Oder mit etwas mehr Bezug zum Thema: Politische Visionen, die darauf basieren daß die Menschen sich in naher Zukunft mehrheitlich vernünftiger verhalten werden als sie es heute schon tun, sind prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Man muß auch als Politiker oder Weltverbesserer (oder beides ) mit dem arbeiten, was man hat.
Da gebe ich dir recht. Nur ging es hier ja nicht darum, was passieren wird oder worauf man als Politiker bauen könnte. Es ging erst mal nur darum, was man als Wähler machen
könnte, ob der Wähler etwas verändern kann und inwiefern das Wahlvolk selbst verantwortlich ist für die Politiker, die wir haben.
Und um diese Frage mit Ja zu beantworten, reicht ja erst mal die Tatsache aus, dass es anders wäre, als es ist, wenn die Wähler sich anders verhielten. So unrealistisch ist die Vorstellung auch nicht - genau genommen steuern wir derzeit durchaus auf den Zustand zu, mit der sinkenden Parteienbindung und der zunehmenden Zersplitterung der Parteienlandschaft. Nur geht es halt langsam und eher erratisch vonstatten.
Damit, dass die Masse der Wähler ihre Möglichkeiten schnell, konzertiert und strategisch nutzt, rechne ich auch nicht. Festzuhalten bleibt trotzdem: Wir haben die Möglichkeit einer "Revolution" so weit strukturell in unserem Staatsystem verankert, dass sie jederzeit viel leichter möglich wäre als in den Staaten, in denen tatsächlich eine stattfindet. Es wäre dafür weniger Elan und Mobilisierung nötig als beispielsweise derzeit in Nordafrike. Solange man selbst die nicht erreichen kann, wird der Ist-Zustand wohl als doch nicht so schlimm empfunden. Und dafür können "die Wähler" in ihrer Gesamtheit halt niemanden verantwortlich machen als sich selbst.
... fürchte ich eher Zustände wie in der Weimarer Republik: zahlreiche kleine Parteien, die sich zusammenschließen müssen, ...
Könnte passieren, oder auch nicht. Inwieweit die Schweizer Verhältnisse besser oder schlechter sind, darüber kann man auch diskutieren. Ich will auch nicht sagen, dass bei entsprechendem Verhalten des Wahlvolkes garantiert alles besser wird als heute. Garantien gibt es nie.
Alles, was ich sage, ist, wenn das Wahlvolk unzufrieden ist mit dem, was es hat,
könnte es das jederzeit ändern. Es
könnte alle derzeitigen politischen Akteure von hier auf jetzt auf die Straße schicken, ohne persönliches unmittelbares Risiko, ohne Waffengewalt und mit nicht mehr Aufwand als einem Weg zum Wahllokal (und natürlich mit der Bildung eines entsprechenden politischen Bewusstseins zuvor, was vermutlich der größte Aufwand und die größte Hürde ist). Und auf das, was danach kommt, könnte der Wähler sogar Einfluss nehmen, indem er genau auf die Parteien und Akteure schaut, die kommen, indem er selbst bei der Stimmabgabe langfristig denkt und indem, womöglich, der ein oder andere selbst durch politische Arbeit dazu beiträgt, dass Parteien zur Verfügung stehen, die's besser machen. Sobald ein entsprechender Selektionsdruck vom Wähler erzeugt wird, wäre das nämlich auch wieder erfolgversprechend.
Ob man je von genug Wählern dieses Maß auch nur an aktiver Stimmabgabe erwarten kann, halte ich auch für zweifelhaft. Ob das sich dann am Ende so weit organisieren lässt, das etwas Besseres herauskommt, weiß man auch nicht.
Aber genau dein Einwand, dass du nämlich zuerst daran denkst, was bei einer Veränderung alles Schlechteres herauskommen könnte, und dass man darum doch lieber bei dem bleibt, was man hat, auch wenn man damit unzufrieden ist und es gerne los wäre, das ist eigentlich kein Einwand. Es ist genau das Symptom, das ich beschrieben habe
Und, nebenbei, was das Gelaber von den "Weimarer Verhältnissen" betrifft, das kann ich eigentlich auch nicht mehr hören. Das Weimarer System war jedenfalls um einiges demokratischer als die Gegenwart, und es ist in keiner Weise belegt, dass das System nicht genauso funktionabel war wie das unsere und dass die Abweichungen vom demokratischen Standard, die in der Bundesrepublik eingeführt wurden, um "Weimarer Verhältnisse" zu verhindern, tatsächlich so sinnvoll sind, wie in der Nachkriegszeit gerne geglaubt wurde.
Das Problem ist nämlich, Weimar ist
nicht an seinen demokratischen Verhältnissen zugrunde gegangen, sondern am fehlenden demokratischen Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung. Es gab einfach zu viele Politiker, die das demokratische System an sich in Frage gestellt haben, und, was schlimmer ist: Diese Politiker fanden enorm viel Rückhalt im Volk.
Wie sehr die Weimarer Verfassung tatsächlich dazu beigetragen hat, dass diese Grundkonstellation das Gebilde so schnell zerschlagen hat, das ist tatsächlich sehr zu hinterfragen. Ich stelle mal eine ketzerische Gegenthese in den Raum: Hätten wir die bundesrepublikanische Demokratie zu Weimarer Zeit etabliert, ohne die zweite Kriegs- und Diktaturerfahrung des deutschen Volkes und ohne dass die Westmächte wie nach dem 2. Weltkrieg unmittelbar den Daumen auf das System gehalten hätten, dann hätte wir trotzdem "Weimarer Verhältnisse" bekommen - und zwar mit eben jenem Grundgesetz, das wir heute dafür feiern, weil es geeignet wäre, solche zu verhindern.
Ich weiß also nicht, ob "Weimarer Verhältnisse" mit demokratisch gefestigten Bewusstsein bei allen Beteiligten (und nicht zuletzt mit einer Justiz, die dem System in seinen unglücklicheren Auswüchsen klare Grenzen setzt) nicht sogar deutlich sympathischer sein könnten als der Status Quo.
Der Einwand taugt für mich also nicht als Toschlagargument
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)