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Phantastik-Begriff


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445 Antworten in diesem Thema

#181 Konrad

Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 15:45

Kann man ein wunderbares Weltbild haben - ist das Wunder nicht das Element, welches nach einem Weltbild unmöglich ist?

Natürlich nur in der Bewertung von "Realos". :unsure:

Gleichwie, denn soviel ist klar: "Don Depp" bezweifelt weder die Existenz des Teufels, noch die von Schwarzmagiern. Man könnte die Situation genauer beschreiben, aber ich denke, das trifft es ganz gut. Und hier stellt sich die Frage: Welcher fiktive Leser? Darum mein Hinweis auf den katholischen Autoren (und wohl auch eben solche Leserschaft): Meines Wissen galt der Teufel hier als reale Gestalt. Bei den Protestanten & Juden gilt/galt er m. W. als Metapher. Macht das einen Unterschied? Oder reicht es, dass der Teufel nach "unserem" (also deinem & meinem) Verständnis ein Wunder ist?

Das macht Todorov ja so fragwürdig, die Abhängigkeit vom "herrschenden" Weltbild, das natürlich einem Wandel unterliegt. Aber es ist nicht nur der historische Wandel des Weltbildes, der dieses Konzept absurd erscheinen läßt, sondern überhaupt die Vorstellung, man könne das Weltbild eines "Normlesers" objektivieren. Welches Weltbild könnte man dem heutigen "Normleser" denn zubilligen? Kann ein solcher Leser mit relativistischen und quantenmechanischen Effekten umgehen?

Und hier bin ich mir einfach nicht sicher, inwiefern man die Geschichte ohne übernatürliche Elemente deuten kann - eine Vielzahl lässt sich sicherlich aufheben, aber mir scheint, als ob es keine Erklärung gibt, die alle auflöst - eine kann den Teufel rationalisieren, eine andere den Schwarzmagier - aber beide zugleich funktionieren nicht. Nun, so scheint es mir jedenfalls.

Na, dann wäre es nur eine "wunderbare" Geschichte. ;)

Bearbeitet von Konrad, 23 August 2007 - 16:05.


#182 simifilm

simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 15:59

Kann man ein wunderbares Weltbild haben - ist das Wunder nicht das Element, welches nach einem Weltbild unmöglich ist? Gleichwie, denn soviel ist klar: "Don Depp" bezweifelt weder die Existenz des Teufels, noch die von Schwarzmagiern.

Wieso soll man kein wunderbares Weltbild haben können? Weltbild sagt ja nur aus, dass jemand bestimmte Vorstellungen hat, wie die Welt ist, und die können eben stark variieren.

Und hier stellt sich die Frage: Welcher fiktive Leser? Darum mein Hinweis auf den katholischen Autoren (und wohl auch eben solche Leserschaft): Meines Wissen galt der Teufel hier als reale Gestalt. Bei den Protestanten & Juden gilt/galt er m. W. als Metapher. Macht das einen Unterschied? Oder reicht es, dass der Teufel nach "unserem" (also deinem & meinem) Verständnis ein Wunder ist?

Kurze Pingelei: "impliziter Leser". Aber zum eigentlichen Thema: Sicher kann nicht unser Weltbild ausschlaggebend sein. Du musst einen Text vor dem Hintergrund der Kultur lesen, in der er entstanden ist. Sonst könntest Du keinen mittelalterlichen Text verstehen. Wie das in diesem speziellen Fall zu deuten ist, weiss ich nicht, da ich die Geschichte nicht kenne, aber solche direkten Schlüsse 'Der Autor ist katholisch, also ist der Teufel real' sind gefährlich bis falsch, denn der reale Autor ist in diesem Zusammenhang sicher die am wenigsten wichtige Instanz. Es sei denn, es gibt ein explizites Statement, in dem er sagt: "Ich glaube an den Teufel, und der Auftritt des Teufels ist eine realistische Beschreibung." Selbst wenn der Autor an den Teufel glaubt, ist es ohne weiteres plausibel anzunehmen, dass hier ein in der damaligen Zeit existierender Kampf zwischen Aufklärung und Glauben ans Übernatürliche inszeniert wird. Auch ein erzkatholischer Leser, der 100% an den Teufel glaubt, kann einen Text schreiben, der mit dieser Unsicherheit spielt. Der Witz ist ja gerade, dass hier mit zwei existierenden Weltbildern, gewissermassen mit zwei Sets von Konventionen gespielt wird, das ermöglicht überhaupt erst die Unsicherheit.

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#183 simifilm

simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 16:00

Das macht Todorov ja so fragwürdig, die Abhängigkeit vom "herrschenden" Weltbild, das natürlich einem Wandel unterliegt.

Todorov ist in diesem Punkt zwar sehr knapp, aber er versteht doch genug von Literatur, um zu wissen, dass man einem Text nicht einfach ein späteres Weltbild überstülpen darf, wenn man ihn analysiert.

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#184 Konrad

Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 16:11

Todorov ist in diesem Punkt zwar sehr knapp, aber er versteht doch genug von Literatur, um zu wissen, dass man einem Text nicht einfach ein späteres Weltbild überstülpen darf, wenn man ihn analysiert.

Sorry, da habe ich bei deiner Antwort oben noch editiert: Aber es ist nicht nur der historische Wandel des Weltbildes, der dieses Konzept absurd erscheinen läßt, sondern überhaupt die Vorstellung, man könne das Weltbild eines "Normlesers" objektivieren. Welches Weltbild könnte man dem heutigen "Normleser" denn zubilligen? Kann ein solcher Leser mit relativistischen und quantenmechanischen Effekten umgehen?

Bearbeitet von Konrad, 23 August 2007 - 16:16.


#185 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 16:21

Sorry, da habe ich bei deiner Antwort oben noch editiert: Aber es ist nicht nur der historische Wandel des Weltbildes, der dieses Konzept absurd erscheinen läßt, sondern überhaupt die Vorstellung, man könne das Weltbild eines "Normlesers" objektivieren. Welches Weltbild könnte man dem heutigen "Normleser" denn zubilligen? Kann ein solcher Leser mit relativistischen und quantenmechanischen Effekten umgehen?

