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Bedeutung von Religion & Wissenschaft als "Kitt" der Gesellschaft


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70 Antworten in diesem Thema

#31 simifilm

simifilm

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Geschrieben 01 März 2010 - 14:38

Hallo,



Dann kann ich auch behaupten, Religion ließe sich wirklich nur erklären, wenn man glaubt, denn wissenschaftliche Kategorien wie Sozialsytem, manipulative Rhetorik, Identitätsstiftend erklären in der Wissenschaftssprache nicht, was es heißt, zu glauben.


Überhaupt nicht. Wenn ich verstehen will, warum Menschen dazu kamen, andere Leute als Hexen zu verdächtigen, muss ich nachvollziehen können, wie die Leute damals getickt haben. Tue ich das nicht, ist die Erklärung für Hexenverbrennungen so einfach wie falsch: die Leute waren damals eben dumm und böse. Das waren sie aber nicht, sie lebten einfach einer sehr anderen Welt. Und wenn ich mich bemühe, diese Welt nachzuvollziehen, merke ich ja vielleicht, dass Hexenprozesse gar nicht unbedingt das Werk einiger weniger besonders bösartiger Gesellen waren, sondern eine Praxis, die Teil eines ganzes Weltbilds war. Und wenn ich dann sehe, dass diese Weltbild von den meisten Menschen geteilt wurde, werden die heutigen moralischen Kategorien doch sehr heikel.

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#32 Vincent Voss

Vincent Voss

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Geschrieben 01 März 2010 - 15:00

Hallo, Natürlich ließe sich das dann sehen. Das lässt sich ja auch herausarbeiten, ohne dass du ethische Methoden heranziehst. Aber was kommt dann? Ein Vergleich zur Modernen ohne Bewertung? Eine Kosten-Nutzen-Analyse? Für was? Wenn ich das also erarbeitet habe, kann ich sagen: Ja, so war das damals, das haben alle gemacht. Und dann? Und wie ist es mit aktuellen Konflikten? Der relativistischen Position nach muss man also Verständnis für Völkermord haben, wenn einem alle Determinanten bekannt sind und man erkennen kann, dass alle Akteure ihrem System nach schlüssig handeln? Und nun geht es zum Fußball... Lieber Gruß

#33 simifilm

simifilm

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Geschrieben 01 März 2010 - 15:20

Hallo,

Natürlich ließe sich das dann sehen. Das lässt sich ja auch herausarbeiten, ohne dass du ethische Methoden heranziehst. Aber was kommt dann? Ein Vergleich zur Modernen ohne Bewertung? Eine Kosten-Nutzen-Analyse? Für was?


Wenn ich herausarbeiten kann, warum etwas so geschehen ist, wie es geschehen ist, ist das grundsätzlich mal eine Erkenntnis an sich; was Du mit dieser Erkenntnis machst, ist zuerst Deine Sache. Es kann auf jeden Fall nicht die Aufgabe des Historikers, das alles zu werten; denn eben: sonst kommt schnell raus, dass die Menschen früher alle dumm und böse waren.

Wenn ich das also erarbeitet habe, kann ich sagen: Ja, so war das damals, das haben alle gemacht. Und dann?
Und wie ist es mit aktuellen Konflikten? Der relativistischen Position nach muss man also Verständnis für Völkermord haben, wenn einem alle Determinanten bekannt sind und man erkennen kann, dass alle Akteure ihrem System nach schlüssig handeln?


Abgesehen davon, dass ich nicht einem absoluten Relativismus das Wort spreche, würde ich hier tatsächlich einen grundlegenden Unterschied zwischen weiter zurückliegender und "näherer" Geschichte sehen.

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#34 Lomax

Lomax

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Geschrieben 01 März 2010 - 16:11

Dass man als Individuum eine Wertung vornimmt, dass man beispielsweise über die Brutalität bei den Verhören vermeintlicher Hexen im Mittelalter schockiert ist, lässt sich wohl kaum vermeiden

