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Das Verhältnis von Utopie, SF und Alternate History


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316 Antworten in diesem Thema

#61 Konrad

Konrad

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Geschrieben 15 August 2011 - 12:53

Dass es auf jeden Fall Verbindungen zwischen Satire und Dystopie gibt, habe ich ja bereits geschrieben. Ich würde aber schon sagen, dass das fiktionale Staatssystem der entscheidende Aspekt ist, der Utopie und Dystopie auszeichnet.

Eine Übertreibung stellt m.E. immer eine Fiktion dar, wobei eine Realsatire aber natürlich damit kokettiert, daß die Übertreibung kein "Utopos", sondern eine durch besonders genaue Beobachtung geschärfte Darstellung der Realität darstellt.

Und dieses Staatssystem, respektive der Konflikt mit diesem, muss in der Erzählung auch eine zentrale Rolle spielen. Falls es einfach ein dystopisches Setting gibt, die Handlung aber eigentlich nichts dem Verhältnis von Individuum und Staat zu tun hat (denn das ist der Punkt, um den sich am Ende fast alle Utopien/Dystopien drehen), würde ich nur von dystopischen Elementen sprechen.

Das sehe ich auch so.

#62 Anubizz

Anubizz

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Geschrieben 15 August 2011 - 13:44

Apokalypse ist vom Verb apo-kalýpto abgeleitet und heißt ursprünglich nur enthüllen/entblößen. Erst mit dem NT wird es zum Offenbaren im heutigen Sinne. Ursprünglich ist es also eher Christo-Aktion als Vision.

Die Bezeichnung Apokalypse wie auch das Verb beziehen sich (im hier diskutierten Kontext) auf die Rahmenhandlung apokalyptischer Texte, in der für gewöhnlich dem Erzähler die Geheimnisse des Himmels und/oder die bevorstehenden Ereignisse der Endzeit enthüllt oder offenbart werden. Dieses Erzählschema gab es auch schon vor dem Neuen Testament. Enthüllen, offenbaren und entblößen kann man hier getrost als Synonyme sehen. Eine Bedeutungsänderung gibt es in diesem Zusammenhang also nicht.

Was du mit Christo-Aktion meinst, verstehe ich leider nicht.

Mittlerweile hat sich eingebürgert, dass amn unter Apokalypse eine Art Weltuntergang versteht. Daher ordnet man die "Mad Max"-Filme und dergleichen der als "Postapokalypse" betitelten Gruppe zu.

(...)

Und warum sollte ich diese Kategorisierung übernehmen? Eine ideengeschichtliche scheint mir doch nützlicher zu sein - und da wird es halt andersgehandhabt.

Wir sprechen hier ja in erster Linie über Literatur. Da halte ich es für hilfreich, eine Einordnung nach Gattung und historischem Kontext vorzunehmen. »Ideengeschichtlich« lässt sich ja wohl kaum vertreten, dass eine literarische Verwandtschaft zwischen einer antiken Textgattung und modernen Dystopien besteht. Eine solche allein an dem Begriff Apokalypse festzumachen, halte ich für gewagt: Dass zwischen antikem und heutigem Sprachgebrauch eine enorme Bedeutungsverschiebung stattgefunden hat, versteht sich. Und ein ideengeschichtlicher Zusammenhang zwischen den in den antiken Apokalypsen geschilderten Weltuntergangsszenarien und heutigen Post-Doomsday-Stoffen lässt sich durchaus feststellen. Daraus folgt aber kein Zusammenhang zwischen der Apokalyptik und der Dystopie, weil einerseits die Apokalyptik nicht die Warnfunktion und die Gattungsmerkmale der Dystopie aufweist und andererseits Dystopie und postapokalyptische Erzählungen/Filme (in den meisten Fällen) zwei verschiedene Dinge sind.


Vielleicht zum Zeitpunkt der Entstehung, doch selbst da scheint es mir eine Verkürzung zu sein; ich bin allerdings kein Fachmann für diesen Text. Aber im Laufe der Zeit wandeln sich die Funktionen. Und wie ich drauf komme: Das haben real-existierende Christen erzählt. Nicht mir personlich, sondern dem NDR-Info-Moderator.

Für real existierende Christ_innen ist die Johannesapokalypse ja nicht nur ein literarischer Text, sondern auch ein Glaubensdokument, das aktualisierend auf die Gegenwart hin ausgelegt werden muss. Daran ist nichts falsch, aber um antike Literatur zu verstehen, halte ich Kenntnisse über den historischen Entstehungskontext und die ursprüngliche Textpragmatik doch für äußerst nützlich.


Nach der von *dir* gebrauchten Definition. In welchem Fach wird diese Definition denn üblicherweise verwendet?

In so ziemlich allen Fächern, die sich wissenschaftlich mit der Apokalyptik auseinandersetzen, also v.a. in der Altorientalistik, der Judaistik, der Bibelwissenschaft und der altgriechischen Philologie.

Bearbeitet von Anubizz, 15 August 2011 - 19:39.


#63 RobRandall

RobRandall

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Geschrieben 15 August 2011 - 18:23

Und dieses Staatssystem, respektive der Konflikt mit diesem, muss in der Erzählung auch eine zentrale Rolle spielen. Falls es einfach ein dystopisches Setting gibt, die Handlung aber eigentlich nichts dem Verhältnis von Individuum und Staat zu tun hat (denn das ist der Punkt, um den sich am Ende fast alle Utopien/Dystopien drehen), würde ich nur von dystopischen Elementen sprechen.