Diese Diskussion haben wir ja in den letzten Tagen schon geführt. Zumindest ich habe diesbezüglich meinen Standpunkt relativ klar beschrieben (oder zu beschreiben versucht). Vielleicht kannst Du ja auf ein diesbezügliches Post reagieren, bevor ich alles wieder aufrolle. Noch ein Nachtrag: Kann man von einem Weltbild eines Normlesers ausgehen? Ich behaupte, dass Du das letztlich dauernd tust, wenn Du einen Text liest, dass das ein ganz normaler Vorgang im Leseprozess ist.

Bearbeitet von simifilm, 23 August 2007 - 16:25.

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#186 Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 16:26

Diese Diskussion haben wir ja in den letzten Tagen schon geführt. Zumindest ich habe diesbezüglich meinen Standpunkt relativ klar beschrieben (oder zu beschreiben versucht). Vielleicht kannst Du ja auf ein diesbezügliches Post reagieren, bevor ich alles wieder aufrolle.

Nö, über das Thema "Normleser" haben wir nach meiner Kenntnis nicht gesprochen.

#187 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 16:31

Nö, über das Thema "Normleser" haben wir nach meiner Kenntnis nicht gesprochen.

Von 'Normleser' spreche ich ohnehin nicht ... Von der Frage, ob und inwieweit des Weltbildes einer Epoche, das in einen Text einfliesst, bestimmbar ist oder nicht, war ausführlich die Rede. Und genau darum geht es, denn das ist genau das Wissen, über das der implizite Leser verfügt.

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#188 Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 17:04

Von 'Normleser' spreche ich ohnehin nicht ... Von der Frage, ob und inwieweit des Weltbildes einer Epoche, das in einen Text einfliesst, bestimmbar ist oder nicht, war ausführlich die Rede. Und genau darum geht es, denn das ist genau das Wissen, über das der implizite Leser verfügt.

Ok, ich hinke im Nachlesen etwas hinterher.

Ich würde aber schon behaupten, dass es gewissermassen ein bestimmtes konventionelles Realismusspektrum gibt. Eindeutig fixieren lässt sich das nicht, aber es gibt zweifellos Dinge, die darin nicht enthalten sind (fliegende Schweine, Vampire, die Quadratur des Kreises, das Schlaraffenland), und solche, die darin enthalten sind (Schweine, die sich im Schlamm wälzen, Menschen sterben, Herztransplantationen, Frankreich).

Du gibst ja selbst zu, daß sich ein "konventionelles Realismusspektrum" nicht fixieren läßt. Bei der heutigen Bandbreite der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wäre dies aber erforderlich, wenn man reproduzierbare Klassifikationsergebnisse erzielen will. Hält Otto-Normalleser die Tatsache, daß ein Blitzeinschlag in einen PKW einen nicht umbringt, für mein Wunder oder nicht? Schon dieses triviale Beispiel zeigt die Bandbreite, man braucht nicht mal die Quantenmechanik aus dem Koffer zu holen.

#189 molosovsky

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Geschrieben 23 August 2007 - 17:07

Wieder droht hier die Argumentation im abstrakten Durcheinander von "Vorstellungen über..." zu versumpfen.

Ein paar Anmerkungen:
1. Ich finde es erstaunlich, wie bereits einige von Euch sind freimütig über Texte zu spekulieren, die sie nicht gelesen haben (hielt ich für meine bevorzugte Domäne als notorischer Querbeet und 3/4-Anleser :wink2: ). Das soll keine Rüge, sondern ein Vorsichtsappell sein.

2. Der "Normleser" (vulgo: Ottonormalleser) ist ein Phantastie-Wesen. Was ist normal. Ich persönlich gehe davon aus, daß die meisten Menschen irgendwie "spinnen", aber vielleicht schließe ich da zu keck von mir auf andere.

3. Cazotte ist zwar Jesuitisch erzogen worden, hat sich dann aber mit den Christen zerstritten, wandte sich begeistert der Aufklärung zu (dennoch begeisterter Monarchist), bandelte mit den Illumiten an und wurde dann (salopp gesagt) sogar ein Prophezeiungen-verkündender "Scharlatan". Das ist alles andere als eindeutig.

4. Was trau ich mich über Cazottes "Idealleser" zu sagen? Nun, er schrieb die Geschichte als Twen in wenigen Tagen und trug sie bei Salongesellschaften leidenschaftlich vor. Wir haben es also mit einer Spektakeldienstleistung eines Geselligkeitsrunden-Unterhalters für die "bessere Gesellschaft" zu tun. ich empfehle die Lektüre von kulturgeschichtlichen Texten zum Thema "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (z.B. eben Habermaß, aber auch das Reclam-Bändchen "Europa im Jahrhunder der Aufklärung" von Barbara Stollberg-Rilinger erscheint mir dazu ganz brauchbar).
Kurz: die kontrollierte hierarchisch vertikale Stimmungswetterformatierung wird aufgeweicht und wandelt sich zur (Unterhaltungs)Arena der Launen und zum (Diskurs)Markt der Meinungen. Wer bestimmt das Weltbild? Nicht mehr die Authoritäten, sondern die Gesellschaft und die Öffnetlichkeit.