Schockiert zu sein oder auch das Verhalten als ethisch fragwürdig zu empfinden ist zunächst mal eine persönliche Empfindung. Problematisch wird sie dann, wenn man sie als Instanz in seine historische Betrachtung miteinfließen lässt.
Nehmen wir an, man findet heraus, dass Hexenverfolgung einen ökonomischen Nutzen für die Gesellschaft hatte und dementsprechend für die Gemeinschaft nützlich war (ich sag jetzt mal nicht, dass es so war - ich illustriere damit nur die Unterschiede zwischen ethischer und rein kausaler Betrachtung). Wenn ich nun eine ethische Perspektive miteinfließen lasse, komme ich nicht umhin, Hexenverfolgungen als "schlecht" einzustufen und gerate damit leicht in Widerspruch zu einem beobachtbaren kausalen Nutzen - und damit in Versuchung, "weil nicht sein kann was nicht sein darf", die Erkenntnis einer gesellschaftlichen Nützlichkeit der Hexenverfolgung wegzudiskutieren und damit ein ganzes Fass voller methodisch fragwürdiger Praktiken aufzumachen, um die ethische Integrität der Geschichte zu erhalten - obwohl das gar nicht nötig wäre und zum Verständnis der Zusammenhänge nicht beiträgt. Ich gerate in Versuchung, nicht mehr ergebnisoffen zu forschen.
Damit erziele ich aber nicht einmal einen moralischen Nutzen. Im Gegenteil, wenn ich eine konkrete, nützlich erscheinende Ursache für ein unerwünschtes Ereignis wie "Hexenverfolgung" in der Geschichte finde und versuche, die Sinnzusammenhänge so zu verschieben, dass die unerwünschte Kausalität möglichst verschleiert wird, dann verhindere ich auch den Transfer der Erkenntnis - sprich, wenn es irgendwann darum geht, einen ethisch einwandfreien Kurs in unserer Gegenwart zu finden, dann übersehe ich in einem "nützlich" erscheinenden Phänomen womöglich eine ethische Bedrohung, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass aus etwas "nützlichem" etwas "schlechtes" entstehen kann ... denn genau solche Präzedenzfälle habe ich ja in der Geschichte möglichst nicht zur Kenntnis genommen.

Was, denke ich, auch hilft, diesen Einwand an die richtige Position zu rücken: "Nur nicht in dem Punkt, wo es darum geht, Ethik aus realen Sach- und Sinnbezügen auszuklammern, weil sie entbehrlich wird." Ich sehe halt nicht, was es einem nützt, sich über das Wünschenswerte Gedanken zu machen, solange man nur theoretisch Kausalitäten und mögliche Entwicklungen analysiert. Man risiert dabei nur, dass einem die Ideale den Blick für praktische Konsequenzen verstellen und dass man damit dann, wenn die Ethik tatsächlich gefragt ist - nämlich bei praktischen Entscheidungen - aufgrund einer idealisierten Analyse eine Entscheidung trifft, die auch ethisch nicht optimal ist. Nicht umsonst ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Nimmt man die guten Vorsätze weg und behält sie im Kopf statt vor den Augen, sieht man den Weg vielleicht klarer :)
Die Überlegung vom Ausklammern der Ethik aus realen Sach- und Sinnbezügen ist im übrigen nicht nur theoretisch. Ganz konkret fällt mir beispielsweise das System von gesellschaftlichen Tabus und "politisch korrekter Formulierung" ein, das meines Erachtens nach in der Praxis allzu oft dazu führt, dass Problemzusammenhänge nicht angemessen formuliert und damit auch nicht im Diskurs sachgerecht betrachtet werden können - als würden unangenehme Dinge verschwinden, wenn man nur nicht hinschaut.

..., würde ich hier tatsächlich einen grundlegenden Unterschied zwischen weiter zurückliegender und "näherer" Geschichte sehen.

Ich persönlich halte diesen Unterschied nicht wirklich für zielführend. Allerdings auch nicht für vermeidbar - darum endete mein Geschichtsstudium beim "napoleonischen Zeitalter". Der Rest ist keine Geschichte mehr, sondern Politik ;)
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)

#35 Vincent Voss

Vincent Voss

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Geschrieben 01 März 2010 - 18:39

Hallo, ich sehe keinen allgemeingĂĽltigen kausalen Nutzen darin, eine Frau zu verbrennen. Wo siehst du ihn? Lieber GruĂź

#36 Lomax

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Geschrieben 01 März 2010 - 20:35

ich sehe keinen allgemeingĂĽltigen kausalen Nutzen darin, eine Frau zu verbrennen. Wo siehst du ihn?

Keine Ahnung. Aber ich sehe einen allgemeingültigen Nutzen darin, keinen Tunnelblick zu entwickeln, wenn ein moralisches Problem auftritt, sondern dennoch den gesamten Sinn- und Abhängigkeitszusammenhang wahrzunehmen, in dem ein Sachverhalt eingebettet ist - beispielsweise auch den Satz, in dem ich geschrieben hatte "ich sag jetzt mal nicht, dass es so war". :thumb:
Die Zielsicherheit, mit der du das moralische Problem aus dem Beispiel rausgepickt hast und die Beschäftigung mit der aufgeworfenen Frage und dem gesamten Kontext vermieden, nehme ich jetzt mal als Illustration für die blinden Flecken, die typischerweise entstehen, wenn man bei dem Versuch, Zusammenhänge zu erkennen, schon mit moralischer Betroffenheit an die Analyse geht.