Wenn man über Dystopien/Anti-Utopien diskutiert, ist eines der Probeme, dass die verschiedenen Aspekte des Begriffs immer unterschiedlich von den Beteiligten gewichtet werden. Betont man eine anti-utopische Grundhaltung, so sind schon einige antike Komödien Anti-Utopie (hier auch konkret gegen Platons Politeia gerichtet) - hier wird dann gerne von utopischen Parodien gesprochen, fasst man aber Dystopien/Anti-Utopien als Gegensatz zu einem perfekten Staat auf (hier macht es der Blickwinkel), so muss der Staat schon tüchtig schlecht sein, damit er das Prädikat verdient. Glaubt man zudem, dass alle Utopie totalitär sind, so muss auch der dystopische Staat ein totalitärer sein. Meint man hingegen das klassische Genre des 20 Jahrhunderts (1984, BNW, Wir) so braucht es tatsächlich nicht nur einen totalitären Staat, sondern auch den in der Diskussion schon angesprochenen Protagonisten, der in Konflikt mit dem System, aus dem er stammt, gerät (Freiheit versus allgemeines Glück(sversprechen). Deshalb kann es durchaus Sinn machen, denke ich, zwischen dystopischen Gesellschaften, dystopischen Romanen und dem Genre Dystopie zu unterscheiden: Viele Werke von Wells sind beispielsweise meiner Ansicht nach anti-utopisch, obwohl sie keine Anti-Utopien sind...

Der Hinweis auf die Apokalypse als "Enthüllung" finde ich gut. Die religiöse Apokalypse ist ja ein Heilsversprechen mit "ewigem Nachspiel", die säkularisierte Apokalypse ist eine Form kastrierter Apokalypse, denn ein Heilsversprechen findet nicht mehr statt. Paradoxerweise gibt es dann aber doch noch ein Nachspiel- zumeist grausames - denn anders ließe sich darüber kaum sprechen - das Buch wäre mit der Apokalypse jeweils vorbei.

#64 simifilm

simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 08:36

Wenn man über Dystopien/Anti-Utopien diskutiert, ist eines der Probeme, dass die verschiedenen Aspekte des Begriffs immer unterschiedlich von den Beteiligten gewichtet werden. Betont man eine anti-utopische Grundhaltung, so sind schon einige antike Komödien Anti-Utopie (hier auch konkret gegen Platons Politeia gerichtet) - hier wird dann gerne von utopischen Parodien gesprochen, fasst man aber Dystopien/Anti-Utopien als Gegensatz zu einem perfekten Staat auf (hier macht es der Blickwinkel), so muss der Staat schon tüchtig schlecht sein, damit er das Prädikat verdient. Glaubt man zudem, dass alle Utopie totalitär sind, so muss auch der dystopische Staat ein totalitärer sein. Meint man hingegen das klassische Genre des 20 Jahrhunderts (1984, BNW, Wir) so braucht es tatsächlich nicht nur einen totalitären Staat, sondern auch den in der Diskussion schon angesprochenen Protagonisten, der in Konflikt mit dem System, aus dem er stammt, gerät (Freiheit versus allgemeines Glück(sversprechen). Deshalb kann es durchaus Sinn machen, denke ich, zwischen dystopischen Gesellschaften, dystopischen Romanen und dem Genre Dystopie zu unterscheiden: Viele Werke von Wells sind beispielsweise meiner Ansicht nach anti-utopisch, obwohl sie keine Anti-Utopien sind..


Schön, dass der Experte noch mit an Bord gekommen ist. :rolleyes:

Ich habe bislang bewusst den Begriff "Anti-Utopi" vermieden, da hier noch einmal ein eigenes Problem lauert: Anti-Utopie wird - wie Du ja sicher weisst - unterschiedlich verwendet. Oft ist es einfach ein Synonym für Dystopie, mancherorts werden Dystopie und Anti-Utopie aber auch klar unterschieden. Während sich die Anti-Utopie gegen das utopische Prinzip richtet, entwirft eine Dystopie eine möglichst schlechte Welt. Diese beiden Tendenzen können sich sehr wohl überlagern, müssen dies aber keineswegs tun.

Noch zum Protagonisten: Das Interessante ist ja, dass viel Utopien und Dystopien, zumindest was den Staatsaufbau betrifft, erstaunlich nahe beieinander liegen: Totalitäre Regimes, bei denen sich das Individuum unterzuordnen hat. Der Protagonist ist hier deshalb wichtig, weil er überhaupt erst die Wertung einbringt. Aus der Sicht eines x-beliebigen Bürgers ist Brave New World im Grunde eine Utopie; es braucht schon den Unglücklichen Bernard Marx und später den Wilden, um die Fehlerhaftigkeit dieses Problems zu zeigen (In Elementarteilchen schreibt Michel Houellebecq ja auch, dass BNW eine missverstandene Utopie sei. Ungefähr der einzige originelle Gedanke in dem Buch). Würde man einen Bernard Marx nach Utopia verpflanzen, würde auch daraus eine Dystopie.

Was ich nun eine interessante Frage finde: Gibt es Dystopien, die ganz ohne diesen Rebellen auskommen? In denen die Kritik am System anders, mehr implizit formuliert wird? A Clockwork Orange geht ein bisschen in diese Richtung: Alex steht zwar auch mit dem System in Konflikt, ist aber selber ja auch keine positive Figur.

Bearbeitet von simifilm, 16 August 2011 - 09:08.

