Zunächst sollte man begrifflich etwas klarer Differenzieren: Ist mit "Apokalypse" die Erzählung oder das Ereignis gemeint?
Die Erzählung natürlich. Ein »Ereignis« namens Apokalypse gibt es eigentlich nicht. Heute wird häufig umgangssprachlich von Apokalypse gesprochen, wenn der Weltuntergang oder eine Katastrophe gemeint sind. Das Wort Apokalypse (ἀποκάλυψις) bedeutet wörtlich aber nichts weiter als Offenbarung und bezieht sich darauf, dass in apokalyptischen Texten ein Seher oder Prophet als Erzähler auftritt, dem von einem himmlischen Wesen (meist einem Engel) die bevorstehenden Ereignisse der Endzeit visionär gezeigt und gedeutet werden.
Und dann ist die Apokalypse des Johannes keineswegs die einzige apokalyptische Erzählung: Die Geschichte von der Sintflut gehört dazu, mE die Geschichte von Sodom und Gomorrha...
Nein, die Sintflutserzählungen und die Geschichte von Sodom und Gomorrha haben gattungsmäßig und literaturgeschichtlich mit der apokalyptischen Literatur nichts gemein. Hier entsteht die Verbindung nur durch die Gleichsetzung Apokalypse = Katastrophe/Weltuntergang. Unter Apokalypse im eigentlichen Sinne sind literaturtheoretisch nur solche Texte wie die Johannesoffenbarung, das Buch Daniel, die Baruchapokalypse etc. zu verstehen.
Johannes ist dabei vielschichtig: Vordergründig ist es ganz schrecklich, was passiert, aber notwendig, da es das Böse in der Welt gibt. Dabei schwingt mit, dass die schrecklichen Dinge nicht die Christen (die sind bis dahin alle Märtyrer geworden), sondern die bösen Menschen trifft. Es ist also auch eine (hintergründig: befriedigende) Strafe. Dagegen steht aber, dass die Christen die Apokalypse aufschieben können, weil die erst eintritt, wenn alle Christen tot sind - wenn man also fleißig missioniert, tritt sie erst später ein. So gesehen ist es schon eine Warnung.
Hier würde mich interessieren, wie du auf diese Deutung kommst? Textpragmatisch haben die Apokalypsen vor allem die Funktion, Angehörige verfolgter Gruppen (das Judentum unter den Diadochen, das Christentum vor der konstaninischen Wende) Trost zuzusprechen, indem man ihnen die Aussicht, dass ihre Lage sich durch göttliches Eingreifen radikal ändert literarisch vor Augen führt. Insofern ist das Ende der Welt, wie die Apokalypsen es ihren Adressat_innen beschreiben, etwas Herbeizusehnendes und nichts, vor dem gewarnt werden müsste. Die diversen Erklärungen in apokalyptischen Texten, warum das Ende erst später kommen kann, sind deshalb eher als Antwortversuche auf die Frage, warum das göttliche Eingreifen auf sich warten lässt, zu verstehen.
Die apokalyptische Erzählung beschreibt eine Zäsur, daher steckt in der Erzählung natürlich auch etwas Tröstendes: Irgendwie wird es schon weitergehen, selbst wenn die Welt untergeht. Bei der Johannes Apokalypse ist dieses Element besonder ausgeprägt: Nach der Apokalypse können alle guten Menschen ins zweite Jerusalem einziehen und bleben da auf immer glücklich an Gottes Seite.
Eine solche Erlösungsvision ist integraler Bestandteil aller apokalyptischen Texte im oben definierten Sinne.
Die Welle von Morton Rhue ist keine literarisch Warnung vor einer nicht wünschenswerten Gesellschaft in Form einer erfundenen Geschichte. Das Buch ist ein Bericht über reale Ereignisse und sollte zeigen, wie es zum Nationalsozialismus kommen sollte. Das Experiment findet in einer einzelnen Schule statt, gesellschaftliche Auswirkungen, z.B. auf die ganze Stadt, gibt es nicht. Es gibt also einen Unterschied zu 1984 oder Schöne neue Welt, die zweifelsohne als Dystopien gelten.
Die Welle ist ein fiktionalisierter Bericht, der sich auf reale Ereignisse stützt. Insofern ist es natürlich eine literarische Warnung vor einer nicht wünschenswerten, genauer einer faschistischen Gesellschaft. Dass sich die Handlung im Rahmen einer kleinen Personengruppe abspielt und nicht (wie gewöhnlich in der dystopischen Literatur) wurde oben ja schon festgehalten. Und übrigens auch, dass
Lord of the Flies vor dem Hintergrund eines (Atom-)Kriegs spielt.
Die Wolke kann noch weniger als Dystopie gelten. Im Roman geht es um die Unfähigkeit einer Gesellschaft, nämlich die Bundesrepublik Deutschland der 80erJahre, auf eine Katastrophe zu reagieren. Die Behörden reagieren hilflos auf einen GAU in Deutschland und die Gesellschaft vergisst nach kurzer Zeit, was geschehen ist. Praktisch bleibt alles so wie es war. Die Wolke ist Science Fiction. Was wäre, wenn in Deutschland der GAU in einem Kernkraftwerk passiert?
Dieses Buch würde ich von den genannten auch als am wenigsten dystopisch geprägt ansehen. Ob es SF ist, weiß ich nicht. Lassen sich Katastrophenszenarien in Buch und Film so eindeutig als SF einordnen?
Simifilm hat es auf den Punkt gebracht: Ein negatives Setting alleine ist noch keine Dystopie.
Das sehe ich auch so. Gerade wenn es um die Zuordnung zur SF geht, würde ich zwischen Dystopien und Post-Doomsday-Szenarien unterscheiden. Zu letzteren sind vermutlich auch die Bücher von Glukhovsky zu zählen.
Bearbeitet von Anubizz, 14 August 2011 - 18:25.