Mir persönlich wäre es wichtiger, wenn ich mich mit Hexenverfolgung beschäftige, wie es dazu kam, wie es ablief, was für gesellschaftliche Gegebenheiten daran beteiligt waren, was dagegen stand und wie der Widerstand beseitigt wurde.
Wenn man das Phänomen auf diese Weise betrachtet, entdeckt man interessante, sich wiederholende Mechanismen - beispielsweise, dass jede Gesellschaft regelmäßig ihre "Hexenverfolgungen" entwickelt: eine irrationale Angst vor besonders tückischen, schwer nachweisbaren "Verbrechen", die in das scheinbar sichere "Haus" hineingreifen, die die Sicherheit im Umgang mit den vertrautesten Personen untergraben, weil jeder ein Täter sein kann, die allgegenwärtig erscheinen und die darum extreme Gegenmaßnahmen provozieren ... und bei denen regelmäßig die Verfolgung überhaupt erst eine "Masse" an Verbrechen und eine "Allgegenwärtigkeit" produziert. Dafür war in der Historie, neben der Angst vor "Hexerei", die in Wellen auftrat, immer auch der "Giftmord" gut, der auch seine Wellen hatte.
Wenn man hingegen vor allem denkt: "Oh Gott, da wurden Frauen verbrannt - da muss ich gar nicht genauer hinschauen, ich weiß ja, was ich davon zu halten habe" ... dann wird man die zugrundeliegenden Muster übersehen und vermutlich auch entsprechende Strömungen in der heutigen Gesellschaft erst dann wahrnehmen und darauf reagieren, wenn hier auch schon Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Aber da sich Geschichte selten 1:1 wiederholt, merkt man vergleichbare Mechanismen in seinem eigenen Umfeld wahrscheinlich gar nicht. Und damit hätten dann die ethischen Scheuklappen beim Blick in die Geschichte verhindert, dass man selbst eine ethische Position zu den "Hexenjagden" einnehmen kann, die man womöglich hätte verhindern oder zumindest beeinflussen können ;)

Hm - wenn ich deinen Einwand nun genauer analysiere, finde ich nun doch eine gewisse Stringenz in deiner Argumentationslinie und auch in deiner Polarisierung von Religion/Wissenschaft.
Astronomie beispielsweise würde ich lieber mit dem Gedanken betreiben, die Bahn der Gestirne vermessen zu können, als mit dem primären Ziel, mir zu überlegen, was es nun über die Gläubigkeit des Astrologen aussagt, dass er sich mit Astronomie beschäftigt und die-und-die Theorie über die Bahn der Gestirne zur Diskussion stellt. Nun muss ich allerdings feststellen, dass es mir schwerfällt, in der Stoßrichtung deiner letzten Antwort einen formalen Unterschied zum letzteren Ansatz zu erkennen - nur dass es halt um Hexenverfolgung statt um Astrologie ging, und dass du die ethische an die Stelle der konkret-religiösen Betrachtungsweise gesetzt hast.
Ich habe also das Gefühl, es ist im Grunde ein religiöses Weltdeutungsmuster, dass in deiner Methodik zum Ausdruck kommt - nur eben, wie gesagt, dass dabei ein abstrakteres Ethik- und Wertesystem an die Stelle religiöser "Glaubenssätze" rückt. Und vermutlich ist das auf Basis deiner Prämissen nicht einmal ein Fehler oder etwas, was du als problematisch ansehen würdest, weil du ja schon in einem Einstiegsposting in die Diskussion einen Primat der wissenschaftlichen Weltsicht gegenüber der religiösen in Frage gestellt hast.
Vor dem Hintergrund muss ich eigentlich einräumen, dass in dem Falle deine Argumentation in sich stimmig ist und ich vermutlich keine Argumente dagegen habe - und dass unsere Meinungen vermutlich schon auf Basis der elemantarsten Paradigmen auseinanderlaufen und Gemeinsamkeiten in konkreten Einschätzungen wohl eher Zufall sind :band:
Damit habe ich dann wohl meinerseits deine erste Aussage illustriert, wie die Wissenschaft heutzutage die Deutungshoheit über jeden Diskurs beansprucht. Auf Basis der Methodik kann ich mir ehrlich gesagt aber auch keinen nicht-wissenschaftlichen Ansatz vorstellen, der aus meiner Perspektive eine irgendwie sinnvolle Bechäftigung mit Zusammenhängen eröffnen würde.
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#37 Vincent Voss

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Geschrieben 01 März 2010 - 21:09

Hallo,

ich schreibe an keiner Stelle, dass man sich Phänomene nicht genau anschauen soll. Auch sehe ich nicht, dass ein ethischer Blick (so ganz gefällt mir der Begriff nicht) gegenüber einem technischen Blick an Trennschärfe verliert. Vielmehr bereichert er ihn.

Ich gehe davon aus, dass sowohl der technische, wie auch der ethische Blick folgende Schlussfolgerung zulässt:

...entdeckt man interessante, sich wiederholende Mechanismen - beispielsweise, dass jede Gesellschaft regelmäßig ihre "Hexenverfolgungen" entwickelt: eine irrationale Angst vor besonders tückischen, schwer nachweisbaren "Verbrechen", die in das scheinbar sichere "Haus" hineingreifen, die die Sicherheit im Umgang mit den vertrautesten Personen untergraben, weil jeder ein Täter sein kann, die allgegenwärtig erscheinen und die darum extreme Gegenmaßnahmen provozieren ... und bei denen regelmäßig die Verfolgung überhaupt erst eine "Masse" an Verbrechen und eine "Allgegenwärtigkeit" produziert.