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#65 Konrad

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Geschrieben 16 August 2011 - 13:20

Was ich nun eine interessante Frage finde: Gibt es Dystopien, die ganz ohne diesen Rebellen auskommen? In denen die Kritik am System anders, mehr implizit formuliert wird? A Clockwork Orange geht ein bisschen in diese Richtung: Alex steht zwar auch mit dem System in Konflikt, ist aber selber ja auch keine positive Figur.

Der Rebell hat wohl eher eine dramaturgische Funktion.
Der Autor spielt mit der Hoffnung des Lesers auf Überwindung der dystopischen Zustände.
Der Rebell personalisiert und dramatisiert die Wertung des Autors und ermöglicht z.B. ein optimistisches Ende durch einen Umsturz.
Außer Dramen gibt es aber auch mehr beschreibende Formen, wie z.B. die Collage bei Brunners Morgenwelt.

#66 RobRandall

RobRandall

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Geschrieben 16 August 2011 - 14:26

Der Rebell hat wohl eher eine dramaturgische Funktion.
Der Autor spielt mit der Hoffnung des Lesers auf Überwindung der dystopischen Zustände.
Der Rebell personalisiert und dramatisiert die Wertung des Autors und ermöglicht z.B. ein optimistisches Ende durch einen Umsturz.
Außer Dramen gibt es aber auch mehr beschreibende Formen, wie z.B. die Collage bei Brunners Morgenwelt.


Kommt drauf an, wie du den Begriff "Dystopie" verstehst... :D In der Literaturwissenschaft wird dieser "Rebell" (Das muss er übrigens nicht sein - er kann sich zuletzt auch für die Anpassung entscheiden), als DAS GENREKONSTITUIERENDE MERKMAL aufgefasst. Wenn man das anders sieht (und einige Wissenschaftler tun das durchaus), so lassen sich schon im 19. Jahrhundert Dystopien finden. Der Konflikt zwischen Protagonist und Staat ist es, der überhaupt eine romanhafte Handlung ermöglicht (obwohl es auch Literaturwissenschaftler gibt, die behaupten, klassische Dystopien wären keine Romane). Wenn ich das recht verstehe, wird häufig die Auffassung vertreten, dass die Anti-Utopie einen anderen historischen Ursprung hat als die negativen Zukünfte der SF... problematisch wird es hier - das wurde aber auch schon angemerkt, weil die SF sich Dystopie und Utopie sozusagen angeeignet hat. Hier Unterscheidungen zu treffen ist kaum noch möglich...

Schön, dass der Experte noch mit an Bord gekommen ist.


Danke für die Begrüßung - aber ehrlich gesagt, ich bin weit davon entfernt, zu glauben, das Genre verstanden zu haben. Je mehr ich mich damit auseinandersetze, umso komplizierter und verwirrender wird es....

Der Protagonist ist hier deshalb wichtig, weil er überhaupt erst die Wertung einbringt. Aus der Sicht eines x-beliebigen Bürgers ist Brave New World im Grunde eine Utopie; es braucht schon den Unglücklichen Bernard Marx und später den Wilden, um die Fehlerhaftigkeit dieses Problems zu zeigen


Das stimmt für die klassischen Dystopien hundertprozentig. Deshalb fungiert der Protagonist auch als eine exemplarische Figur, die für den Leser Identifikationsmöglichkeiten bietet. Allerdings gibt es moderne Romane, die autoritäre oder totalitäre Gesellschaften der Zukunft schildern, die als "schlecht" wahrgenommen werden sollen und der Protagonist selbst ist ein Vertreter des Systems. Beispiele hierfür sind Heimann: Heile Welt an Rhein und Ruhr (erinnert noch am ehesten an die klassische Form), Sorokin: Der Tag des Opritschnik (eher eine utopische Satire auf Putins Russland) und ganz neu Frans Pollux: Tage der Flut (vermischt mit Elementen des Katastrophenromanes und des apokalyptischen Romanes). Die Gesellschaften selbst sind dystopisch... die Romane in ihrer Form (Genre) aber nicht. Hier übernehmen entweder die Nebenfiguren, die vom Protagonisten aus dem Weg geräumt werden die Funktion der Hauptfigur oder die krasse Überzeichnung - wie bei Sorokin.

Ich habe bislang bewusst den Begriff "Anti-Utopi" vermieden, da hier noch einmal ein eigenes Problem lauert: Anti-Utopie wird - wie Du ja sicher weisst - unterschiedlich verwendet. Oft ist es einfach ein Synonym für Dystopie, mancherorts werden Dystopie und Anti-Utopie aber auch klar unterschieden. Während sich die Anti-Utopie gegen das utopische Prinzip richtet, entwirft eine Dystopie eine möglichst schlechte Welt. Diese beiden Tendenzen können sich sehr wohl überlagern, müssen dies aber keineswegs tun.


Ich habe die Begriffe synonym gebraucht. Wenn man dystopisch auf die Bedeutung "schlechte" Zukunft reduzieren würde, wäre ich damit einverstanden... allerdings wird er so in der modernen englischen Literaturwissenschaft wohl überwiegend nicht (mehr) benutzt. Ich würde eine genauere Unterscheidung nach der Funktion der Werke wiklich gut finden - allerdings lässt sich auch hier, glaube ich, nicht sauber trennen. Deine Definition erinnert an die von Sargent, welche eine der möglichen ist :rolleyes:

Bearbeitet von RobRandall, 16 August 2011 - 14:31.