5. Da ich Cazottes Text ins Spiel gebracht habe, erinnere ich nochmal daran, warum ich das tat. Um zu zeigen, wie Todorov diesen Text mittels Auswahlstellen zurechtbiegt, damit der Text als Musterbeispiel für T.s Unentschiedenheits-Kriterium herhalten kann (das ist imho ein schönes Beispiel für die Rahmungen und "Realitätstunnel"-Formatierungen, von denen eben immer die Entscheidung Real/Objektiv und Unreal/Subjektiv abhängt). Depp Alvares ist zugleich Icherzähler. Imho kann man als Leser uneins sein mit Alvares und eben NICHT zweifeln, sondern (siehe Wörtlichnehmen der Schilderungen der Erscheinungen bei der Teufelsbeschwörung, Kamel, Hündchen usw) durchaus mit einiger Berechtigung der Meinung sein, daß in der Fiktionswelt von "Der verliebte Teufel" tatsächlich Wundersames geschieht.
Vertraue ich Alvares dem Icherzähler oder nicht? Oder um genauer ins Detail zu gehen? Wann vertraue ich ihm, und wann nicht. Der gute Alvares hat ja auch andernorts Visionen und sieht Erscheinungen (gemahnende an seine verehrte Frau Mama in einer Kirche bei stürmischer Nacht usw). Und eine Stufe weiter: vertraue ich Cazotte als Erzähler?

6. Meine Kritik an Todorov läuft darauf hinaus, daß er den Scheidegrad, auf dem die "reine Phantastik" balancieren muß, zu schmal hält. Lesen und Meinen ist ein solange ein Prozess, bis man mit der Eintscheidungs-Axt der Resummee-Abstraktion das dualistische Entweder-Oder-Spiel spielt. Aber MUSS man das? Als Strukturalist muss man das anscheinend. Ich als Leser muß das nicht, und ich freue mich immer, wenn auch Geisteswissenschaftler zugestehen und so locker-weise sind, daß die Haltung zu einem Text ruhig "in luftiger pendelnder Schwebe" bleiben kann. Genau dies ist nämlich imho einer der großen Stärken der Phantastik-Modi. Auch die im Phantastik-Modi gereiften Genre-Strömungen Fantasy, SF und Horror glänzen imho dadurch, wenn die Wunderlichkeiten ...
... SOWOHL als Zauberhaftes, als Novum, als "Sense of Wonder"-Auslöser für sich stehen (manchmal ist ein Ork einfach nur ein Ork, oder "...was bleibt sind nackte Namen", sie die Schlußworte des Bestsellers von Reulando Uga: "Das wahre Getose" lauten);
... ALS auch als nachdenkanregungsmächtige Metaphern auf Dinge in der tatsächlichen Wirklichkeit verstanden werden können (der Ork als Nazi, der Ork als Kommunist, der Ork als Hooligan ... siehe die Arbeit der trotzkistischen Maia Chiéville: "Zwischen schwebenden Bedeutungen entscheidet die Intuition").

(Beide grad in Klammer genannten Werke erschienen bei Clott-Ketta, Herngstrat.)

Grüße
Alex / molo

Bearbeitet von molosovsky, 23 August 2007 - 17:39.

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

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#190 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 17:18

Ok, ich hinke im Nachlesen etwas hinterher. Du gibst ja selbst zu, daß sich ein "konventionelles Realismusspektrum" nicht fixieren läßt. Bei der heutigen Bandbreite der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wäre dies aber erforderlich, wenn man reproduzierbare Klassifikationsergebnisse erzielen will.

Nö, das ist in den meisten Fällen definitiv nicht nötig.

Hält Otto-Normalleser die Tatsache, daß ein Blitzeinschlag in einen PKW einen nicht umbringt, für mein Wunder oder nicht? Schon dieses triviale Beispiel zeigt die Bandbreite, man braucht nicht mal die Quantenmechanik aus dem Koffer zu holen.

In den allermeisten Fällen ist eine derartige Präzisierung nicht nötig, um einen Text zu verstehen. Du kannst gewissermassen von einem Schichtmodell ausgehen. Es gibt gewisse Dinge, zu gewissen Epochen allgemein als unmöglich angesehen werden. Du kannst beispielsweise davon ausgehen, dass in Text, in dem ein Vampir vorkommt, heute in unseren Breitengraden als unrealistisch eingestuft wird. Dann gibt es gewisse Genreregeln: Im klassischen Detektivroman ist die Figur der Mörder, von der man es im wenigsten erwartet. Das ist im Grunde unrealistisch, denn in den allermeisten Verbrechen ist ein naheliegender Verdächtiger der Mörder. Das ist aber kein Problem, da wir es hier mit einer Genrekonvention zu tun haben, die der Leser kennt und auch akzeptiert. Und dann gibt es den jeweiligen Text selbst, der wie auch schon erwähnt, eben auch seine Markierungen setzt. Wird ein Ereignis irgendwie als aussergewöhnlich markiert, wie verhält sich der Text und seine Figuren dazu? Ist da vielleicht eine ironische Note herauszuhören, soll das ernst genommen werden? Ich sage nicht, dass Du das immer eindeutig bestimmen kannst, und je exotischer die Herkunft eines Texts, desto schwieriger wird es. In den allermeisten Fällen kann man diese Dinge aber relativ gut rekonstruieren. Übrigens ist nicht Otto-Normalleser ausschlagend, sondern der Leser, wie er vom Text konstruiert wird. Jeder Text geht davon aus, dass sein Leser gewisse Dinge weiss. Banalstes Beispiel: Ein deutscher Text setzt einen Leser voraus, der das Deutsche beherrscht. Ein SF-Text dagegen setzt oft voraus, dass der Leser bestimmte genrespezifische Ausdrücke und Konzepte kennt. Und wenn ich eine Satire über den lokalen Politbetrieb schreibe, dann funktioniert der Text nur dann optimal, wenn der Leser die Leute, die ich karikiere, auch kennt. Er wird den Text zwar auch sonst verstehen, aber wahrscheinlich weniger Genuss draus ziehen. Du bist als uninformiert Leser wahrscheinlich sogar in der Lage zu sagen "Aha, jetzt macht er sich über jemanden lustig, den ich nicht kenne", und wenn es Dich genug interessieren würde, könntest Du diese Lücke nachträglich füllen. EDIT: Noch zur Präzisierung: In den meisten Fällen ist eine so genaue Bestimmung des eingeflossenen Weltbildes schlicht nicht nötig. Ich möchte da überhaupt nicht als Vertreter eines naiven Realismuskonzepts dastehen. Ich stimme Durst natürlich völlig zu, dass die Markierungen eines Textes in den meisten Fällen ausreichen, um mir begreiflich zu machen, wie ich was verstehen soll. In gewissen Fällen - Siehe die Beispiele mit den Blumen und dem Mobiltelephon - komme ich aber nicht ganz ohne Rückgriff auf ein aussertextliches Wissen aus. Aber die wenigsten Texte setzen tatsächlich eine Differenzierung voraus, wie Du sie verlangst.

