologie als Wunder und Abenteuerinstrument

 

****) Slipstream SF findet sich seit geraumer Zeit mit Titeln bspw. wie „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“ von Michael Chabron, „Alles was wir geben mussten“ oder „Klara und die Sonne“ von Kazuo Ishiguro, "Über die Berechnung des Rauminhalts“ von Solvej Balle,"The Memory Police" Yōko Ogawa

 

*****) genannt seien als Ausnahmen Romane von Genre SF Autoren Kim Stanley Robinson („New York 2140“, „The Ministry for the Future“) oder Dave Hutchinson mit der Europa-Trilogie.

 

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Bearbeitet von head_in_the_clouds, Heute, 17:06.

"Why should one be afraid of something merely because it is strange?"

  • (Buch) gerade am lesen:Weisses Licht - Rudy Rucker (1980)



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    T.H.