Bevor ich meine ersten Eindrücke zu David Mitchells »Chaos« schildere, möchte ich gern noch einige Sätze zu den »Hyperion-Gesängen« loswerden. Ich fang am besten da an, wo ich vor einiger Zeit aufgehört habe...
Wenig überraschend standen die beiden Geschichten von Brawne Lamia und dem Konsul den vorhergehenden in nichts nach. Bei Lamia gefielen mir besonders die Referenzen an William Gibson, und die Story von Merin Aspic war wieder einmal ein großartiger Beleg für das, was ich an SF u.a. so mag: Die Möglichkeit Geschichten zu erzählen, die, obwohl sie Dinge schildern, die unmöglich scheinen und für uns nicht erfahrbar sind, einen doch emotional berühren und zutiefst menschlich klingen. Sol Weintraubs Story hatte das schon vorher bewiesen und hier hat Simmons nochmal eine beeindruckende Liebesgeschichte nachgelegt.
Als sich dann am Ende die Pilger in den Armen liegen und anschließend ihrem Schicksal entgegenschreiten, war das ein tolle und sehr kraftvolle Szene. Und ich war froh, dass ich sofort weiterlesen konnte. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was das damals für ein Gefühl gewesen sein muss, diese Szene zu lesen und dann festzustellen, dass hier das erste Buch endet.
Insgesamt also ein großartiger Roman. Was ihn aber wirklich zu einem Meisterwerk macht, ist die Art und Weise, wie Simmons seine Geschichten um das Leben und Schaffen von John Keats webt. Ich muss leider zugeben, dass mich während der Schulzeit literarische Epochen und ihre Vertreter nicht besonders interessiert haben, deshalb hatte ich da einigen Nachholbedarf, aber nachdem ich mich jetzt etwas mit der (englischen) Romantik und ihren Motiven befasst habe, kann ich nur den Hut vor Dan Simmons ziehen. Denn er 'verwurschtelt' nicht einfach nur Figuren aus John Keats' Leben und seinen Werken in den »Hyperion-Gesängen«, sondern erweckt den Dichter und seine Werke, allen voran das titelgebende Epos, in einem SF-Kontext zum Leben, und verwendet dabei (denke ich) auch noch Motive aus der literarischen Epoche des Dichters, z.B.: Reisende und Wanderer (die Pilger), Friedhöfe oder Ruinen als Schauplätze (die Zeitgräber), unheimliche und übernatürliche Wesen (das Shrike). Und alle Geschichten durchziehen Liebe und Sehnsucht als Antrieb der Protagonisten:
- Durés und Hoyts Liebe zum Glauben und die Sehnsucht nach Erlösung von den Kruziformen
- Kassads Hassliebe zu Moneta und die Sehnsucht auf Konfrontation mit dem Shrike
- Silenus' Selbstverliebtheit und die Sehnsucht nach Vollendung seiner Gesänge
- Weintraubs aufopfernde väterliche Liebe für Rachel und die Sehnsucht nach ihrer Heilung
- die romantische Liebe von Lamia und Johnny Keats (bzw. Siri und Merin Aspic) und die Sehnsucht auf ein Wiedersehen
- die Heimatliebe des Konsuls und seine Sehnsucht nach Rache an der Hegemonie
Diese Idee und ihre Umsetzung, von der literarischen Qualität und Vielseitigkeit ganz zu schweigen, macht »Hyperion« absolut verdient zu einem der meistgelobten SF-Romane.
Was nun den zweiten Teil »Der Sturz von Hyperion« betrifft... Ich stimme den Vorpostern zu, die meinten, dass er nicht ganz die Klasse des ersten erreicht. Bemängeln könnte man bspw., dass sich der Beginn mit den Konferenzen, an denen Severn und Gladstone teilnehmen, etwas zäh gestaltet. Allerdings erschließt sich einem im Verlauf ja, dass es die Gesamtperspektive des Zerfalls der Hegemonie vermitteln soll und das tut es dann auch. Und spätestens in der zweiten Hälfte nimmt das Buch rasant an Fahrt auf und hält dieses Tempo furios bis zum großen Finale.