Bearbeitet von simifilm, 23 August 2007 - 17:54.

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#191 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 17:21

2. Der "Normleser" (vulgo: Ottonormalleser) ist ein Phantastie-Wesen. Was ist normal. Ich persönlich gehe davon aus, daß die meisten Menschen irgendwie "spinnen", aber vielleicht schließe ich da zu keck von mir auf andere.

Aber da Du ja Eco gelesen und für gut befunden hast, wirst Du doch wohl zustimmen, dass das Konzept eines Modell- oder Ideallesers durchaus was für sich hat, wenn man das Funktionieren von Texten analysieren will.

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#192 Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 18:04

Nö, das ist in den meisten Fällen definitiv nicht nötig.
In den allermeisten Fällen ist eine derartige Präzisierung nicht nötig, um einen Text zu verstehen. Du kannst gewissermassen von einem Schichtmodell ausgehen.

Es gibt gewisse Dinge, zu gewissen Epochen allgemein als unmöglich angesehen werden. Du kannst beispielsweise davon ausgehen, dass in Text, in dem ein Vampir vorkommt, heute in unseren Breitengraden als unrealistisch eingestuft wird.

Wozu soll dieses Beispiel gut sein?
Bei Todorovs Phantastik geht es ja gerade nicht um eindeutig Unrealistisches, sondern um Dinge, über deren Existenz man sich nicht sicher ist.
Die Randzone des Weldbildes, der unscharfe Bereich, nicht die Kernzone ist hierbei wichtig.

#193 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 18:08

Wozu soll dieses Beispiel gut sein?
Bei Todorovs Phantastik geht es ja gerade nicht um eindeutig Unrealistisches, sondern um Dinge, über deren Existenz man sich nicht sicher ist.
Die Randzone des Weldbildes, der unscharfe Bereich, nicht die Kernzone ist hierbei wichtig.

Aber die Unschärfe entsteht ja in der Regel dadurch, dass es eben zwei Alternativen gibt, eine realistische und eine wunderbare.

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#194 Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 18:15

Aber die Unschärfe entsteht ja in der Regel dadurch, dass es eben zwei Alternativen gibt, eine realistische und eine wunderbare.

Die Alternativen müssen aber vom Leser nachvollzogen werden, daher können sie letztlich nur in der Unschärfezone seines eigenen Weltbildes angesiedelt sein.

#195 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 18:20

Die Alternativen müssen aber vom Leser nachvollzogen werden, daher können sie letztlich nur in der Unschärfezone seines eigenen Weltbildes angesiedelt sein.

Stimmt doch nicht, es geht doch darum, dass die Geschichte die beiden Varianten als gleich plausibel darstellt.

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#196 molosovsky

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Geschrieben 23 August 2007 - 18:26

Moment, Simi.Natürlich finde ich das Konzept des Ideallesers sinnvoll. Du hast es ja selber grad sehr schon illustriert mit "deutscher Text", "SF-Text", "lokalpolitische Satire" usw. Eben der Leser, den der Autor beim Schreiben als Empfänger im Sinne hatte.Hab ich was falsch verstanden, oder wurde mit "Normalleser" was anderes hier eingeführt? Sozusagen die Mittelwerts-Quersumme aller möglichen Leser? Klar gibt es das auch: einmal als Begriff eben, und dieser kann dann z.B. von sogenannten Bestseller-Autoren als Idealleser angezielt werden, wenn der Vorsatz lautet "möglichst viele Leser anzusprechen" usw. (Siehe die Klage, bei ich nur bedingt mitmach, darüber, daß Monomythos und Storytelling-Seminar-Praxis zu vereinheitlichten Routinen führen, durch welche die "Flughafen-Drehständer"-Autoren sich immer ähnlicher werden ... Dan Brown und so.)Wogegen ich den Einwand der Vorsicht einbringe, ist mit diesem Abstraktum vom "Normalleser" wie selbstverständlich zu hantieren, so als ob es sich dabei um eine fixe Größe handelt, die sich wie eine z.B. Naturkonstante in eine Gleichung einsetzten läßt. DAS geht nämlich so gar nicht.EDIT:Simi, Konrad, ihr spielt schon wieder dieses 50% Real-, 50% Wundersam-Spiel. Das ist soooooo abstrakt und geht imho an der tatsächlichen Beschaffenheit von eben 99,9 % von Texten vorbei.GrüßeAlex / molo

Bearbeitet von molosovsky, 23 August 2007 - 18:33.

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#197 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 18:47

Moment, Simi. Natürlich finde ich das Konzept des Ideallesers sinnvoll. Du hast es ja selber grad sehr schon illustriert mit "deutscher Text", "SF-Text", "lokalpolitische Satire" usw. Eben der Leser, den der Autor beim Schreiben als Empfänger im Sinne hatte. Hab ich was falsch verstanden, oder wurde mit "Normalleser" was anderes hier eingeführt? Sozusagen die Mittelwerts-Quersumme aller möglichen Leser?

Von mir wurde der Begriff nicht eingeführt, und falls er das bedeuten soll, würde ich es als unsinniges Konzept bezeichnen.

Simi, Konrad, ihr spielt schon wieder dieses 50% Real-, 50% Wundersam-Spiel. Das ist soooooo abstrakt und geht imho an der tatsächlichen Beschaffenheit von eben 99,9 % von Texten vorbei.

