Das mindeste, das machbar ist, ist eine objektive, weil an nachprüfbaren Fakten meßbare Analyse des Handwerks. Nichts anderes macht die binär codifizierte (und kodierte) Software Papyrus.
Da das jetzt immer wieder auftaucht, möchte ich doch mal Widerspruch anmelden. Papyrus analysiert nicht das "Handwerk", schon gar keine handwerkliche Qualität. Weder in der Lesbarkeitsprüfung, die halt nur die Einfachheit des Textes abschätzt, noch in der implementierten Stilanalyse nach dem "10-Punkte-Tüv".
Alles, was Papyrus macht, ist gewisse abzählbare Textmerkmale markieren, die erfahrungsgemäß eine korrelative Relevanz zu handwerklichen Phänomenen haben. Ob die markierten Stellen im Einzelfall tatsächlich eine handwerklich relevante Bedeutung haben, das kann erst der Mensch beurteilen. Papyrus macht nur auf Stellen aufmerksam, wo es sich häufig lohnt, mal genauer hinzuschauen.
Ich dachte eigentlich, das müsste nicht erwähnt werden und wäre jedem klar. Wird ja von den Entwicklern auch immer wieder betont. Aber Aussagen wie "Was, wenn ich als Autor Wortwiederholungen als Stilmittel einsetze? Oder Adjekitivitis. Wird von Papyrus alles rot unterlegt" wecken dann doch Zweifel in mir, ob da nicht ein profundes Missverständnis vorliegt.
Papyrus markiert keine Fehler und keine Mängel. Es nimmt dem Autor keine Entscheidung ab. Es sagt einem nur, wo man hinschauen sollte; was man da dann in handwerklicher Hinsicht findet, darüber entscheiden allein die eigenen Fähigkeiten. Deswegen spielt es auch keine Rolle, ob Papyrus auch stilistische Wortwiederholungen markiert - denn Papyrus markiert nun mal Wortwiederholungen. Stumpf und mechanisch und ohne jede handwerkliche Relevanz. Die stilistische Bedeutung muss man selbst sehen, und zwar selbst dann, wenn man jetzt nicht gezielt eine Wortwiederholung als Stilmittel eingesetzt hat - auch in anderen Fällen kann es ein handwerklicher Fehler sein, wenn man eine Wortwiederholung stets als Fehler ansieht, krampfhaft rauszuholen versucht und damit viel mehr Schaden als Nutzen anrichtet.
Und das gilt auch für alle anderen Markierungen von Papyrus - die bedeuten immer nur: "Schau mal nach, ob da alles in Ordnung ist." Sie bedeuten nicht "Da ist was nicht in Ordnung". Diese beiden Aussagen sollte man nicht verwechseln, sonst hat man das Programm und die Hilfen, die es bietet, falsch angewendet.
Zu der angeblichen "Subjektivität des Handwerks": Als Lektor und Redakteur habe ich auch schon mal mit Kollegen an einem Text zusammengearbeitet oder über Dinge, die man korrigiert, auch mit Kollegen gesprochen. Was ich da im Laufe der Zeit bei allen diesen Beispielen immer wieder erlebt habe, war ein Phänomen, das ich mal als "Drittelregelung" bezeichnen möchte.
Es gab nämlich im Wesentlichen drei Klassen von Korrekturen, und diese drei Klassen waren auch immer mehr oder minder gleichwertig verteilt. Ein Drittel der Korrekturen waren eindeutig. Bestimmte Dinge an einem Text hat so ziemlich jeder Kollege festgestellt, und es waren sich auch alle einig, dass man das so-und-so korrigeren müsste. Das zweite Drittel an Korrekturen war ein weniger schwammiger. Wenn man die Korrektur des Kollegen gesehen hat, wusste man, warum das angestrichen wurde, dachte sich "ja, das kann man so machen. Ist so wahrscheinlich besser". Aber man hätte es selbst von sich aus vielleicht nicht so korrigiert. Ganz willkürlich waren diese Korrekturen allerdings auch nicht. Wenn zwei Kollegen je zehn verschiedene Sachen dieser Art angestrichen hatten, konnte man davon ausgehen, dass ein dritter Kollege nicht wieder zehn völlig neue Punkte anstreicht, sondern dass er immer auch über ein paar derselben Dinge stolpern wird wie Kollege eins oder zwei - man kann also sagen, diese Fehlerklasse betraf handwerkliche Mängel, die nicht jeder Lektor genau gleich sieht, aber zumindest mit einer deutlichen statistischen Wahrscheinlichkeit anstreichen wird.
