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Die Wunder des Ralviehversums



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Robert Corvus' Gesamtbetrachtung der KLP-Gewinner aus der 1980ern

Geschrieben von ShockWaveRider , in Bücher 20 Januar 2020 · 13.660 Aufrufe

Der Schriftsteller Robert Corvus verfolgt auf seinem Youtube-Kanal gerade ein interessantes Projekt. Jeden Monat liest er einen Roman, der beim Kurd-Laßwitz-Preis als "Bester deutschsprachiger Roman" ausgezeichnet wurde. Dabei geht er chronologisch vor.

Nun hat er die Sieger der Jahre 1981 bis 1989 glücklich überlebt und zieht eine ernüchterte, aber teils auch launige Zwischenbilanz:


Eine Gedanken von mir dazu:

Corvus fragt sich, ob die Gewinner wirklich immer die besten Bücher des Jahres gewesen seien. Die Romane seien nicht für SF-Fans ausgewählt, sondern um Menschen, die SF mit Heftromanen gleichsetzen, zu zeigen, dass SF-Romane durchaus anspruchsvoller sein können (Präsentabilität außerhalb des SF-Ghettos).

Dazu kann man viel sagen.
Zum einen: Ich kenne fünf der neun Preisträger und mag sie allesamt sehr gerne. Georg Zauners "Die Enkel der Raketenbauer" und Thomas R.P. Mielkes "Das Sakriversum" sind mit einem Augenzwinkern geschilderte Zukunftsvisionen, während Wolfgang Jeschkes "Der letzte Tag der Schöpfung" die Aussichtslosigkeit des Vorhabens, mittels einer Zeitmaschine die politschen Verhältnisse der Gegenwart zu ändern, thematisiert. Beim letztgenannten Buch fand ich es sogar sehr verdienstvoll, dass hier eben nicht wieder das ausgenudelte "Mensch aus dem Jahr 2000 trifft Julius Cäsar"-Motiv recycled wurde, sondern ein größerer, aber vor allem anderer Bogen gespannt wurde.

Zum anderen: Die Jahre 1978-1986 werden gern als das "Goldene Zeitalter der SF in Deutschland" bezeichnet. Weil man damals mit deutschsprachiger Science Fiction jenseits des Heftromans gutes Geld verdienen konnte. (So ist es auch kein Zufall, dass der KLP gerade zu dieser Zeit aus der Taufe gehoben wurde.) Es gibt verschiedene Erklärungsversuche, wie es zu der Nachfrage kommen konnte. Ein Ansatz: Die SF-Taschenbuchreihen namentlich bei Heyne und bei Goldmann haben die deutschen SF-Fans mit literarisch anspruchsvollen Werken aus dem englisches Sprachraum bekannt gemacht. Daraus erwuchs das Bedürfnis nach ähnlich anspruchsvoller deutschsprachiger SF.
Das Problem: Auf der Angebotsseite war man darauf nicht vorbereitet. Es gab einfach zu wenig gute Autoren, die fähig und willens waren, gute deutschsprachige SF zu schreiben. Um die große Nachfrage dennoch zu bedienen, senkten die Verlage ihre Qualitätsansprüche und publizierten Manuskripte, die normalerweise spätestens auf Seite 3 vom Lektor in die Rundablage befördert worden wären. Was dazu führte, dass es in den 80er-Jahren einfach zu wenig gute deutschsprachige SF-Romane gab.
Ein ähnliches Erlebnis hatte ich, als ich die DSFP-Kurzgeschichten-Preisträger-Anthologie "Die Stille nach dem Ton" las. Gerade bei den ersten Stories aus dem 80ern fragte ich mich einige male: Gab es in dem Jahr wirklich keine bessere Story? Mit fortschreitender Zeit verbesserte sich die Qualität der Siegerstories, und der Anteil der relativen Aussetzer sank ab den 1990ern deutlich. Es besteht also auch Hoffnung bei den KLP-Romanen.

Corvus vermutet, dass die deutschen SF-Schaffenden nicht nur nach literarischer Qualität abgestimmt haben. Als Beispiel nennt er den Preis für Wolfgang Jeschke, der sich nicht nur als Autor, sondern vor allem als Herausgeber und Cheflektor für die SF-Reihe im Heyne Verlag hervorgetan hatte. Mit dem Preis für "Der letzte Tag der Schöpfung" könnten bewusst oder unbewusst auch seine Verdienste für die Verbreitung der Science Fiction in Deutschland gewürdigt worden sein.

