Wenn man über Dystopien/Anti-Utopien diskutiert, ist eines der Probeme, dass die verschiedenen Aspekte des Begriffs immer unterschiedlich von den Beteiligten gewichtet werden. Betont man eine anti-utopische Grundhaltung, so sind schon einige antike Komödien Anti-Utopie (hier auch konkret gegen Platons Politeia gerichtet) - hier wird dann gerne von utopischen Parodien gesprochen, fasst man aber Dystopien/Anti-Utopien als Gegensatz zu einem perfekten Staat auf (hier macht es der Blickwinkel), so muss der Staat schon tüchtig schlecht sein, damit er das Prädikat verdient. Glaubt man zudem, dass alle Utopie totalitär sind, so muss auch der dystopische Staat ein totalitärer sein. Meint man hingegen das klassische Genre des 20 Jahrhunderts (1984, BNW, Wir) so braucht es tatsächlich nicht nur einen totalitären Staat, sondern auch den in der Diskussion schon angesprochenen Protagonisten, der in Konflikt mit dem System, aus dem er stammt, gerät (Freiheit versus allgemeines Glück(sversprechen). Deshalb kann es durchaus Sinn machen, denke ich, zwischen dystopischen Gesellschaften, dystopischen Romanen und dem Genre Dystopie zu unterscheiden: Viele Werke von Wells sind beispielsweise meiner Ansicht nach anti-utopisch, obwohl sie keine Anti-Utopien sind..
Schön, dass der Experte noch mit an Bord gekommen ist.
Ich habe bislang bewusst den Begriff "Anti-Utopi" vermieden, da hier noch einmal ein eigenes Problem lauert: Anti-Utopie wird - wie Du ja sicher weisst - unterschiedlich verwendet. Oft ist es einfach ein Synonym für Dystopie, mancherorts werden Dystopie und Anti-Utopie aber auch klar unterschieden. Während sich die Anti-Utopie gegen das utopische Prinzip richtet, entwirft eine Dystopie eine möglichst schlechte Welt. Diese beiden Tendenzen können sich sehr wohl überlagern, müssen dies aber keineswegs tun.
Noch zum Protagonisten: Das Interessante ist ja, dass viel Utopien und Dystopien, zumindest was den Staatsaufbau betrifft, erstaunlich nahe beieinander liegen: Totalitäre Regimes, bei denen sich das Individuum unterzuordnen hat. Der Protagonist ist hier deshalb wichtig, weil er überhaupt erst die Wertung einbringt. Aus der Sicht eines x-beliebigen Bürgers ist
Brave New World im Grunde eine Utopie; es braucht schon den Unglücklichen Bernard Marx und später den Wilden, um die Fehlerhaftigkeit dieses Problems zu zeigen (In
Elementarteilchen schreibt Michel Houellebecq ja auch, dass
BNW eine missverstandene Utopie sei. Ungefähr der einzige originelle Gedanke in dem Buch). Würde man einen Bernard Marx nach Utopia verpflanzen, würde auch daraus eine Dystopie.
Was ich nun eine interessante Frage finde: Gibt es Dystopien, die ganz ohne diesen Rebellen auskommen? In denen die Kritik am System anders, mehr implizit formuliert wird?
A Clockwork Orange geht ein bisschen in diese Richtung: Alex steht zwar auch mit dem System in Konflikt, ist aber selber ja auch keine positive Figur.
Bearbeitet von simifilm, 16 August 2011 - 09:08.