Und die dritte Klasse der Korrekturen waren dann solche Dinge, bei denen man, wenn ein Kollege davon erzählt hat, allenfalls höflich genickt hat, aber bei sich dachte: "Jooo. Kann man wohl auch so machen. Aber warum sollte man?" Also das, was ich wirklich mal als Geschmackssache ansehen würde (Und die Fälle, wo ein Lektor etwas anstreicht und der andere sagt: "Um Gottes willen, die Korrektur ist ja schlimmer als das, was vorher da stand", die lasse ich jetzt mal außen vor. So was sollte eigentlich nicht passieren
).
Wie genau diese "Drittel" verteilt waren, schwankte im Einzelfall ein wenig. Wenn Kollegen öfter zusammen gearbeitet hatten, aus demselben Umfeld kamen, vielleicht dasselbe Vorbild hatten, gab es ein wenig mehr Übereinstimmung. Und manche Texte waren auch eindeutiger als andere in der Bearbeitung. Aber es waren eigentlich immer diese drei großen Klassen an Korrekturen und Übereinstimmung bei der Diskussion mit Kollegen zu beobachten, und ich würde mal schätzen, dass es angemessen ist, wenn man feststellt, dass diese Fälle insgesamt in etwa gleich häufig vorkamen.
Mein Fazit aus dieser Erfahrung wäre: Wenn es "das objektive Handwerk" gäbe, müssten ja eigentlich alle Lektoren immer genau dasselbe finden oder sich in den Dingen, die sie finden, zumindest einig sein. Dass das nicht der Fall ist, zeigt halt, dass da ein subjektiver Faktor reinkommt, und dass man auch nicht in jedem Einzelfall präzise sagen, wie subjektiv oder objektiv die Einschätzung ist - denn das Lustige an der Sache war ja: Der einzelne Bearbeiter konnte diese drei Klassen selten unterscheiden. Da kommt einem das meiste, was man anstreicht, ganz logisch und selbstverständlich vor, und man ist erst mal überrascht, wenn ein Kollege das anders sieht. Man merkt also tatsächlich erst bei der Abstimmung mit Kollegen, wie "objektiv" eine Korrektur tatsächlich ist.
Daraus jetzt allerdings zu schließen, dass es gar keine Objektivität gibt, dass alles nur Geschmack ist oder eine Konvention, die erst mal mit anderen abgesprochen werden müsste, geht meiner Erachtens nach auch zu weit. Denn wäre die handwerkliche Bearbeitung reine Willkür, hätte auch so ziemlich jeder seine eigene Meinung - tatsächlich ist aber die statistische Übereinstimmung bei der Einschätzung verschiedener Bearbeiter am Ende doch sehr hoch. Es gibt eine Menge Sachen, die jeder unabhängig vom anderen so gut wie immer anstreicht. Und die meisten Korrekturen beziehen sich auf eine Menge von Textphänomenen, bei denen sich zumindest eine große Zahl der Bearbeiter einig sind; während die wirklich subjektiven Veränderungen, die nur einzelne Bearbeiter machen, eher selten sind.
Für mich legt das nahe, dass handwerkliche Phänomene also durchaus nicht subjektiv sind, sie sind nur nicht immer und in jedem Einzelfall eindeutig. Nur weil man im Einzelfall nicht immer sicher sein kann, wie weit da das subjektive Empfinden und der Geschmack hereinspielt, heißt das nicht, dass es nicht auch einen objektiven Faktor gibt, der sich dann allerdings erst statistisch betrachtet bemerkbar macht.
Und das eigentliche "objektive" Handwerk wären dann die Regeln und Fähigkeiten, deren Kenntnis es einem erlaubt, möglichst viele der "Basics" zu erkennen (also diejenigen Mängel, die so ziemlich jedem trainierten anderen Bearbeiter auch auffallen würden); mit den sonstigen Korrekturen sich möglichst in einem Bereich zu bewegen, wo die Schnittmenge mit anderen Bearbeitern möglichst groß ist (also vielleicht nicht alles zu korrigieren, was andere auch korrigieren, aber dafür möglichst wenig Dinge, die außer einem selbst überhaupt niemanden stören würden); und, natürlich, möglichst keine Veränderungen vorzunehmen, die andere geübte Bearbeiter gar als Verschlechterung wahrnehmen.
Dass dann natürlich dieser Regelsatz je nach Textart, Zielgruppe, Ambition etc. ein wenig variieren kann, ist auch klar; ändert aber nichts daran, dass er innerhalb seines Gültigkeitsbereichs doch eine gewisse Objektivierbarkeit handwerklicher Arbeit schafft.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)