Ich weiss mal wieder nicht, auf was Konrad hinauswill. Reine Phantastik ist gemäss Todorov Folgendes, es geschieht etwas, das potenziell nicht erklärlich ist, und das innerhalb der fiktionalen Welt auch als solches markiert wird und dann werden zwei Erklärungen dafür angeboten, eine wunderbare und realitätskompatible, und der Text lässt den Leser im Unklaren, was der Fall ist. Konrad hat sich aus irgendeinem Grund am Beispiel "Vampir" gestossen, weil das ja von Anfang an als wunderbar gekennzeichnet ist. Falls es nur darum geht: Denk Dir ein Szenario, in dem vieles auf Vampir hindeutet - seltsame Bissspuren am Hals, Fledermäuse, ein Sarg, der sich vielleicht geöffnet hat -, und dann kommt ein schlauer Mann und bringt für alles eine natürliche Erklärung (Bissspuren vom Maulwurf, Fledermäuse gibt's eben, und am Sarg hat sich ein Nekrophiler zu schaffen gemacht). Voilà, da ist Deine Phantastik, die so nur funktionier, wenn Du Fledermäuse für wunderbar und beissende Maulwürfe für realistisch hältst.

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#198 Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 19:14

Von mir wurde der Begriff nicht eingeführt, und falls er das bedeuten soll, würde ich es als unsinniges Konzept bezeichnen. Ich weiss mal wieder nicht, auf was Konrad hinauswill. Reine Phantastik ist gemäss Todorov Folgendes, es geschieht etwas, das potenziell nicht erklärlich ist, und das innerhalb der fiktionalen Welt auch als solches markiert wird und dann werden zwei Erklärungen dafür angeboten, eine wunderbare und realitätskompatible, und der Text lässt den Leser im Unklaren, was der Fall ist.

Tja ganz so einfach läuft der Hase aber nicht. Das Entscheidende nach Todorov ist ja nicht, daß der Autor zwei Varianten anbietet, sondern daß der Leser ihm die zwei Varianten abnimmt. Und hier kommt das Weltbild ins Spiel. Denn der Leser nimmt eine für ihn vollständig unrealistische Variante nicht ab, wenn es gleichzeitig eine realistische Deutung gibt. Eine Entscheidungsunsicherheit ist nur dann denkbar, wenn sein Weltbild an der Kante keine eindeutige Entscheidung zu einer Seite möglich macht.

#199 Theophagos

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Geschrieben 23 August 2007 - 19:46

Eine kleine Zwischenfrage: Ist unter "idealer Leser" dasselbe zu verstehen wie "impliziter Leser"?Theophagos
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#200 Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 21:24

Eine kleine Zwischenfrage: Ist unter "idealer Leser" dasselbe zu verstehen wie "impliziter Leser"?

Ich zitiere mal aus Prof. Dr. Tepes "Literaturtheorien/Methoden der Textanalyse und -interpretation" (Teil II, Kap. 2.02) über Isers Lesemodell:

14. In diesem Lesemodell spielt einer der meistzitierten und schwierigsten Begriffe Isers eine wichtige Rolle: der des impliziten Lesers. Was damit nicht gemeint ist, ist leichter zu sagen, als eine positive Bestimmung zu treffen. Der implizite Leser ist nicht der Leser, der häufig in literarischen Texten direkt angesprochen wird - das wäre etwa ein fiktiver Leser, analog zum Erzähler. Der implizite Leser ist auch weder der Leser, den ein Autor im Blick hat, wenn er seine Texte schreibt - das wäre etwa der historisch zu lokalisierende Adressat oder der intendierte Leser -, noch der reale empirische Leser. Der implizite Leser ist aber auch nicht ein fiktiver idealer Leser, der bei seiner Lektüre alles, was der Text an Bedeutungsangeboten enthält, vollständig realisieren könnte. Er ist überhaupt kein Leser - die personifizierende Redeweise ist leider irreführend. Der implizite Leser ist vielmehr die „Wirkungsstruktur des Textes“ (ebd., 67), und zwar einerseits als Eigenschaft der Texte, nämlich als „Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet“ (ebd., 60), und andererseits (nicht sehr klar) als der „Übertragungsvorgang, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen“ (ebd. , 67). Es scheint, als bezeichne „impliziter Leser“ sowohl die Gesamtheit aller gedanklichen Operationen, die ein Text für eine adäquate Rezeption vom Leser fordert, als auch die entsprechenden kognitiven Operationen und die textlichen Grundlagen selbst. Das Konzept des impliziten Lesers ist ein allgemeiner Beschreibungsrahmen für die bewusstseinsmäßige Form, in der sich alle individuellen Realisierungen aller fiktionalen Texte vollziehen. (Richter, 526)


Bearbeitet von Konrad, 23 August 2007 - 21:36.


#201 Theophagos

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Geschrieben 23 August 2007 - 21:52

Kurze Pingelei: "impliziter Leser". [etc]

Wenn Simifilm mit "impliziter Leser" dasselbe meint, was Konrads zitierter Textabschnitt zum Ausdruck bringt, verstehe ich die Mitteilung nicht mehr - müsse es nach dem Zitat nicht eher ein "intendierter Leser" sein? Theophagos
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#202 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 22:20

Tja ganz so einfach läuft der Hase aber nicht. Das Entscheidende nach Todorov ist ja nicht, daß der Autor zwei Varianten anbietet, sondern daß der Leser ihm die zwei Varianten abnimmt.

Vom Autor war ohnehin nicht die Rede.

Und hier kommt das Weltbild ins Spiel. Denn der Leser nimmt eine für ihn vollständig unrealistische Variante nicht ab, wenn es gleichzeitig eine realistische Deutung gibt. Eine Entscheidungsunsicherheit ist nur dann denkbar, wenn sein Weltbild an der Kante keine eindeutige Entscheidung zu einer Seite möglich macht.

