Wieder droht hier die Argumentation im abstrakten Durcheinander von "Vorstellungen über..." zu versumpfen.
Ein paar Anmerkungen:
1. Ich finde es erstaunlich, wie bereits einige von Euch sind freimütig über Texte zu spekulieren, die sie nicht gelesen haben (hielt ich für meine bevorzugte Domäne als notorischer Querbeet und 3/4-Anleser
). Das soll keine Rüge, sondern ein Vorsichtsappell sein.
2. Der "Normleser" (vulgo: Ottonormalleser) ist ein Phantastie-Wesen. Was ist normal. Ich persönlich gehe davon aus, daß die meisten Menschen irgendwie "spinnen", aber vielleicht schließe ich da zu keck von mir auf andere.
3. Cazotte ist zwar Jesuitisch erzogen worden, hat sich dann aber mit den Christen zerstritten, wandte sich begeistert der Aufklärung zu (dennoch begeisterter Monarchist), bandelte mit den Illumiten an und wurde dann (salopp gesagt) sogar ein Prophezeiungen-verkündender "Scharlatan". Das ist alles andere als eindeutig.
4. Was trau ich mich über Cazottes "Idealleser" zu sagen? Nun, er schrieb die Geschichte als Twen in wenigen Tagen und trug sie bei Salongesellschaften leidenschaftlich vor. Wir haben es also mit einer Spektakeldienstleistung eines Geselligkeitsrunden-Unterhalters für die "bessere Gesellschaft" zu tun. ich empfehle die Lektüre von kulturgeschichtlichen Texten zum Thema "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (z.B. eben Habermaß, aber auch das Reclam-Bändchen "Europa im Jahrhunder der Aufklärung" von Barbara Stollberg-Rilinger erscheint mir dazu ganz brauchbar).
Kurz: die kontrollierte hierarchisch vertikale Stimmungswetterformatierung wird aufgeweicht und wandelt sich zur (Unterhaltungs)Arena der Launen und zum (Diskurs)Markt der Meinungen. Wer bestimmt das Weltbild? Nicht mehr die Authoritäten, sondern die Gesellschaft und die Öffnetlichkeit.
5. Da ich Cazottes Text ins Spiel gebracht habe, erinnere ich nochmal daran, warum ich das tat. Um zu zeigen, wie Todorov diesen Text mittels Auswahlstellen zurechtbiegt, damit der Text als Musterbeispiel für T.s Unentschiedenheits-Kriterium herhalten kann (das ist imho ein schönes Beispiel für die Rahmungen und "Realitätstunnel"-Formatierungen, von denen eben immer die Entscheidung Real/Objektiv und Unreal/Subjektiv abhängt). Depp Alvares ist zugleich Icherzähler. Imho kann man als Leser uneins sein mit Alvares und eben NICHT zweifeln, sondern (siehe Wörtlichnehmen der Schilderungen der Erscheinungen bei der Teufelsbeschwörung, Kamel, Hündchen usw) durchaus mit einiger Berechtigung der Meinung sein, daß in der Fiktionswelt von "Der verliebte Teufel" tatsächlich Wundersames geschieht.
Vertraue ich Alvares dem Icherzähler oder nicht? Oder um genauer ins Detail zu gehen? Wann vertraue ich ihm, und wann nicht. Der gute Alvares hat ja auch andernorts Visionen und sieht Erscheinungen (gemahnende an seine verehrte Frau Mama in einer Kirche bei stürmischer Nacht usw). Und eine Stufe weiter: vertraue ich Cazotte als Erzähler?
6. Meine Kritik an Todorov läuft darauf hinaus, daß er den Scheidegrad, auf dem die "reine Phantastik" balancieren muß, zu schmal hält. Lesen und Meinen ist ein solange ein
Prozess, bis man mit der Eintscheidungs-Axt der Resummee-Abstraktion das dualistische Entweder-Oder-Spiel spielt. Aber MUSS man das? Als Strukturalist muss man das anscheinend. Ich als Leser muß das nicht, und ich freue mich immer, wenn auch Geisteswissenschaftler zugestehen und so locker-weise sind, daß die Haltung zu einem Text ruhig "in luftiger pendelnder Schwebe" bleiben kann. Genau dies ist nämlich imho einer der großen Stärken der Phantastik-Modi. Auch die im Phantastik-Modi gereiften Genre-Strömungen Fantasy, SF und Horror glänzen imho dadurch, wenn die Wunderlichkeiten ...
... SOWOHL als Zauberhaftes, als Novum, als "Sense of Wonder"-Auslöser für sich stehen (
manchmal ist ein Ork einfach nur ein Ork, oder
"...was bleibt sind nackte Namen", sie die Schlußworte des Bestsellers von Reulando Uga: "Das wahre Getose" lauten);
... ALS auch als nachdenkanregungsmächtige Metaphern auf Dinge in der tatsächlichen Wirklichkeit verstanden werden können (
der Ork als Nazi, der Ork als Kommunist, der Ork als Hooligan ... siehe die Arbeit der trotzkistischen Maia Chiéville: "Zwischen schwebenden Bedeutungen entscheidet die Intuition").
(Beide grad in Klammer genannten Werke erschienen bei Clott-Ketta, Herngstrat.)
Grüße
Alex / molo
Bearbeitet von molosovsky, 23 August 2007 - 17:39.