In der Analyseleistung, die nun anstehen müsste, stellt sich mir die Frage, was nach deiner Argumentation ein Ergebnis ist. Nach meiner Lesart deiner Argumentation gibt es hier jetzt Gruppen, die Vorteile und Nachteile aus dieser Situation ziehen. Und eine Gruppe setzt sich aufgrund ihrer Fähigkeiten durch. Und die andere verliert. Punkt.

Eine moralische Bewertung der Situation weniger während als vielmehr nach der Analyse auf Basis universeller Prinzipien überführt das Ereignis als Erfahrung ins kollektive Gedächtnis. Wechselwirkend mit den Prinzipien. Und sorgt für einen verantwortungsvollen Umgang der Überlegenheit, die du in meinen Augen meinst (für mich nach wie vor Macht) auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Lieber GruĂź

Bearbeitet von Vincent Voss, 01 März 2010 - 21:10.


#38 Lomax

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Geschrieben 01 März 2010 - 22:17

In der Analyseleistung, die nun anstehen müsste, stellt sich mir die Frage, was nach deiner Argumentation ein Ergebnis ist. Nach meiner Lesart deiner Argumentation gibt es hier jetzt Gruppen, die Vorteile und Nachteile aus dieser Situation ziehen. Und eine Gruppe setzt sich aufgrund ihrer Fähigkeiten durch. Und die andere verliert. Punkt.
Eine moralische Bewertung der Situation weniger während als vielmehr nach der Analyse auf Basis universeller Prinzipien überführt das Ereignis als Erfahrung ins kollektive Gedächtnis. Wechselwirkend mit den Prinzipien. Und sorgt für einen verantwortungsvollen Umgang der Überlegenheit, die du in meinen Augen meinst (für mich nach wie vor Macht) auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Hm, diese beiden Aussagen widersprechen sich nach meiner Einschätzung nicht. Ich würde allerdings davon ausgehen, dass Absatz zwei Teil der "Situation" ist, die in die Selektion nach Absatz 1 miteinfließt.

Eine kleine Unschärfe ergibt sich durch deine Wortwahl von den "Gruppen". Es ist wahr, dass Religion und die Strukturen, über die wir geredet haben, letztendlich innerhalb von Gruppen wirksam wird. Zwischenzeitlich hatten wir allerdings auch von "Kulturen" geredet, und die können durchaus eine von den konkreten Gruppen losgelöste Entwicklung nehmen. Gewinnen und Verlieren sieht nicht notwendigerweise so aus, dass die Verlierer verschwinden, sondern es sind durchaus graduell abgestufte Ergebnisse von "Einfluss" denkbar ... an temporärem materiellen Einfluss in Bezug auf Ressourcen und Ausbreitung, aber auch an langfristigem Einfluss auf die Entwicklung von nachfolgenden Gruppen und Kulturen.
Und, wie oben gesagt, strukturell überlegene Kulturen können sogar dann gewinnen und nachfolgende Kulturen maßgeblich prägen, wenn die physischen Gruppen, die diese Kultur ursprünglich etabliert haben, längst "verloren" haben und in die Bedeutungslosigkeit abgesunken sind.

Bearbeitet von Lomax, 01 März 2010 - 22:19.

"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)

#39 Vincent Voss

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Geschrieben 01 März 2010 - 22:28

Hallo, gut, dem stimme ich inhaltlich zu. An der Sprache stoĂźe ich mich nach wie vor, weil "Gewinnen" und "Verlieren" immer eine teleologische Absicht implizieren. Lieber GruĂź

#40 Traum3

Traum3

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Geschrieben 01 März 2010 - 23:19

Um mich hier mal ganz frech einzuschalten, schreibe ich mal meine Meinung zu der Frage nach der Funktion von Religion. Da halte ich es im wesentlichen mit Niklas Luhmann, der Religion als Kontingenzformel beschreibt. Das heißt, dass die Religion alle nicht erklärbaren Sinnzusammenhänge aufnehmen und deuten kann. Damit käme ihr im wesentlichen die Funktion der Sinnstiftung zu. Darum ist es auch erst in der "aufgeklärten" Welt so vielen Menschen möglich Atheist zu sein. Denn die Wissenschaft bedient neuerdings viele Fragen nach Zusammenhängen. Seit neustem ist sogar bekannt, dass man gar nicht alles wissen und verstehen muss :-P. Alle übrigen Erscheinungen sind mMn. kulturellen Ursprungs. Z.B. die Entstehung starker Kirchen ist aus der Erfahrung entstanden, aus metapysischer Deutung reale Machtverhältnisse kreieren zu können. Traditionen, Feste, die Pflege des Wissens usw. sind menschliche Bedürfnisse, die auch ohne Religion bestehen. Nichtsdestsotrotz will ich die postmoderne Fahne hochhalten und auf den blinden Fleck der eigenen Sichtweise hinweisen. Das ist halt nur mein Weltbild :-).