Mir ist mal wieder nicht klar, worauf Du mit Deiner Haarspalterei herauswillst, und es scheint mir, als würdest Du einen empirischen mit dem impliziten Leser zu verwechseln. Es geht nicht darum, was Du persönlich für wahrscheinlicher hältst, es geht um die Optionen, die der Text anbietet. Bei einem Fantasy-Text sagst Du ja auch nicht "Daran glaube ich nicht, blödes Buch" (ok, vielleicht tust Du das ja). Bei der Phantastik eröffnet der Text zwei Lektüremöglichkeiten - eine realitätskompatible und eine wunderbare - entscheidet sich aber für keine. Der Text selbst lässt einen um Ungewissen, ob er realitätskompatibel oder wunderbar ist, der Leser hat da gar nichts zu entscheiden. Dein Einwand scheint mir übrigens auch für einen empirischen Leser nicht zu gelten: Solange die Erzählung unentschieden bleibt, besteht immer die Möglichkeit einer wunderbaren Auflösung, der Leser kann sich gar nicht endgültig entscheiden, solange er den Text nicht beendet hat.

Wenn Simifilm mit "impliziter Leser" dasselbe meint, was Konrads zitierter Textabschnitt zum Ausdruck bringt, verstehe ich die Mitteilung nicht mehr - müsse es nach dem Zitat nicht eher ein "intendierter Leser" sein?

Ich bin jetzt nicht ganz sicher, auf was die Frage abzielt. Die Terminologie ist hier keineswegs einheitlich, manche sprechen vom impliziten (oder implizierten) Leser, manche vom Modell- oder Ideal-Leser, manche lehnen es überhaupt ab, diese Instanz zu personalisieren (Bordwell zum Beispiel). Auch kann die Gewichtung variieren, aber das Konzept ist bei vielen Narrationstheorien grundsätzlich dasselbe. Mein Einwand bezog sich auf den Begriff "fiktiver Leser", den ich hier auf jeden Fall ablehnen würde, denn darunter würde ich wohl auch eher wie in dem angeführten Zitat eine Figur des Textes verstehen (eben etwa der Adressat in einem Briefroman). Der implizite Leser ist aber nicht Personal der Handlungswelt, sondern eben eine theoretische Position; „Wirkungsstruktur des Textes" trifft es eigentlich ziemlich gut.

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#203 Konrad

Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 22:59

Vom Autor war ohnehin nicht die Rede.

Aha, dann erkläre mir doch mal, wer mit deinen Worten "werden zwei Erklärungen angeboten" gemeint ist.

Mir ist mal wieder nicht klar, worauf Du mit Deiner Haarspalterei herauswillst, und es scheint mir, als würdest Du einen empirischen mit dem impliziten Leser zu verwechseln. Es geht nicht darum, was Du persönlich für wahrscheinlicher hältst, es geht um die Optionen, die der Text anbietet. Bei einem Fantasy-Text sagst Du ja auch nicht "Daran glaube ich nicht, blödes Buch" (ok, vielleicht tust Du das ja). Bei der Phantastik eröffnet der Text zwei Lektüremöglichkeiten - eine realitätskompatible und eine wunderbare - entscheidet sich aber für keine. Der Text selbst lässt einen um Ungewissen, ob er realitätskompatibel oder wunderbar ist, der Leser hat da gar nichts zu entscheiden.

Und du scheinst einen impliziten Leser mit dem Textinhalt zu verwechseln. Todorovs schreibt hier klar eine interpretierende abwägende Funktion in seine Definition hinein, und die ist nicht der nackte Textinhalt, sondern eine Leserfunktion. Die von mir beschriebene Plausibilitätskontrolle und Entscheidung nach dem Weltbild ist eine Leserfunktion.

Dein Einwand scheint mir übrigens auch für einen empirischen Leser nicht zu gelten: Solange die Erzählung unentschieden bleibt, besteht immer die Möglichkeit einer wunderbaren Auflösung, der Leser kann sich gar nicht endgültig entscheiden, solange er den Text nicht beendet hat.

Dummerweise bezieht sich aber Todorovs Definition auf eine Wertung nachdem man den Text vollständig gelesen hat.

#204 simifilm

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Geschrieben 23 August 2007 - 23:07

Aha, dann erkläre mir doch mal, wer mit deinen Worten "werden zwei Erklärungen angeboten" gemeint ist.

Der Text.

Und du scheinst einen impliziten Leser mit dem Textinhalt zu verwechseln. Todorovs schreibt hier klar eine interpretierende abwägende Funktion in seine Definition hinein, und die ist nicht der nackte Textinhalt, sondern eine Leserfunktion.

Ja eben.

Die von mir beschriebene Plausibilitätskontrolle und Entscheidung nach dem Weltbild ist eine Leserfunktion. Dummerweise bezieht sich aber Todorovs Definition auf eine Wertung nachdem man den Text vollständig gelesen hat.

Wie schon andere beobachtet haben (ua. Durst) ist Todorov tatsächlich unsauber beim Verwenden des impliziten Lesers, indem er ihm gewisse Fähigkeiten zuschreibt, die er nicht haben kann. Denn nach Beendigen des Textes gibt es den impliziten Leser nicht mehr. Aber das ändert nichts am Umstand, dass ein Text den Status eines Ereignisses bis zum Schluss in der Schwebe lassen kann.

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#205 Konrad

Konrad

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Geschrieben 23 August 2007 - 23:50

Der Text.

Und der stammt nicht vom Autor?

Ja eben.

Irgendwie kommt mir die Diskussion jetzt etwas dan-eben vor. Kurz vorher hast du den Leser völlig ausgeklammert und jetzt stimmst du der Leserfunktion wieder zu, reißt aber den nächsten Satz, die Erläuterung dieser Funktion, wieder weg? Wo ist da der Sinn?

Wie schon andere beobachtet haben (ua. Durst) ist Todorov tatsächlich unsauber beim Verwenden des impliziten Lesers, indem er ihm gewisse Fähigkeiten zuschreibt, die er nicht haben kann. Denn nach Beendigen des Textes gibt es den impliziten Leser nicht mehr. Aber das ändert nichts am Umstand, dass ein Text den Status eines Ereignisses bis zum Schluss in der Schwebe lassen kann.