#67 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 16 August 2011 - 16:39

Wenn ich das recht verstehe, wird häufig die Auffassung vertreten, dass die Anti-Utopie einen anderen historischen Ursprung hat als die negativen Zukünfte der SF... problematisch wird es hier - das wurde aber auch schon angemerkt, weil die SF sich Dystopie und Utopie sozusagen angeeignet hat. Hier Unterscheidungen zu treffen ist kaum noch möglich...

Problematisch ist zudem, dass unter Science Fiction unterschiedliche Ausrichtungen subsummiert werden. Gernsback vertrat z.B. mehr die technische Richtung der Science Fiction. Vielleicht war das ein Grund, warum die SF lange Zeit eher als Darstellung von Technik begriffen wurde (?) Campbell hingegen bezog auch soziale Ideen ein. Und ob SF-Autoren, die Dystopien oder soziale (Miss)Verhältnisse beschrieben, sich der Utopie- bzw. Dystopietradition überhaupt bewusst waren? Also, ob die SF Utopie und Dystopie sich nicht nur angeeignet hat, sondern wieder selbst entwickelt hat?

Es gibt zudem Autoren, die kamen zur Science Fiction, weil es diesen Genrebegriff bereits gab, z.B. durch entsprechende Magazine. Andere haben SF geschrieben, ohne dieses Genre oder neue Literaturform zu kennen, etwa Paul Gurk: Tuzub 37 (das durchaus dystopisch daherkommt) von 1935. Auch in Gurks "Berlin" gibt es SF-ähnliche Szenen, in denen ein Wissenschaftler von Zukunftswaffen, Schutzschilden und ähnliches träumt. Einen zentralen Charakter, der durchgängig in "Tuzub 37" vorkommt, gibt es zudem nicht.

E. M. Forster: The Machine Stops (1909) bezog sich auf H. G. Wells. Forster sah seine Erzählung als eine Reaktion auf die positiven Entwürfe Wells' und auch als eine auf die Abhängigkeit durch Technologien. Hier könnte man konstruieren, dass diese Erzählung als Dystopie aus der Tradition der Science Fiction herrührt. (Sollte Wells als Vertreter der SF gesehen werden, The Machine Stops eine Dystopie sei etc. etc.). Nur so eine Idee, die ich noch gründlicher überdenken muss.

#68 Ulrich

Ulrich

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Geschrieben 16 August 2011 - 17:16

Dass es auf jeden Fall Verbindungen zwischen Satire und Dystopie gibt, habe ich ja bereits geschrieben.

Zum Beispiel Terry Gilliams "Brazil" (1985).

#69 Konrad

Konrad

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Geschrieben 16 August 2011 - 17:20

Kommt drauf an, wie du den Begriff "Dystopie" verstehst... :rolleyes: In der Literaturwissenschaft wird dieser "Rebell" (Das muss er übrigens nicht sein - er kann sich zuletzt auch für die Anpassung entscheiden), als DAS GENREKONSTITUIERENDE MERKMAL aufgefasst. Wenn man das anders sieht (und einige Wissenschaftler tun das durchaus), so lassen sich schon im 19. Jahrhundert Dystopien finden. Der Konflikt zwischen Protagonist und Staat ist es, der überhaupt eine romanhafte Handlung ermöglicht (obwohl es auch Literaturwissenschaftler gibt, die behaupten, klassische Dystopien wären keine Romane).

Hm, ich verstehe durchaus, daß man in einer Dystopie einen "Indikator" braucht, der die Auswirkungen des Systems sichtbar macht.
Aber muß dies unbedingt eine rebellische Person sein?
Kann es nicht vielleicht auch nur eine leidende Person sein? :D

#70 simifilm

simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 17:24

Hm, ich verstehe durchaus, daß man in einer Dystopie einen "Indikator" braucht, der die Auswirkungen des Systems sichtbar macht.
Aber muß dies unbedingt eine rebellische Person sein?
Kann es nicht vielleicht auch nur eine leidende Person sein? :rolleyes:


Einigen wir uns auf eine Figur, die mit dem System nicht zufrieden ist. :D Wie Du ja auch schreibst, hat diese Figur auch eine dramaturgische Funktion. Hier liegt auch der Grund, weshalb die Dystopie als Form so erfolgreich und praktisch mit der SF verschmolzen ist, während die Utopie im 20. Jahrhundert eine Randerscheinung bleibt. Durch den Protagonisten, der mit dem System nicht konform geht, ist ein Konflikt gegeben, der die Handlung antreibt. Die klassische Utopie dagegen kennt keinen Konflikt (und auch kein Individuum).

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#71 Konrad

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Geschrieben 16 August 2011 - 17:49

Problematisch ist zudem, dass unter Science Fiction unterschiedliche Ausrichtungen subsummiert werden. Gernsback vertrat z.B. mehr die technische Richtung der Science Fiction. Vielleicht war das ein Grund, warum die SF lange Zeit eher als Darstellung von Technik begriffen wurde (?) Campbell hingegen bezog auch soziale Ideen ein. Und ob SF-Autoren, die Dystopien oder soziale (Miss)Verhältnisse beschrieben, sich der Utopie- bzw. Dystopietradition überhaupt bewusst waren? Also, ob die SF Utopie und Dystopie sich nicht nur angeeignet hat, sondern wieder selbst entwickelt hat?

