Wissenschaft als gesellschaftlicher Kitt.
Nun ja, Religionen als "Kitt" der Gesellschaft war ja nur ein einzelnes zugespitztes Zitat in der Diskussion, das den differenzierteren Ausführungen nicht gerecht wurde - genau wie der etwas künstliche Gegensatz der "Wissenschaft" als Religionsersatz.
Genau genommen ging es ja eher darum, dass Religion als identitätsstiftendes Moment einer Gemeinschaft dient, dass sie geeignet ist, Ressourcen zu mobilisieren, größere Gruppen auf gemeinsame Ziele einzuschwören und Botschaften innerhalb dieser Gruppe zu befördern. All das tut "Wissenschaft" natürlich nicht - wohl aber kann man sich fragen, ob moderne Organisationsformen, Kommunikationsformen und säkulare Ideologien nicht diesen kulturellen Kernnutzen von Religion heutzutage genauso gut erbringen können.
"Wissenschaft" bezog sich, soweit ich das sehen kann, eher auf eine Konkurrenz für den individuellen Nutzen von Religionen als sinnstiftend und welterklärend, der mit dem kulturellen Nutzen ja zunächst mal wenig zu tun hat. Und da die Diskussion von der "Religion als Zivilisationsmotor" ausging, denke ich, sollte man sich auch auf den gesellschaftlichen Aspekt konzentrieren und nicht sämtliche Auswirkungen von Religion nur im Paket behandeln. Ich denke mal, genau wie Handy und Internet tragen auch Finanzwelt und Handel wenig zur Beantwortung tiefschürfender Fragen des Menschseins bei und stehen in dieser Hinsicht nicht in Konkurrenz zur Religion - die Wissenschaft aber durchaus. Wenn man sich mit Organisationsstrukturen befasst, sieht es genau umgekehrt aus.
wenn ich von einem Konkurrenzkamp der Kulturen spreche, gehe ich nicht nur implizit sondern ganz konkret von einem Wertesystem aus. Und in der Argumentation meint dann primitiv selten ganz nüchtern geringer komplex, sondern unterlegen.
Wertesysteme sind mir da ehrlich gesagt viel zu beliebig, um als Kriterium zu taugen. Wertesysteme reichen genau so weit wie die Stärke der Kulturen, die sie tragen - und selbst wenn man von einer "Wertigkeit der Wertesysteme" ausgeht, muss ich bei historischer Betrachtung doch feststellen, dass da nach meinem Empfinden ein Fortschritt stattgefunden hat. Was, vielleicht, schlichtweg daran liegt, dass unser Wertesystem am Ende dieser Entwicklung steht, demenstprechend aktuell ist und mir nur darum als "besser" erscheint, weil ich es zufällig teile. Vielleicht ist es ja nur meine persönliche Illusion, dass ich Menschenopfer, Sklaverei, Sippenhaft, Fremdenhass und all die anderen Werte, die in den letzten Jahrtausenden nicht nur - wie heute - stattfanden, sondern sogar offen gepflegte moralische Richtlinien waren, als weniger "gut" entwickelt ansehe als den ethischen Kanon, der sich heute herausgebildet hat.
Und, ja, ich halte auch nichts von einem kulturellen Egalitarismus, der künstlich versucht, alle Kulturen gleich zu "werten". Ich halte es für gänzlich weltfremd, eine kulturelle Entwicklung abzustreiten - selbst heutige steinzeitliche Kulturen haben eine Jahrtausendelange kulturelle Entwicklung hinter sich und sind definitiv nicht mehr auf demselben Stand wie unsere Vorfahren, selbst wenn sie nicht denselben technologischen Weg eingeschlagen haben wie wir. Und ich kann auch keine Kultur als gleichwertig erachten, die nur dadurch überleben kann, dass ihre Nachbarn sich freundlicherweise einigen, diese Kultur zu schützen und in Ruhe zu lassen und nach Möglichkeit eine Glasglocke darüber zu erichten. Sorry, aber Kulturen, die von anderen Kulturen unter Artenschutz gestellt werden müssen, sind eindeutig
nicht auf einem gleichwertigen Stand, und es kann kein erstrebenswertes Ziel kultureller Entwicklung sein, von der Gnade seiner stärkeren Zeitgenossen abhängig zu sein. Weder für einzelne Menschen noch für Kulturen, in denen sie leben.
Ich würde also durchaus Begriffe wie "unterlegen" gebrauchen - wenn auch nicht im Zusammenhang mit "Primitivität", sehr wohl aber im Zusammenhang mit "kultureller Evolution". Und diese "Unterlegenheit" würde ich - aus oben genannter Problematik heraus - auch nicht moralisch definieren wollen, sondern strikt materiell. Unterlegene Kulturen können weniger Ressourcen mobilisieren als ihre Konkurrenten, und sie entwickeln auch weniger "Strahlkraft" in dem Sinne, dass sie andere Kulturen auch ohne unmittelbare Einwirkung durch ihr bloßes Vorbild beeinflussen. Wie bei jeder Evolution ist das natürlich keine Entwicklung mit einem Endpunkt, sondern immer nur eine Momentaufnahme - die unterlegene Kultur ist halt diejenige, die unter den gegenwärtigen Umständen ins Hintertreffen gerät.