Und ich habe versucht klar zu machen, daß der Text dies schon in der Schwebe lassen kann, der implizite Leser aber abhängig von der Wertung durch sein Weltbild eventuell nicht. Beispiel1: "Und da kam dieser Vampir zur Tür herein", sagte Bill und nahm noch einen Zug aus seinem Joint. Der Text ist ambivalent, aber für einen impliziten Leser wird nur die Interpretation gelten, daß Bill einen in der Krone hatte. Beispiel2: "Und da kamen diese zwei völlig identische Mädchen zur Tür herein", sagte Bill und nahm noch einen Zug aus seinem Joint. Der Text ist immer noch ambivalent, aber auch ein impliziter Leser ist nun unsicher, was geschehen ist. Beide Beispiele haben eine wunderbare und eine reale Interpretationsvariante. Bei Beispiel1 liegt die wunderbare Variante aber völlig eindeutig im irrealen Bereich des herrschenden Weltbildes, und bei Beispiel2 in der unscharfen Randzone.

Bearbeitet von Konrad, 24 August 2007 - 01:49.


#206 Gerd

Gerd

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Geschrieben 24 August 2007 - 04:04

Und ich habe versucht klar zu machen, daß der Text dies schon in der Schwebe lassen kann, der implizite Leser aber abhängig von der Wertung durch sein Weltbild eventuell nicht.

Beispiel1:
"Und da kam dieser Vampir zur Tür herein", sagte Bill und nahm noch einen Zug aus seinem Joint.

Der Text ist ambivalent, aber für einen impliziten Leser wird nur die Interpretation gelten, daß Bill einen in der Krone hatte.

Beispiel2:
"Und da kamen diese zwei völlig identische Mädchen zur Tür herein", sagte Bill und nahm noch einen Zug aus seinem Joint.
Der Text ist immer noch ambivalent, aber auch ein impliziter Leser ist nun unsicher, was geschehen ist.

Warum? Weil der implizite Leser keine Zwillinge kennt bzw. nicht weiß, dass es sowas gibt? Und was wird mit deinem ersten Beispiel, wenn der gute Bill mit Nachnamen van Helsing heißt?

Beide Beispiele haben eine wunderbare und eine reale Interpretationsvariante.
Bei Beispiel1 liegt die wunderbare Variante aber völlig eindeutig im irrealen Bereich des herrschenden Weltbildes, und bei Beispiel2 in der unscharfen Randzone.

Hm. Ich weiß ja nicht. Bei einem bekifften Erzähler würde ich immer davon ausgehen, dass ganz egal, wer da jetzt durch die Tür gekommen ist, es sich dabei um eine Ausgeburt seines bedrödelten Hirns handelt - egal, ob es ein kleines grünes Männchen, Keira Knightley (oder meinetwegen Pam Anderson für die Liebhaber des Voluminösen bzw. der plastischen Chirurgie), der Geldbriefträger oder die Polizei war.

Aber ich muss auch ehrlich zugeben, dass ich den Kaiser, um dessen Bart ihr so vehement streitet, für mich schon lange abgeschafft habe. Insofern verstehe ich wahrscheinlich das Problem nicht ... :wink2:

Grüße
Gerd
Sudden moroseness. One hop too far.

#207 simifilm

simifilm

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Geschrieben 24 August 2007 - 06:41

Und der stammt nicht vom Autor?

Grundregel jeder Text-Interpretation: Verwechsle den Text bzw. dessen Aussage nie mit dem Autor oder dessen Intention. Ein Autor kann vieles wollen oder denken, das ist mir in der Regel aber nicht zugänglich. Ich muss mich bei der Intepretation primär auf das beschränken, was ich vorliegen habe, und das ist der Text.

Irgendwie kommt mir die Diskussion jetzt etwas dan-eben vor.

Da sind wir uns für einmal einig.

Kurz vorher hast du den Leser völlig ausgeklammert und jetzt stimmst du der Leserfunktion wieder zu, reißt aber den nächsten Satz, die Erläuterung dieser Funktion, wieder weg? Wo ist da der Sinn?

Die "Leserfunktion" oder eben der implizite Leser ist eine Funktion des Textes, die hat mit einem empirischen Leser nichts zu tun.

Und ich habe versucht klar zu machen, daß der Text dies schon in der Schwebe lassen kann, der implizite Leser aber abhängig von der Wertung durch sein Weltbild eventuell nicht.

Ich glaube, Du verstehst noch immer nicht, was mit implizitem Leser gemeint ist. Es geht nicht darum, dass irgend jemand Entscheidungen trifft, es geht darum, wie ein Text Informationsvergabe organisiert. Die Gesamtheit dieser Informationsvergabe ist der implizite Leser.

"Und da kam dieser Vampir zur Tür herein", sagte Bill und nahm noch einen Zug aus seinem Joint. Der Text ist ambivalent, aber für einen impliziten Leser wird nur die Interpretation gelten, daß Bill einen in der Krone hatte.

Wieso denn?

"Und da kamen diese zwei völlig identische Mädchen zur Tür herein", sagte Bill und nahm noch einen Zug aus seinem Joint. Der Text ist immer noch ambivalent, aber auch ein impliziter Leser ist nun unsicher, was geschehen ist.

Wieso denn?

Beide Beispiele haben eine wunderbare und eine reale Interpretationsvariante. Bei Beispiel1 liegt die wunderbare Variante aber völlig eindeutig im irrealen Bereich des herrschenden Weltbildes, und bei Beispiel2 in der unscharfen Randzone.

Und weil bei Beispiel 1 eben eine Variante im wunderbaren Bereich liegt, ist es Phantastik im Sinne Todorovs. Das ist genau jene Art von Unsicherheit, um die es geht. Es wäre ohne weiteres möglich, dass hier im nächsten Satz klar wird, dass wir in einer Vampir-Erzählung sind. Oder auch das Gegenteil. Darum geht es.

Bearbeitet von simifilm, 24 August 2007 - 07:01.