Außerdem hing die Existenz manches deutschen SF-Autors von Jeschkes Wohlwollen ab. Tatsächlich sagte Jeschke, als ihm 2006 der Deutsche Science Fiction Preis (!) für "Das Cusanus-Spiel" verliehen wurde, sinngemäß, er sei stolz darauf, dass die DSFP-Jury ihm den Preis zuerkannt habe. Der KLP komme ja sowieso. (Tatsächlich ist Jeschke mit insgesamt 17 oder 18 KLP-Titeln in verschiedenen Kategorien unangefochtener Spitzenreiter.)
Der KLP ist eben KEIN Jury-Preis, sondern ein Preis, der, ähnlich dem Nebula-Award, von den SF-Schaffenden vergeben wird. Die KLP-Abstimmungsberechtigten müssen z.B. nicht alle Bücher auf der short list gelesen haben, um abstimmen zu können. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen KLP und DSFP, was natürlich auch spezifische Unterschiede in den Ergebnissen nach sich zieht. Aber deshalb gibt es ja auch die verschiedenen Preise.
Und mit diesen Ausführungen will ich keineswegs den KLP bashen. KLP, DSFP und der Deutsche Phantastik-Preis als echter Publikumspreis haben allesamt ihre Daseinsberechtigung, gerade weil sie mit unterschiedlichen Ansätzen an die Preisfindung herangehen.

Egal. Ich freue mich schon darauf, was Robert Corvus zu den KLP-Siegern der 90er Jahre zu sagen hat.
Wie gesagt: Die besten Kurzgeschichten beim DSFP wurden in der Dekade besser.


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Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit (2020-B003)

Geschrieben von ShockWaveRider , in Bücher 20 Januar 2020 · 2.560 Aufrufe

Marcel Proust

Die wiedergefundene Zeit

Siebter und letzter Band des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

(Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002/2011, 643 Seiten)


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Beschafft habe ich mir Marcel Prousts Monumentalwerk im August 2018. Den ersten von sieben Bänden nahm ich im November 2018 zur Hand. 14 Monate später lege ich nun den letzten Band aus der Hand.

Nur die ersten vier Bände sind zu Marcel Prousts Lebzeiten erschienen. Von Band 5 liegt immerhin ein Typoskript vor, das Proust dem Verlag vorlegte. Allerdings heißt das wenig, denn zum Leidwesen seines Verlegers nahm Proust in den Druckfahnen nicht nur punktuelle Korrekturen vor; vielmehr verwendete er sie als Grundlage für umfangreiche Überarbeitungen.

Der siebte Teil „Die wiedergefundene Zeit“ war von Proust zum Zeitpunkt seines Todes als letzter Teil vorgesehen. Auch das heißt nicht viel: anfangs hatte er das „Verlorene Zeit“-Projekt auf drei Bände angelegt. Der Titel legt es schon nahe: Hier versucht Proust eine Antwort auf die Frage zu finden, wo die verlorene Zeit bleibt bzw. ob und wie man sie wiederfinden kann.

Allerdings liegt dieser Teil nur in Form von Notizheften, Prousts berühmten Cahiers, vor, in die er viele Leporellos eingeklebt hat mit später verfassten Einschüben. Von daher wundert es wenig, dass der Band einen unfertigen Eindruck hinterlässt. So treten regelmäßig Figuren auf, die in früheren Bänden der „Recherche“ bereits gestorben sind. Die Leporellos verursachen gleich zwei Probleme: zum einen ist nicht immer klar, an welcher Stelle auf der Seite die Leporello-Texte genau eingefügt werden sollten, zum anderen treten am Beginn und am Ende der Einschübe Kontinuitätsprobleme mit dem ursprünglichen Entwurf auf.

Allen genannten Schwierigkeiten zum Trotz liest sich auch der Abschlussband mit Genuss und Gewinn.

Ein wichtiges Thema dieses Bandes ist der 1. Weltkrieg. Proust empfindet ihn vor allem als Abschied von der dekadenten, hedonistischen „Belle Époque“, in der die ersten sechs Bände der „Recherche“ spielten. Das 19. Jahrhundert begeht mit 14-18 Jahren Verspätung sein „Fin de Siècle“; die „Belle Époque“ wird selbst Teil der unwiederbringlich „verlorenen Zeit“.

Allerdings schildert Proust die Schrecken des Krieges nur am Rande. Er selbst verbrachte die Kriegsjahre überwiegend in einem Sanatorium und erfuhr vom Kriegsgeschehen nur über Zeitungen und andere mittelbare Berichte. Was er aber mit unbestechlichem Blick seziert, ist der Wandel, der bei den Protagonisten seines Romans einsetzt. Vergessen sind plötzlich die tiefen Gräben, die die Dreyfus-Affäre über mehr als ein Jahrzehnt in die französische Gesellschaft gerissen hat. Vergessen ist aber auch die Wertschätzung, die der deutschen Kultur entgegengebracht wurde. Wer nun hinreichend expressiv eine patriotische Gesinnung vor sich her trägt, darf der gesellschaftlichen Akzeptanz sicher sein. Selbst die eleganten Salondamen kleiden sich nun betont schlicht, um ihre Solidarität mit den kämpfenden Soldaten und dem leidenden Volk auszudrücken. Proust zeigt mit ungewohnt deutlicher, fast schon verbitterter Sprache, dass es sich hier nur um eine Fassade handelt.