#41 Amtranik

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Geschrieben 02 März 2010 - 00:32

Um mich hier mal ganz frech einzuschalten, schreibe ich mal meine Meinung zu der Frage nach der Funktion von Religion. Da halte ich es im wesentlichen mit Niklas Luhmann, der Religion als Kontingenzformel beschreibt. Das heißt, dass die Religion alle nicht erklärbaren Sinnzusammenhänge aufnehmen und deuten kann. Damit käme ihr im wesentlichen die Funktion der Sinnstiftung zu. Darum ist es auch erst in der "aufgeklärten" Welt so vielen Menschen möglich Atheist zu sein. Denn die Wissenschaft bedient neuerdings viele Fragen nach Zusammenhängen. Seit neustem ist sogar bekannt, dass man gar nicht alles wissen und verstehen muss :-P.
Alle übrigen Erscheinungen sind mMn. kulturellen Ursprungs. Z.B. die Entstehung starker Kirchen ist aus der Erfahrung entstanden, aus metapysischer Deutung reale Machtverhältnisse kreieren zu können. Traditionen, Feste, die Pflege des Wissens usw. sind menschliche Bedürfnisse, die auch ohne Religion bestehen. Nichtsdestsotrotz will ich die postmoderne Fahne hochhalten und auf den blinden Fleck der eigenen Sichtweise hinweisen. Das ist halt nur mein Weltbild :-).


Starkes Statement :band:

#42 Lomax

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Geschrieben 02 März 2010 - 02:44

Z.B. die Entstehung starker Kirchen ist aus der Erfahrung entstanden, aus metapysischer Deutung reale Machtverhältnisse kreieren zu können.

Den Faktor "Erfahrung" möchte ich insofern relativieren, als es doch Hinweise gibt, dass religiöse Praxis schon in ihren einfachsten Formen und unreflektiert anfängt, einen rein praktischen Nutzen für die Gemeinschaft über individuelle Sinnstiftung und metaphysische Fragen hinaus zu entwickeln.
Wenn ich es recht sehe, hat mein ursprünglicher Post zu dem Thema es nicht bis in den abgespaltenen Thread geschafft: Dass ich auf diese soziale Funktion von "Religion" nicht zuerst im Geschichtsstudium gestoßen bin, sondern vorher schon in Modellen der Agententheorie in der Informatik. Wenn man dort Elemente implementiert, die von der materiellen Stellung her "Heiligtümern" vergleichbar sind, lässt sich eine Steigerung der Leistungfähigkeit der simulierten Gemeinschaft erzielen - was zumindest nahe legt, dass religiöse Praktiken schon auf unterster Stufe, ohne Verbindung mit einer "metaphysischen Deutung" (für die in solchen Simulationen und mit den beschränkten Agenten gar kein Platz wäre) und vor allem auch ohne bewusste Anwendung oder Erfahrung auch materiell nutzbare Strukturen schaffen.

Was die gut strukturierten modernen Kirchen angeht, liegt ihnen sicher ein Prozess zugrunde, in dem dann auch bewusste Gestaltung und Erfahrung eingeflossen ist. Aber ich hätte dementsprechend meine Zweifel bei der Feststellung, dass der kulturelle und gesellschaftliche Effekt von Religionen ein nachgeordneter Effekt ist, ein Transfer, der erst erbracht werden musste, damit eine zunächst nur müßig spekulierende Protoreligion plötzlich auch die Erwerbs- und Machtstrukturen einer Gruppe beeinflusste.
Das Problem bei der Beantwortung dieser Frage ist natürlich, dass schon der Begriff "Religion" ein vernetzteres System beschreibt, dem irgendetwas vorangegangen sein muss. Wenn man nun fragt, ob Traditionen etc. ohne Religion möglich sind, ob Sinnfragen oder materiell wirksame Handlungen oder etwas anderes am Anfang der "Religion" standen, wird das Ergebnis vermutlich von den beobachtbaren Phänomenen weniger beeinflusst als davon, ab wann man diese Vorgänger von Religion als "religiös" einstuft. Abgesehen davon, dass die "Beobachtbarkeit" in diesem Zusammenhang auch nur sehr theoretisch ist, weil die Anfänge nun mal nicht mehr beobachtbar sind :band:
Die Frage nach dem Ursprung von Religionen ist also wohl tatsächlich - mehr noch als die Frage nach ihren Auswirkungen - vom individuellen Weltbild abhängig.
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#43 Traum3

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Geschrieben 02 März 2010 - 07:58