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#208 Konrad

Konrad

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Geschrieben 24 August 2007 - 08:40

Warum? Weil der implizite Leser keine Zwillinge kennt bzw. nicht weiß, dass es sowas gibt?

Nee, weil er nicht weiß, ist das nun eine künstliche Kopie gewesen oder nur ein Zwilling. Ich gebe zu, das 2. Beispiel ist nicht ganz deutlich. "Und da kam dieses Mädchen mit den sechsfingrigen Händen zur Tür herein" wäre wahrscheinlich besser gewesen. Da stellt man sich die Frage, gibt es das als natürliche Mutation oder ist die Dame ein Alien.

Und was wird mit deinem ersten Beispiel, wenn der gute Bill mit Nachnamen van Helsing heißt?

Was soll damit sein? Du ergänzt das Beispiel mit einer Information, die da so nicht steht, und wunderst dich über die geänderte Semantik.

Hm. Ich weiß ja nicht. Bei einem bekifften Erzähler würde ich immer davon ausgehen, dass ganz egal, wer da jetzt durch die Tür gekommen ist, es sich dabei um eine Ausgeburt seines bedrödelten Hirns handelt - egal, ob es ein kleines grünes Männchen, Keira Knightley (oder meinetwegen Pam Anderson für die Liebhaber des Voluminösen bzw. der plastischen Chirurgie), der Geldbriefträger oder die Polizei war.

Da würdest du aber einen großen Teil der Literatur zur Null-Information erklären. ;)

Aber ich muss auch ehrlich zugeben, dass ich den Kaiser, um dessen Bart ihr so vehement streitet, für mich schon lange abgeschafft habe. Insofern verstehe ich wahrscheinlich das Problem nicht .

Wir versuchen ja nur verzweifelt, den Kaiser mit Bart überhaupt zu fassen zu kriegen, damit wir ihn aus dem Fenster werfen können. Ich muß aber gestehen, daß ich inzwischen bezweifle, jemals etwas äußern zu können, was Gnade unter Simis unbarmherzigen Augen findet. :lol: Gruß, Konrad

#209 Konrad

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Geschrieben 24 August 2007 - 08:45

Grundregel jeder Text-Interpretation: Verwechsle den Text bzw. dessen Aussage nie mit dem Autor oder dessen Intention. Ein Autor kann vieles wollen oder denken, das ist mir in der Regel aber nicht zugänglich. Ichmuss mich bei der Intepretation primär auf das beschränken, was ich vorliegen habe und das ist der Text.

Ja. Herr Lehrer. Da wir hier alle keinen anderen Informationskanal als den Text zum Autor haben, weiß ich nicht, was diese Differenzierung hier bringen soll. Trennschärfe um ihrer selbst Willen ist sinnlos und erhöht nur den Rauschfaktor (allgem. Nachrichtentechnikerweisheit).

Die "Leserfunktion" oder eben der implizite Leser ist eine Funktion des Textes, die hat mit einem empirischen Leser nichts zu tun.

Ich habe nicht von einem empirischen Leser gesprochen.

Ich glaube, Du verstehst noch immer nicht, was mit implizitem Leser gemeint ist. Es geht nicht darum, dass irgend jemand Entscheidungen trifft, es geht darum, wie ein Text Informationsvergabe organisiert. Die Gesamtheit dieser Informationsvergabe ist der implizite Leser.

Ich verstehe nur, daß du offenbar glaubst, die Leserfunktion hätte nichts mit Entscheidungen zu tun, was völlig falsch ist. Jede Interpretation, und darum geht es bei dem impliziten Leser, besteht aus einer Unzahl von Entscheidungen zwischen möglichen Bedeutungen eines Wortes/Satzes/Textes im Wirklichkeitsraum des Lesers. Die Interpretationsvarianten, von denen wir sprechen, sind lediglich die Restmenge von Alternativen, die übrigbleiben, nachdem alle anderen Entscheidungen getroffen wurden.

Wieso denn? Wieso denn? Und weil bei Beispiel 1 eben eine Variante im wunderbaren Bereich liegt, ist es Phantastik im Sinne Todorovs. Das ist genau jene Art von Unsicherheit, um die es geht. Es wäre ohne weiteres möglich, dass hier im nächsten Satz klar wird, dass wir in einer Vampir-Erzählung sind. Oder auch das Gegenteil. Darum geht es.

Ich habe meinen Standpunkt hinreichend klar gemacht, daß auch die wunderbare Alternative vom Leser angenommen werden muß und daß dieser in seiner Plausibilitätsabwägung nicht jede wunderbare Version als Alternative annimmt. Einigen wir uns darüber, daß wir uneinig sind.

#210 simifilm

simifilm

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Geschrieben 24 August 2007 - 08:45

Was soll damit sein? Du ergänzt das Beispiel mit einer Information, die da so nicht steht, und wunderst dich über die geänderte Semantik. Da würdest du aber einen großen Teil der Literatur zur Null-Information erklären. :lol:

Gerds Einwand ist absolut richtig, denn, wenn im folgenden Satz angefügt würde, dass Bill 'van Helsing' heisst, würde ein eindeutiges Signal Richtung Wunderbares gegeben. Das von Dir gebrachte Beispiel ermöglicht viele Interpretationen: - Bill halluziniert (wobei Haschisch allerdings kein Halluzinogen, aber zumindest ein Hinweis, dass Bill nicht 100% zuverlässig ist). - Wir wissen aber gar nicht, wovon Bill spricht. Vielleicht erzählt er einen Film nach, den er gesehen hat, dann gäbe es überhaupt keinen Konflikt. - Oder aber Bill hat - trotz Kiffen - tatsächlich einen Vampir gesehen. Aus dem einen Satz heraus ist das nicht zu entscheiden, auch wenn Bills Zuverlässigkeit durch das Kiffen in Zweifel gezogen wird. Mit anderen Worten: Du hast ein schönes Beispiel für reine Phantastik im Sinne Todorovs erfunden. Ich gratuliere. ;)

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