Ich glaube, die Absteckung der Grenzen der Dystopie ist noch lange nicht abgeschlossen.
In frühen SF-Romanen wurde ein "Utopos" häufig auf einen anderen Planeten verlegt, wobei aber jedem klar war, daß eine menschliche Gesellschaft gemeint ist.
Moderne Fremdweltdarstellungen habe aber immer häufiger eine andere Qualität, nämlich von menschlichen Eigenschaften stark abweichende konstituierende Faktoren.
Ich bin mir dann nicht immer ganz sicher, ob man überhaupt noch von einer Utopie oder Dystopie sprechen kann.

#72 Ming der Grausame

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Geschrieben 16 August 2011 - 17:50

Einigen wir uns auf eine Figur, die mit dem System nicht zufrieden ist. :rolleyes:

Warum versteifst du dich immerzu auf das System? Ersetze es einfach durch die Umstände und prompt wirst du erkennen, dass eine Dystopie durchaus alleine schon durch das Setting, woran niemand irgendetwas noch ändern kann und folglich auch eine Rebellion sinnlos wäre, denkbar ist. Und ja, solche Romane existieren durchaus, siehe Metro 2033/34 von Dmitri Gluchowski.
„Weisen Sie Mittelmäßigkeit wie eine Seuche zurück, verbannen Sie sie aus ihrem Leben.“

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#73 RobRandall

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Geschrieben 16 August 2011 - 17:54

E. M. Forster: The Machine Stops (1909) bezog sich auf H. G. Wells. Forster sah seine Erzählung als eine Reaktion auf die positiven Entwürfe Wells' und auch als eine auf die Abhängigkeit durch Technologien. Hier könnte man konstruieren, dass diese Erzählung als Dystopie aus der Tradition der Science Fiction herrührt. (Sollte Wells als Vertreter der SF gesehen werden, The Machine Stops eine Dystopie sei etc. etc.). Nur so eine Idee, die ich noch gründlicher überdenken muss.


Ich denke, dass das hier schon am Anfang nicht sauber getrennt werden kann. Wenn im 19. Jahrhundert die Raum-Utopien zu Zeit-Utopien werden, haben wir es ja möglicherweise (je nach Definition der SF) schon mit SF zu tun. Insofern frage ich mich, ob es überhaupt sinnvoll ist, davon zu sprechen, dass die SF sich die Utopie/Dystopie im 20. Jahrhundert angeeignet hat - vielleicht nur in dem Sinne, dass sie nach ihrer begrifflichen Geburt die entsprechenden alten Werke "einverleibt" hat.

Die klassische Utopie dagegen kennt keinen Konflikt (und auch kein Individuum).


Das ist, denke ich, ein sehr wichtiger Punkt.

Es gibt zudem Autoren, die kamen zur Science Fiction, weil es diesen Genrebegriff bereits gab, z.B. durch entsprechende Magazine. Andere haben SF geschrieben, ohne dieses Genre oder neue Literaturform zu kennen, etwa Paul Gurk: Tuzub 37 (das durchaus dystopisch daherkommt) von 1935. Auch in Gurks "Berlin" gibt es SF-ähnliche Szenen, in denen ein Wissenschaftler von Zukunftswaffen, Schutzschilden und ähnliches träumt. Einen zentralen Charakter, der durchgängig in "Tuzub 37" vorkommt, gibt es zudem nicht

Tuzub 37 kenne ich leider noch nicht, aber er steht auf meiner Liste :rolleyes:

#74 simifilm

simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:03

Warum versteifst du dich immerzu auf das System? Ersetze es einfach durch die Umstände und prompt wirst du erkennen, dass eine Dystopie durchaus alleine schon durch das Setting, woran niemand irgendetwas noch ändern kann und folglich auch eine Rebellion sinnlos wäre, denkbar ist. Und ja, solche Romane existieren durchaus, siehe Metro 2033/34 von Dmitri Gluchowski.


Ja, natürlich existieren solche Romane. In meinen Augen ist es einfach nicht sinnvoll, sie als Dystopie zu bezeichnen.

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#75 Konrad

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:20

Ja, natürlich existieren solche Romane. In meinen Augen ist es einfach nicht sinnvoll, sie als Dystopie zu bezeichnen.

Das könnte die Grenzfläche zum Horrorroman sein. :rolleyes:

#76 simifilm

simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:26

Kommt drauf an, wie du den Begriff "Dystopie" verstehst... :D In der Literaturwissenschaft wird dieser "Rebell" (Das muss er übrigens nicht sein - er kann sich zuletzt auch für die Anpassung entscheiden), als DAS GENREKONSTITUIERENDE MERKMAL aufgefasst. Wenn man das anders sieht (und einige Wissenschaftler tun das durchaus), so lassen sich schon im 19. Jahrhundert Dystopien finden. Der Konflikt zwischen Protagonist und Staat ist es, der überhaupt eine romanhafte Handlung ermöglicht (obwohl es auch Literaturwissenschaftler gibt, die behaupten, klassische Dystopien wären keine Romane).


Kannst Du dafür Beispiele nennen.

Wenn ich das recht verstehe, wird häufig die Auffassung vertreten, dass die Anti-Utopie einen anderen historischen Ursprung hat als die negativen Zukünfte der SF...