Ich frage mich gerade, wie man Computern beibringt, was Heiligtümer sind? Und ehrlich gesagt finde ich darauf auch keine Antwort. Außerdem finde ich es auch komisch der Religion die Fähigkeit zuzusprechen, die Effektivität der Gesellschaft zu steigern. Halte ich für schwer beweisbar. Unter Religion verstehe ich soziale Konstrukte, die zwischen profanem und heiligem unterscheiden. Das ist die weitest mögliche Definition, sie macht es aber möglich weniger dominaten Glaubensrichtungen (auch sowas wie indianische Naturreligionen, Polytheismus, Satanismus...) den Religionsstatus zu verleihen. Somit fällt es mir auch leicht zu behaupten, dass es Religion schon immer gegeben hat, genau wie Macht. Ihr zusammentreffen war dann nur noch eine Frage der Zeit. Die Frage nach einem Vorher stellt sich hier im grunde nicht.

#44 molosovsky

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Geschrieben 02 März 2010 - 09:11

@Lomax: Ganz kurz nur. Die Ästhetik des Stahlbetons ist ja auch schon Relikt und Ausdruck einer Vergangenheit, die geistik/kulturell gar nicht so weit weg ist von den Steinstapelwettbwerben der großen Religionen (egal wo die Dome, Moscheen, Pyramiden aufgehäuft wurden). Für die Moderne würde ich eher ›absolute Häuser‹ als Symbol ansehen. Also z.B. Wohnmobile, U-Boote, Raumstationen. Zudem: wenn man sich auf Bausubstanzen kapriziert, dann grenzt man all jene Religionen und Kulturen aus, die sich nicht groß um das Schaffen bleibender architektonischer Fußabdrücke scheren. Nomadische Lebensformen zum Beispiel. Außerdem verzerrt der Blick auf die Bausubstanz das Bild: Guckt man nur auf die Gebäude, könnte man z.B. die Mähr vom ›christlichen Abendland‹ (im Mittelalter) fast glauben. Grüße Alex / molo

Bearbeitet von molosovsky, 02 März 2010 - 09:14.

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

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#45 Lomax

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Geschrieben 02 März 2010 - 13:06

Ich frage mich gerade, wie man Computern beibringt, was HeiligtĂĽmer sind?

Gar nicht - jedenfalls nicht, was den "geistigen" Gehalt eines Heiligtums angeht. Das sind eben meine Bedenken, wenn man den geistigen Nutzen von Religionen in den Mittelpunkt ihrer Genese stellt.
Was man in programmierten Agentenmodellen nur nachempfinden kann, sind äußerliche Elemente von Religionen - für ein "Heiligtum" beispielsweise eine gesperrte Ressource, die weitere Ressourcen ohne Gegenleistung verbraucht. Wenn so eine Konstellation, die in der Realität kaum ohne religiösen Hintergrund etablierbar ist, in der Simulation schon ohne weitere Reflektion oder tatsächliche geistige Inhalte dazu führt, dass die beteiligten "Agenten" sich vorteilhafter organisieren, spricht das jedenfalls dafür, dass es schwer wird, Religionen überhaupt auf einen "geistigen Kern" ohne unmittelbaren materiellen Nutzen zu reduzieren.

Ein weiterer Sachverhalt ist mir heute morgen dann noch bewusst geworden, eine Ăśberlegung, die ich mir vor deinen AusfĂĽhrungen gestern eigentlich noch nie gestellt habe, die aber letztendlich in dieselbe Richtung fĂĽhrt.
Du würdest, wenn ich das recht verstehe, den Kernbereich der Religion eher in metaphayischen Modellen verorten und als wesentliche Bedürfnisbefriedigung, durch die Religion sich in menschlichen Gesellschaften etabliert, die Sinnstiftung sehen. Daraus hast du abgeleitet, dass erst die Wissenschaft eine notwendige Alternative geliefert hat für säkulare Welterklärungsmodelle, die entsprechende Fragen auch ohne Religion behandeln können und die darum die Position von Religionen in der Moderne geschwächt haben.
Nun ist es allerdings so, dass die modernen Wissenschaften gerade auf dem Feld der Sinnstiftung ihre größte Lücke haben und zwar Antworten zu materiellen Zusammenhängen liefern, die früher in ein religiöses Weltbild eingebettet waren, dabei aber gerade die Sinnfragen unbeantwortet lassen. Umgekehrt gibt es sehr viel ältere Betätigungsfelder wie die Ethik oder die Metaphysik, die nichtreligiöse Modelle für den von dir festgestellten Kernbereich der Religion viel besser liefern könnten als moderne Wissenschaften - die aber Jahrtausendelang in friedlicher Symbiose mit der Religion koexistiert und sich niemals verselbstständigt haben.
Meine Überlegung wäre nun, ob der Mensch sich womöglich doch nicht so sehr für Sinnfragen interessiert, wie man gemeinhin annimmt, und dass darum Religionen, um interessant zu bleiben, zumindest einen soliden Anker in der stofflichen Welt benötigen - dass sie also erst dann wirklich Menschen an sich binden können, wenn sie Deutungshoheit über wenigstens einen Teil der potenziell materiellen Zusammenhänge beanspruchen könnnen. Die Gefährdung der Stellung von Religionen durch die modernen Wissenschaften deutet m.E. nach eher darauf hin, dass die Menschen sich vielleicht doch von je her mehr für die Antworten interessiert haben, die Religionen auf die Frage nach dem Blitzschlag oder Krankheiten geliefert haben, also für ganz handfeste Probleme des Alltags, und sehr viel weniger für die "großen Sinnfragen", für den Sinn des Lebens, das Schicksal nach dem Tod und die Welt jenseits der Dinge, die von der Wissenschaft ja weitestgehend unberührt bleiben.
Am Anfang der Religion und als ihre wesentlichste Stütze steht also möglicherweise nicht die Suche nach einem Sinn, sondern die Suche nach einer Möglichkeit der Manipulation der Wirklichkeit. Also nicht der Gott, Geist oder Ahne, der mir sagt, warum ich hier bin - sondern der, zu dem ich beten kann, damit er mich vor Krankheit beschützt, der mich vor Unfällen und Blitzschlag beschützt, mir bei der Jagd beisteht etc. Denn genau das sind ja die Dinge, die durch die moderne Wissenschaft eine neue Regelung erfahren haben.