Einen wesentlichen Raum nehmen poetologische Überlegungen ein, die mit Blick auf die „Recherche“ selbstreferentiellen und bisweilen selbstironischen Charakter erlangen. So spricht sich Proust nicht nur gegen den filmhaften Roman, die bloß aufzeichnende Literatur und gegen patriotische Kunst aus, sondern auch gegen explizite Theorien im Kunstwerk. Aber genau die liefert er in diesen Passagen.

Und er versucht sich im ersten Teil des siebten Bandes auch an einer Antwort auf die Frage, wie man die „Suche nach der verlorenen Zeit“ erfolgreich beenden kann. Es ist die Kraft der Erinnerung, die ein vergangenes Ereignis in das gegenwärtige Bewusstsein des Sich-Erinnernden bringt. Indem sie Vergangenheit und Gegenwart verbindet, ist aktive, imaginative Erinnerung zeitlos. Ich hatte Probleme, diese Schlussfolgerung nachzuvollziehen. Was z.B. passiert mit der Erinnerung nach dem Tode des Erinnerungsträgers? Aber gerade bei solchen Passagen zeigt sich, dass hier ein Todkranker gegen den drohenden Tod anschreibt und versucht, so viele Gedanken, Impressionen, Erinnerungen wie möglich vor dem endgültigen Verstummen zu retten.

Der zweite Teil, von vornherein als Endstück der „Recherche“ konzipiert, ist bereits zu einem frühen Stadium des Romans entstanden. Hier findet man auch wieder die elegante Leichtigkeit, die spöttische Treffsicherheit und die dandyhafte Distanz, die den Reiz der ersten Romanbände ausmachten. Schlusspunkt der Recherche ist ein Maskenfest bei den Guermantes. Allerdings sind die Figuren des Romans allesamt gealtert. Das Maskenfest erhält dadurch fast den gespenstischen Charakter eines Totentanzes. Proust räsonniert hier aber gekonnt und einsichtsreich über die Individualität des Alterns. Wie in einer Revue treten alle Personen noch einmal auf, und Proust beschreibt, wie unterschiedlich sich das Alter bei ihnen bemerkbar macht. Am Ende wendet sich Proust Odette zu, jener Frau, die als Courtisane von Swann die heimliche Heldin des ersten Bandes war. Nun, als Grande Dame, konnte sie sich viel von ihrer Attraktivität bewahren, hat aber an Eleganz und gesellschaftlicher Wirkung gewonnen. Ein schöner, den gesamten 4000-Seiten-Roman überspannender Kreis schließt sich hier.

Auch dieser Band ist gespickt mit Anspielungen auf Kunstwerke aller Art. Ohne die wohlerwogenen Kommentare der vorliegenden Frankfurter Ausgabe wären mir die meisten Referenzen entgangen, zumal sich die meisten auf zeitgenössische Kunstwerke der Belle Époque beziehen, die heute ohne Prousts Zitate vergessen wären.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ habe ich gern gelesen und ausgesprochen genossen. Zwar kenne ich das Original nicht, aber Eva Rechel-Mertens hat mit ihrer Übersetzung ein kongeniales Meisterwerk geschaffen. Auch die komplexesten Satzgefüge bleiben stets lesbar. Ich kann verstehen, wenn sich jemand nicht mit den überflüssigen Intrigen gelangweilter, superreicher Salonlöwen beschäftigen will. Die unbestechliche Analyse und Offenlegung solcher gesellschaftlicher Spielchen macht einen großen Anteil der „Recherche“ aus. Daneben gibt es aber auch tiefe psychologische Einsichten, insbesondere über das menschliche Bewusstsein und die schwer fassbare, fragile und fehlbare Natur der Erinnerung. Prousts Meilenstein verlangt vom Leser einiges ab. Aber wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt.


Die Lektüre liefert einen Beitrag zu folgenden Lesezielen 2020:
1: 100 Bücher lesen! (3/100)
2: 14 von 16 Büchern aus dem 2019er-SUB bis Ende Juni lesen! (3/14)

Leseziel erreicht:
2a: Prousts „Die wiedergefundene Zeit“ bis Ende Januar lesen!






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