Ich bin jetzt nicht ganz sicher, auf was Du hier anspielst. - In der SF-Geschichtsschreibung gab und gibt es immer wieder Versuche, das Genre via berühmte Vorfahren zu nobilitieren. So wurde immer wieder behauptet die moderne SF (also das Genre, das unter Gernsback und später Campbell in den USA entstanden ist) stamme von der Utopie ab. Und das ist so sicher nicht richtig. Für das Golden Age waren andere Einflüsse weitaus wichtiger. Und während die typische Golden-Age-SF nur wenig Gemeinsamkeiten mit der klassischen Utopie aufweist, gibt es parallel ja eine Tradition, bei der der Rückbezug zu den utopischen Klassikern immer gegeben ist. E. E. Smith oder Burroughs stehen definitiv nicht in einer utopischen Tradition, H. G. Wells dagegen sehr wohl.

Das stimmt für die klassischen Dystopien hundertprozentig. Deshalb fungiert der Protagonist auch als eine exemplarische Figur, die für den Leser Identifikationsmöglichkeiten bietet. Allerdings gibt es moderne Romane, die autoritäre oder totalitäre Gesellschaften der Zukunft schildern, die als "schlecht" wahrgenommen werden sollen und der Protagonist selbst ist ein Vertreter des Systems. Beispiele hierfür sind Heimann: Heile Welt an Rhein und Ruhr (erinnert noch am ehesten an die klassische Form), Sorokin: Der Tag des Opritschnik (eher eine utopische Satire auf Putins Russland) und ganz neu Frans Pollux: Tage der Flut (vermischt mit Elementen des Katastrophenromanes und des apokalyptischen Romanes). Die Gesellschaften selbst sind dystopisch... die Romane in ihrer Form (Genre) aber nicht. Hier übernehmen entweder die Nebenfiguren, die vom Protagonisten aus dem Weg geräumt werden die Funktion der Hauptfigur oder die krasse Überzeichnung - wie bei Sorokin.


Lauter Titel, die auf die Leseliste kommen (ich bin ja eher im Film zu Hause).


Ich habe die Begriffe synonym gebraucht. Wenn man dystopisch auf die Bedeutung "schlechte" Zukunft reduzieren würde, wäre ich damit einverstanden... allerdings wird er so in der modernen englischen Literaturwissenschaft wohl überwiegend nicht (mehr) benutzt. Ich würde eine genauere Unterscheidung nach der Funktion der Werke wiklich gut finden - allerdings lässt sich auch hier, glaube ich, nicht sauber trennen. Deine Definition erinnert an die von Sargent, welche eine der möglichen ist :rolleyes:


Ich beharre nicht unbedingt auf dieser Definition (die definitiv von Sargent inspiriert ist). Es ist mehr so, dass ich den Begriff der Anti-Utopie eher vermeide, weil ich weiss, dass er mitunter sehr unterschiedlich verwendet wird.

Bearbeitet von simifilm, 16 August 2011 - 18:27.

Signatures sagen nie die Wahrheit.

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Alles Wissenswerte zur Utopie im nichtfiktionalen Film gibt es in diesem Buch, alles zum SF-Film in diesem Buch und alles zur literarischen Phantastik in diesem.
 

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#77 Ming der Grausame

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:27

Ja, natürlich existieren solche Romane. In meinen Augen ist es einfach nicht sinnvoll, sie als Dystopie zu bezeichnen.

Warum? Weil du unbedingt ein Rebell, wie der Protagonist V in Alan Moores „V wie Vendetta“, haben willst? Weil du Dystopie nur im gesellschaftstheoretischen Kontext sehen willst? Weil du Dystopie als literarische Gattung unzulässig verengen willst? „Matrix“ von Andy und Larry Wachowski wäre doch auch dann eine Dystopie gewesen, wenn es kein Anführer einer geheimnisvollen Untergrundbewegung, der den Decknamen Morpheus trug, gegeben hätte. Morpheus und Neo waren nämlich nur notwendig, um die Dystopie als solche zu entlarven. Aber selbst wenn man sie subjektiv nicht als Dystopie entlarvt hätte, wäre sie objektiv immer noch eine Dystopie. :rolleyes:
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#78 simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:30

Warum? Weil du unbedingt ein Rebell, wie der Protagonist V in Alan Moores „V wie Vendetta“, haben willst? Weil du Dystopie nur im gesellschaftstheoretischen Kontext sehen willst? Weil du Dystopie als literarische Gattung unzulässig verengen willst?


Was heisst schon "unzuverlässig verengen"? Keine Gattungsdefinition ist endgültig und jede Gattung verändert sich auch. Wenn Du die Dystopie unbedingt so weit fassen willst, dann tu das. Und vielleicht wird sich Dein Ansatz ja eines Tages durchsetzen.

Derzeit ist es aber wohl schon so, dass Dystopie enger verstanden wird. Und das scheint mir auch sinnvoll, weil es im Kern der utopischen/dystopischen Tradition immer um die Beschreibung eines Gemeinwesens geht. Wenn diese Komponente wegfällt, wird die Bezeichnung eigentlich überflüssig.