Und wenn ich mir jetzt die Aufzählung der sehr materiellen Hoffnungen in der Religion ansehe, finde ich als zentralen Gedanken die Angst wieder - die positive Angst, die mich nach etwas jenseits meiner Möglichkeiten suchen lässt, was mir hilft, die ganz konkreten Gefahren des Daseins zu meistern. Und von da an ist es nur ein kleiner Schritt zur negativen Angst - nämlich der Angst, dass die Mächte, die all die Dinge kontrollieren, die ich nicht verstehe und in denen ich mir von ihnen helfen lassen möchte, mir natürlich auch gezielt all das Unglück auf den Hals schicken können, wenn ich mich nicht an ihre "Regeln" halte.
Meine zweite Überlegung wäre, ob auf einer noch tieferen Ebene als der "materiellen Hilfe" das eigentliche Fundament der Religion nicht die Angst ist, und nicht der Wunsch, etwas zu wissen. Und natürlich hat die Wissenschaft auch da einiges geändert - die Medizin beispielsweise verspricht mir Schutz vor Krankheiten und erscheint darum effizienter als das Gebet. Aber vor allem erklärt sie, wo Krankheiten herkommt, und nimmt mir einen guten Teil der Angst, dass irgendwelche Götter mir die Krankheit schicken, weil ich nicht gläubig genug bin, genau wie ich einen Grund weniger Grund habe, an einen Gott zu glauben, wenn ich weiß, wie Blitze entstehen und dass dieser Gott sie nicht auf mein Haus werfen wird.

Dann wäre das Zurückdrängen der religiösen Einflüsse in der Moderne womöglich weniger eine Folge der "Sinnzusammenhänge", die die Wissenschaft liefern kann, sondern des daraus resultierenden Lebensgefühls. Nicht nur die Problemlösungen, die die Wissenschaft mir für den Alltag liefert, würden den Einfluss der Religion schmälern, sondern vor allem auch die Tatsache, dass ich daran glaube, dass die Wissenschaft auch in Zukunft Problemlösungen präsentieren wird - und das Wiedererstarken von Religionen in den letzten Jahrzehnten wäre dann weniger Ausdruck einer anhaltenden Sinnsuche, sondern vielmehr ein Ausdruck davon, dass der Glaube an "technische" Lösungen für alle möglichen Alltagsprobleme schwindet und Angst zunimmt.
Alles in allem sehe ich jedenfalls gerade in den von Traum angesprochenen Zusammenhängen mehr Hinweise darauf, dass Religion auch auf Ebene des Individuums stärker an ganz konkreten Fragen der "materiellen Lebenshilfe" ansetzt, wohingegen "höhere Anliegen" wie Sinnfragen oder das Wissen-wollen von Zusammenhängen zwar hinzukommen, aber offenbar nicht wirklich stark genug motivieren, dass Menschen deswegen der Religion eine bedeutsame Rolle in ihrem Alltag zubilligen würden.
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#46 Traum3

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Geschrieben 02 März 2010 - 15:12

