Es liegt mir fern, mich über Mariannes Ängste lustig zu machen.
Allerdings haben wir hier in Darmstadt die "Gesellschaft für Schwerionenforschung" (GSI) mit ihren Teilchenbeschleunigern. Zu dieser Einrichtung geht bei uns am SF-Stammtisch der Witz um, dass dort sicher regelmäßig die Anomalie der Woche erzeugt wird. Und keiner weiß davon...
Über die "Ängste" hab ich jetzt eigentlich genug geschrieben - aber: ein letztes Mal: Angst und Besorgnis sind zwei völlig verschiedene Sachen! Angst ist einfach ganz plötzlich da, sie ist etwas Instinktives, eine Emotion, die uns packt, ohne daß wir uns dagegen wehren können. Besorgnis entsteht auf einer ganz anderen Ebene - sie erwächst aus dem Verstand, aus Informationen, aus Rückschlüssen.
Das letzte Mal, daß ich Angst hatte, liegt 4 Jahre und 11 Monate zurück: da wartete ich auf meinen Mann und war anfangs nur besorgt - bis plötzlich diese beiden Polizisten vor der Tür standen: da packte mich die Angst. Die Sache mit CERN ist was ganz anderes. Ich bin doch nicht so blöd und denke, daß es am 15. September "Puff" macht, und bis dahin rutsche ich heulend auf den Knien herum, wie einer der Foristen mir unterstellte - so´n Blödsinn! Selbst wenn die Sache schon in den ersten Wochen schiefgeht (was sehr unwahrscheinlich ist), werde ich mit meinen jetzt 64 Jahren das Ende des Dramas mit großer Sicherheit nicht mehr erleben.
Aber ich habe einen Sohn und einen Enkel, und auch der wird vielleicht irgendwann mal Kinder haben, und um mich herum leben lauter kleine Freunde wie diese Katze oder meine Zitterspinnen, die Frösche auf meiner Terrasse, die Kröten, die in meinem Keller überwintern, die Kinder, die gegenüber auf dem Reiterhof lachen und spielen, die Pferde, die an meinem Fenster vorbeiklappern, die Spatzen, die sich jedesmal schwarzärgern, wenn die Menschen die Pferdeäpfel von der Straße räumen, anstatt sie dort liegen zu lassen, die Birke, hinter der die Sonne um diese Zeit so wunderbar untergeht, die Findlinge, die die Gletscher hier bei uns zurückgelassen haben, der Bach, der voller Eisen und Schwefel keine fünf Kilometer Luftlinie von hier entfernt den Boden in seinem riesigen Quellkessel goldrot färbt und damit anzeigt, daß unter den scheinbar so sanften und ruhigen Fläming-Hügeln vulkanischer Grund liegt - all diese wunderbare, wunderschöne, über 3.5 Milliarden Jahre gewachsene Natur in all ihren Erscheinungsformen - um
die mache ich mir Sorgen! Ich weiß, daß auch das alles vergänglich ist, daß auch Planeten und Sonnen sterben, daß es Katastrophen gegeben hat und immer wieder geben wird, daß der Erde ständig kosmische Geschosse um die nicht vorhandenen Ohren fliegen, daß unter dem Yellowstone Park eine riesige Magmakammer heranwächst und vor der Norwegischen Küste genug Methaneis hochgehen könnte, um eine tödliche Flutkatastrophe auszulösen - ich kenne tausenderlei Gefahren. Aber das ist die Natur - das ist der Lauf der Zeit und der Sinn des Universums: Geburt und Tod, Leben und Sterben, fressen und gefressen werden. Wenn ich mich heute zum Schlafen hinlege und morgen nicht mehr aufwache - na und? Das bereitet mir keinen Kummer. Ich bin mit meinem Leben im Reinen. Aber ich habe - verdammt nochmal! - entschieden etwas dagegen, wenn Wissenschaftler, die - wie man in diesem Fall ganz deutlich merkt - im Grunde genommen überhaupt nicht
wissen, was bei dem, was sie zu tun gedenken, herauskommen wird, diese ganze herrliche Welt aus Neugier, aus Profilierungssucht und aus Trotz aufs Spiel setzen. - "Wir
können das, wir haben uns das ermöglicht, und weil es uns möglich ist, werden wir es tun!" - reicht das wirklich aus? Geht doch einfach mal vor die Tür, seht in den Himmel hinauf, spürt den Nachtwind, horcht auf die Geräusche, riecht den beginnenden Herbst - macht euch der Gedanke, daß all das draufgehen könnte, weil CERN nun mal da ist und man es deswegen auch nutzen will, wirklich kein bißchen nachdenklich? Und schaut euch eure Kinder an, falls ihr welche habt - jedes Kind ist das Ende einer Kette, die mit der Entstehung des Lebens auf unserem wunderschönen Planeten ihren Anfang nahm und weiterreichen kann, weit über euer eigenes kleines, individuelles Leben hinaus: ist es euch völlig egal, wenn um der reinen Neugier willen, ohne jeden zwingenden Grund, einfach nur so, all dem ein Ende gesetzt wird - weil man zu erfahren hofft, was beim Urknall geschah? Habt ihr mal die Geschichte "Dumme Esel" von Isaac Asimov gelesen? Und da geht´s nur um die Kernkraft - was würde
der Mann wohl heute zu CERN sagen?
Darmstadt: CERN ist eine andere Klasse mit anderen Zielsetzungen. Ich weiß sehr wohl, daß es noch mehr Teilchenbeschleuniger auf der Welt gibt. Aber keiner ist so groß und leistungsfähig wie CERN. Und genau das ist das Problem.
Bearbeitet von Marianne Sydow, 05 September 2008 - 01:07.