Aber die Zeit geht auch selten rückwärts, und es kommt kaum vor, dass eine einmal unterlegene Kultur sich plötzlich als stärker erweist - sehr wohl kann es aber sein, dass eine zeitweise materiell unterlegene Kultur sich in ihrer Weiterentwicklung als zukunftsträchtiger erweist, während eine zeitweise überlegene Kultur in eine Sackgasse gerät. Ich würde also sagen, das System ist ständig im Fluss, und das ist auch der Hintergrund, wo ich einräumen würde, dass Religion als kulturelle Organisationsform noch keineswegs vom Tisch ist. Aber vor diesem Hintergrund und aus reinem Gutmenschentum die Augen selbst vor temporären Unterschieden und Unterlegenheiten zu verschließen und sich in unreflektiertem Egalismus zu verlieren, oder in ach so modischer Zivilisationskritik - da fehlt mir, ehrlich gesagt, das empirische Element, mit dem man solche Gedanken jenseits romantischer Empfindungen erden kann.
Nur darf man fragen, ob ein Sytem, welches auf Wissenschaft aufbaut und ein Potential erschaffen hat, welches die Weltbevölkerung x-mal auslöschen kann, welches mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen so verschwenderisch umgeht, dass die kommenden zwei Generationen vor dem Nichts stehen ...
Ehrlich gesagt, das ist auch eine Argumentationslinie, mit der ich so gar nichts anfangen kann. Es ist wohl das, was der Engländer als "angsty" bezeichnet. Denn, nüchtern betrachtet, geht die Menschheit ohnehin auf ihren Untergang zu, ob sie sich nun selbst in die Luft bläst oder so lange ressourcenschonend auf ihrer Scholle hockt und die Generationen dahintröpfeln lässt, bis die Umweltbedingungen sich von selbst so ändern, dass das nächste Massensterben einsetzt, dem die Menschheit mit ihrem dann erreichten bescheidenen Ressourcenaufkommen nicht gewachsen ist.
Ob das, was wir heute als Missstände wahrnehmen tatsächlich vermeidbar war oder eine notwendige Begleiterscheinung der Entwicklung, weil der Mensch sich halt nicht anders organisieren kann, wird man erst im Nachhinein wissen. Dazusitzen, die Ressourcen langsamer zu verbrennen und irgendwann unterzugehen, weil man nie den über die Existenzerhaltung notwendigen Mehrwert produziert hat, der nötig ist, um neue Resssourcen und Überlebensmöglichkeiten zu erschließen, wäre jedenfalls auch keine Alternative.
Mit Religion hat das, zugegeben, wenig zu tun. All das funktioniert in religiösen Strukturen so gut wie in säkularen - auch die islamische Republik Iran bastelt ja an ihrer Bombe

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Zum Thema "die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft" trägt der Themenkomplex nur dann bei, wenn man Religion tatsächlich vor allem dadurch definieren will, dass sie sich
gegen die Wissenschaft aufstellen will, gegen empirische Wahrheiten und im Dienste einer rein idealistischen, weltanschaulichen Ausrichtung. In dem Falle würde ich Religion dann tatsächlich als eher schädlichen Faktor ansehen. Denn als Hort, um Wunschvorstellungen durchzusetzen und die materiellen Gegebenheiten dabei möglichst zu übersehen, kann Religion durchaus auch die wertigen Ziele, die sie sich auf diese Weise zu eigen macht, diskreditieren und ihnen letztendlich schaden. Da hat zuletzt ja der real existierende Sozialismus gezeigt, wie sehr man auch möglicherweise berücksichtigenswerte Erwägungen vor die Wand fahren kann, wenn man sie nur fest genug in einen dysfunktionalen Rahmen einbaut und damit stur geradeaus fährt, ohne auf die Straße zu achten ...
Die Frage wäre: Sind Religionen besonders anfällig für derartige ideologische Amokfahrten? Schwärmerische Bewegungen aller Art kennt die Geschichte ja genug. Ich würde sagen, in der Regel wurden sie auch bei religiös orientierten Gesellschaften schnell genug ausselektiert, aber bei manchen religiös motivierten Exzessen bin ich mir nicht sicher, inwiefern da solche Dinge eine Rolle spielen und inwiefern es sich tatsächlich um potenziell im gegebenen zeitlichen Rahmen sinnvolle, wiewohl unschöne Kraftanstrengungen handelt.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)