Ebenfalls kritisch vermerken könnte man vielleicht, dass sich Hoyts/Durés Geschichte zunehmend von der Haupthandlung entfernt und am Ende nur noch eine Randnotiz darstellt, und ebenso, dass Silenus' Geschichte leider sehr kurz kommt (aber wenigstens meldet sich letzterer mit einem grandiosen Satz aus seiner mehrhundertseitigen Abwesenheit zurück: »Hey, wissen Sie, dass dieses Scheißshrike genau hinter Ihnen steht?«
). Alles in allem sind das für mich aber nur geringe Abstriche in der B-Note.
Es gibt nämlich ungleich mehr positives zu vermerken. Die Geschichte jedes einzelnen Pilgers wird wieder aufgegriffen und nahezu nahtlos im Stile ihrer vorhergehenden 'Lebensbeichte' fortgeführt, ohne dass dabei vorheriges nochmals durchgekaut wird. Ganz im Gegenteil, jede Geschichte wird konsequent weiter- und zu Ende erzählt. Auch die neuen Charaktere Severn und Gladstone fügen sich (nach den erwähnten Startschwierigkeiten) sehr gut ein. Simmons schafft es weiterhin auf hohem Niveau zu unterhalten, mit tollen Einfällen zu begeistern und (fast) alle Fäden zum Ende zusammenzuführen.
Was diese Romane aber für mich wirklich auszeichnet, ist, dass sie mit einer der sympatischsten 'Besetzungen' aufwarten, die ich jemals kennengelernt habe. Sicher, alle haben ihre Fehler und Schwächen, dennoch ergänzen und helfen sie sich, trotz oder gerade wegen ihrer anfänglichen Differenzen.
Besonders berührend fand ich dabei die beiden Szenen jeweils zum Ende jedes Bandes, als die Pilger ein Lied aus »Der Zauberer von Oz« singen. Nicht nur, weil dieser Ausdruck von Zusammenhalt inspirierend und wohltuend war, sondern vor allem weil ich als Kind die russische Nach- bzw. Weitererzählung von Alexander Wolkow (»Der Zauberer der Smaragdenstadt« etc.) geliebt habe. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass mir Silenus, Lamia, Weintraub und Co. auf diesen 1400 Seiten ebenso ans Herz gewachsen sind wie damals Elli, Toto, die Vogelscheuche, der Eiserne Holzfäller und der Feige Löwe. Und seit langer, langer Zeit hatte ich wieder dieses Gefühl, Buchcharaktere nach dem Umblättern der letzten Seite zu vermissen. Das hat seit Wolkow noch keine Schar von Gefährten (auch nicht Tolkien) geschafft.
Was bleibt also abschließend zu sagen? Die »Hyperion-Gesänge« waren sicher eines der großartigsten Leseerlebnisse meines bisherigen Lebens und haben es auf Anhieb in die Liste meiner Lieblingsbücher geschafft. Mehr kann man sich von einem Roman nicht wünschen. Dafür ein dickes, fettes
lobenswerte Randnotiz Nr.1:
Simmons Werk hat mich zum ersten Mal seit meiner Schulzeit wieder dazu gebracht Lyrik zu lesen und – viel wichtiger – die Schönheit ihrer Worte zu erkennen und zu würdigen. Allein das ist eine beachtliche Leistung. Zumal ich dabei auch noch das Gefühl hatte zu verstehen, was der Dichter ausdrücken wollte (vielleicht nicht bei jedem Satz, aber doch das große Ganze).
lobenswerte Randnotiz Nr.2:
Ich habe mir angewöhnt, beim Lesen immer einen Zettel und einen Stift bereitzulegen, um mir Unbekanntes zu notieren, damit ich es später nachschlagen kann. Bei den »Hyperion-Gesängen« habe ich eine ganze A4-Seite mit Begriffen und Personen wie Yggdrasil, Bernini, Teilhard de Chardin, Pietà, Satyr, John Muir, Daruma, Laokoon, Hasmonäer, Gethsemane und und und vollgeschrieben, dafür aber im Gegenzug (zugegebenermaßen etwas Eigeninitiative vorausgesetzt) so viel Wissen wie selten bei einem Roman dazugewonnen. Meine grauen Zellen freut's.
Bearbeitet von Seti, 21 September 2013 - 10:59.