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#79 Ming der Grausame

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:37

Das könnte die Grenzfläche zum Horrorroman sein. ;)

Metro 2033 ist aber kein Horrorroman sondern ein dystopischer Roman. Am Atomkrieg, der weite Teile der Erde vollends verwüstete und auf unbestimmte Zeit vollkommen unbewohnbar machte, kann niemand irgendetwas ändern. Dass die Menschen nunmehr in der Metro leben müssen auch nicht, dafür ist die Reststrahlung zu massiv. Selbst der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung ist nicht mehr zu ändern, dafür ist der Mensch einfach zu selbstsüchtig. Es ist eben eine Geschichte, die in einer fiktiven Gesellschaft spielt, die sich zum Negativen entwickelt hat - eben eine Dystopie.
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#80 Ulrich

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Geschrieben 16 August 2011 - 18:58

Ich teile eher simifilms Ansicht, die sich auch durch meine Lektüre utopiewissenschaftlicher Lektüre deckt. Bei Metro 2033 und bei Metro 2034 ist das Setting dystopisch, vor allem geht es aber um die "Rette deine Heimatstation"-Handlung. Hingegen wird kaum thematisiert, dass die Schwarzen eine neue (utopische) Gesellschaft aufgebaut haben und Kontaktversuche zu den Menschen unternehmen. Der Gegensatz zwischen der Interpretation der neuen Ordnung an der Erdoberfläche wird nicht diskutiert. Für die Schwarzen ist es vermutlich eine utopische Gesellschaft, die Menschen sehen darin nur oberflächlichen Schrecken (Horror). Der Autor geht lediglich am Ende darauf ein, dass es eine Rettung für die Menschheit geben könnte, wenn sie mit den Schwarzen kooperieren. Für die Handlung spielt das eher keine Rolle.

#81 Ming der Grausame

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Geschrieben 16 August 2011 - 19:14

Der Autor geht lediglich am Ende darauf ein, dass es eine Rettung für die Menschheit geben könnte, wenn sie mit den Schwarzen kooperieren.

Ja, kurz nachdem sie den Feuerbefehl an die Raketenstellung durchgegeben haben und die Funkverbindung abbricht, wird Artjom sich darüber im Klaren. Das „Grillfest“ ist aber nicht mehr aufzuhalten - dumm gelaufen. ;)
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#82 RobRandall

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Geschrieben 16 August 2011 - 20:18

Kannst Du dafür Beispiele nennen.

Ich bin mir nicht genau sicher, worauf genau du dich beziehst. Ich zitiere aber mal aus Meyers Die anti-utopische Tradition: "Die Ansichten der Gattungszugehörigkeit der Anti-Utopie zum Roman sind in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert worden... Hartmut Weber ist in seiner Untersuchung über das literarische Vertextungsverfahren des anti-utopischen Romans diesem Phänomen nachgegangen. Er erwähnt unter anderem Irvin Howe, der... bezweifelt, dass man dieses Werk als Roman bezeichnen könne... andere Kritiker gehen von vornherein davon aus, dass es unangemessen sei, von dem Begriff "Roman" her an die Anti-Utopie heranzugehen..." Falls du dich auf das genrekonstituierende Merkmal bezogen hast - so gibt es hier eine Untersuchung von Hartmut Weber aus dem Jahre 1978 - erst in ihrer Folge wurde wohl dem Außenseiter als typischem Merkmal des Genres Beachtung geschenkt.

Für das Golden Age waren andere Einflüsse weitaus wichtiger. Und während die typische Golden-Age-SF nur wenig Gemeinsamkeiten mit der klassischen Utopie aufweist, gibt es parallel ja eine Tradition, bei der der Rückbezug zu den utopischen Klassikern immer gegeben ist. E. E. Smith oder Burroughs stehen definitiv nicht in einer utopischen Tradition, H. G. Wells dagegen sehr wohl.


Das ist es, was ich meinte. Die Versuche, moderne Utopietradition und SF zu trennen, sind höchst schwierig.

Ich beharre nicht unbedingt auf dieser Definition (die definitiv von Sargent inspiriert ist). Es ist mehr so, dass ich den Begriff der Anti-Utopie eher vermeide, weil ich weiss, dass er mitunter sehr unterschiedlich verwendet wird.


Leider ist das bei dem Begriff Dystopie genauso - wie sich ja auch an der Diskussion zeigt ;) Auch ich bin da offen - und weit enfernt davon, eine abschließende Definition geben zu wollen.

Bearbeitet von RobRandall, 16 August 2011 - 20:26.


#83 simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 20:58

Ich bin mir nicht genau sicher, worauf genau du dich beziehst. Ich zitiere aber mal aus Meyers Die anti-utopische Tradition: "Die Ansichten der Gattungszugehörigkeit der Anti-Utopie zum Roman sind in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert worden... Hartmut Weber ist in seiner Untersuchung über das literarische Vertextungsverfahren des anti-utopischen Romans diesem Phänomen nachgegangen. Er erwähnt unter anderem Irvin Howe, der... bezweifelt, dass man dieses Werk als Roman bezeichnen könne... andere Kritiker gehen von vornherein davon aus, dass es unangemessen sei, von dem Begriff "Roman" her an die Anti-Utopie heranzugehen..." Falls du dich auf das genrekonstituierende Merkmal bezogen hast - so gibt es hier eine Untersuchung von Hartmut Weber aus dem Jahre 1978 - erst in ihrer Folge wurde wohl dem Außenseiter als typischem Merkmal des Genres Beachtung geschenkt.


Ich meinte nicht Beispiele wissenschaftlicher Literatur; davon habe ich mehr als genug. http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/wink.png Ich meinte Beispiele für Dystopien des 19. Jahrhunderts (ohne Rebell).


Leider ist das bei dem Begriff Dystopie genauso - wie sich ja auch an der Diskussion zeigt ;) Auch ich bin da offen - und weit enfernt davon, eine abschließende Definition geben zu wollen.


Im Vergleich zu anderen Definitionsdiskussionen hier im Forum herrscht in diesem Thread schon eine fast unheimliche Einmütigkeit.

Es kann ja bei all diesen Diskussionen ohnehin nicht darum geben, die eine Definition zu finden. Eine Definition ist letztlich immer nur ein Werkzeug, die jeweils zu einem bestimmten Zweck entwickelt wird.

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#84 Ming der Grausame

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Geschrieben 16 August 2011 - 21:24

Ich meinte Beispiele für Dystopien des 19. Jahrhunderts (ohne Rebell).

Mary Shelleys „Frankenstein“ von 1818 fiele mir da spontan ein - und natürlich John Stuart Mill, der ja den Begriff Dystopia als Gegenentwurf zu Thomas Morus' Utopia geprägte hat. ;)
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#85 simifilm

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Geschrieben 16 August 2011 - 21:43

Mary Shelleys „Frankenstein“ von 1818 fiele mir da spontan ein


Inwieweit ist das eine Dystopie?

und natürlich John Stuart Mill, der ja den Begriff Dystopia als Gegenentwurf zu Thomas Morus' Utopia geprägte hat. ;)


Es its zwar richtig, dass sich bei Mill der erste Nachweis des Begriffs findet, Mill hat aber meines Wissens keinen Text geschrieben, der auch nur ansatzweise als Dystopie gelten kann.

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#86 Ulrich

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Geschrieben 16 August 2011 - 23:29

Ich meinte Beispiele für Dystopien des 19. Jahrhunderts (ohne Rebell).

Zuerst dachte ich an Ignatius Donnelly: Caesar's Column: A Story of the Twentieth Century (1890). aber darin gibt es ja auch eine Rebellion. ;)

Für das 20. Jahrhundert fällt mir noch der Film "Rollerball" (1975) ein. Die Hauptfigur Jonathan E. zeigt nur in Grenzen seinen Widerstand, fügt sich aber letztlich und tritt beim Spiel an. Wobei ich jetzt nicht weiß, was Jonathan zu den Regeländerungen gesagt hat und warum er sich nicht gewehrt hat. Genügend Popularität in der Bevölkerung genoss er schließlich (wodurch die Konzerne in ihm eine Gefahr sahen). Ist schon etwas her, als ich den Film sah.

Der Unterschied einer dystopischen Gesellschaft mit und ohne Rebell lässt sich gut an der Kurzgeschichte "The Prize of Peril" (1958) verdeutlichen. In der Kurzgeschichte wie auch in der Verfilmung "Das Millionenspiel" rebelliert die Figur nicht gegen das menschenverachtende Spielsystem. Bis zum Ende macht sie mit und hält sich an die Regeln. Anders hingegen in der Verfilmung "Le Prix du danger" oder auch in Stephens Kings "Running Man", dessen Roman stark Sheckleys Kurzgeschichte ähnelt.
Wobei "The Prize of Peril" einfach zu kurz ist, um ausführlich eine Dystopie zu beschreiben, es ist vor allem eine Satire. Und Kings Roman setzt mehr auf Action als eine reine Dystopie darzustellen.

Aber Dystopien des 19. Jahrhunderts ohne Rebell?

#87 RobRandall

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Geschrieben 17 August 2011 - 06:38

Ich meinte Beispiele für Dystopien des 19. Jahrhunderts (ohne Rebell).

Ein paar Titel zu Diskussion:

Ein Kandidat wäre Verne: Ein Tag im Leben eines amerikanischen Journalisten im Jahre 2889 - das ist aber noch weit weg von der klassischen Form und eine kurze Erzählung

In Wells "Wenn der Schläfer erwacht" kommt der Rebell von außen - bzw. die Rebellion ist eine Massenerscheinung

In Wells "Von kommenden Tagen" gibt es keinen Rebell - nur ein leidendes Liebespaar, das zwischendurch mal versucht außerhalb der Stadt zu leben.

#88 Konrad

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Geschrieben 17 August 2011 - 06:59

Aber Dystopien des 19. Jahrhunderts ohne Rebell?

Phantastische Reiseromane findet man sogar schon im 18.Jahrhundert.
http://www.scifinet....e...ost&p=78948

#89 simifilm

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Geschrieben 17 August 2011 - 07:17

Phantastische Reiseromane findet man sogar schon im 18.Jahrhundert.
http://www.scifinet....e...ost&p=78948


Die phantastische Reise ist sogar noch weit älter. Eigentlich gehen die mittelalterlichen Aventuiren fast nahtlos in die Reiseliteratur an exotische Orte der frühen Neuzeit über. Obwohl da oft schwer zu unterscheiden ist, inwieweit von realen Orten berichtet oder Erfundenes erzählt wird (die heutige Unterscheidung zwischen Fiktion und Tatsachenbericht war damals noch nicht etabliert). Die frühe utopische Literatur steht ja auch ganz klar in dieser Tradition. In Utopia berichtet ein Reisgefährte Amerigo Vespuccis von der Insel Utopia. Das ist kein Zufall, denn Vespuccis Reiseberichte aus der neuen Welt waren damals sehr populär und fanden zahlreiche Nachahmer. Dystopien sind das aber in der Regel nicht: Man trifft auf Ungeheuer oder paradiesische Zustände, in beiden Fällen wird aber kein Gesellschaftssystem beschrieben.

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#90 Konrad

Konrad

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Geschrieben 17 August 2011 - 07:33

Dystopien sind das aber in der Regel nicht.

Selten, aber durchaus vorhanden. ;)
Z.B. Bulwer-Lytton: Das kommende Geschlecht


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