Aloha nochmals :-). Ich beziehe mich jetzt auf die Absätze, auf die ich dann durchnummeriert eingehen werde. 1. Zu dieser Agententheorie kann ich mich nicht qualifiziert äußern, weil ich sie einfach nicht verstehe. Ich habe halt Zweifel, da meiner Meinung nach etwas "heiliges" vom Computer nicht begriffen werden kann und deshalb da vllt. etwas ganz anderes simuliert wird. 2. Der Trick der modernen Wissenschaft ist gerade die Metaphysik als undurchschaubaren Bereich zurückzudrängen und in der Folge nicht mehr zu beachten. Denn in der Vielzahl der Religionen und der daraus resultierenden Kulturen zeigt sich gerade die Relativität, die Beliebigkeit ihrer Ausformungen. Zu verweisen wäre hier auf den Poststrukturalismus oder den Konstruktivismus. Metaphysik ist dem agnostischen / skeptischen Argument folgend weder durchschaubar noch nachweisbar und deshalb unwichtig. Das kann auch auf eine religiöse Ethik bezogen werden. Denn die vielen Ausformungen deuten eher darauf hin, dass die Auslegung von Geboten beliebig ist, als aus der metaphysischen Zone klar herausdestillierbar. Ethik sollte heutzutage über Interessen gesellschaftlich verhandelt werden. 3. Kann ich nachvollziehen. 4. Lebensgefühl resultiert doch aus der Auslegung von Sinnzusammenhängen? Ich glaube auch, dass du mit Angst das meinst, was durch feste Sinnzusammenhänge gelöst wird. Denn meistens macht ja doch das unerklärliche Angst. Existenzielle Fragen sind heutzutage ja hinreichend geklärt, obgleich man ihnen nicht unbedingt immer glauben sollte.

Bearbeitet von Traum3, 02 März 2010 - 15:14.


#47 simifilm

simifilm

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Geschrieben 02 März 2010 - 15:31

Dann wäre das Zurückdrängen der religiösen Einflüsse in der Moderne womöglich weniger eine Folge der "Sinnzusammenhänge", die die Wissenschaft liefern kann, sondern des daraus resultierenden Lebensgefühls. Nicht nur die Problemlösungen, die die Wissenschaft mir für den Alltag liefert, würden den Einfluss der Religion schmälern, sondern vor allem auch die Tatsache, dass ich daran glaube, dass die Wissenschaft auch in Zukunft Problemlösungen präsentieren wird - und das Wiedererstarken von Religionen in den letzten Jahrzehnten wäre dann weniger Ausdruck einer anhaltenden Sinnsuche, sondern vielmehr ein Ausdruck davon, dass der Glaube an "technische" Lösungen für alle möglichen Alltagsprobleme schwindet und Angst zunimmt.
Alles in allem sehe ich jedenfalls gerade in den von Traum angesprochenen Zusammenhängen mehr Hinweise darauf, dass Religion auch auf Ebene des Individuums stärker an ganz konkreten Fragen der "materiellen Lebenshilfe" ansetzt, wohingegen "höhere Anliegen" wie Sinnfragen oder das Wissen-wollen von Zusammenhängen zwar hinzukommen, aber offenbar nicht wirklich stark genug motivieren, dass Menschen deswegen der Religion eine bedeutsame Rolle in ihrem Alltag zubilligen würden.


Es gehen hier recht viele Dinge durch- und nebeneinander, und dass der Begriff der 'Religion' alles andere als 100% eindeutig ist, wurde ja auch schon mehrfach erwähnt. Aber hier noch ein Gedanke zur Bedeutung von Religion für den Alltag. Wenn wir hier traditionelle organisierte Religionen wie das Christentum meinen, kann man sicher von einer Abnahme sprechen. Religiös-mythische Ideen und Überzeugungen sind meiner Meinung nach aber noch immer sehr präsent. Man nehme nur mal die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit, die Vorstellung, dass sich"böse Taten" irgendwie rächen werden und dass beispielsweise Naturkatastrophen die Quittung für das zerstörerische Verhalten des Menschen sind. Derartige Gedankengänge sind sehr weit verbreitet und ein starker Ausdruck eines mythischen Weltbilds. Und interessant ist hier auch, dass das von ganz konkreten alltäglichen Dingen (wenn ich das mache, wird das zurückkommen) bis ins ganz Grundsätzliche geht; denn am Ende steht da ja übergeordneter Sinnzusammenhang.

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#48 Lomax

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Geschrieben 02 März 2010 - 18:30

Ich beziehe mich jetzt auf die Absätze, auf die ich dann durchnummeriert eingehen werde.

... ich antworte mal auf dieselbe Weise:
1. Am einfachsten wäre, wenn ich einfach den Artikel verlinken könnte, auf den ich mich beziehe. Leider war das nur ein Zufallsfund Anfang der 90er in irgendeiner Zeitschrift, den ich derzeit nicht ausfindig machen kann (nicht, dass ich das seit Beginn der Diskussion nicht versucht hätte <_< ). Aber dieser Link führt zu einer anderen Simulation, die anscheinend nach einem sehr ähnlichen Prinzip aufgebaut ist - da könntest du jedenfalls nachschauen, was ich meine, wie so eine Agentensimulation funktioniert, was man damit simuliert - und was nicht. Die Simulation, die ich zuerst zu diesem Thema gesehen habe, hatte im wesentlichen dieselben Grundzüge, nur dass dann damit experimentiert wurde, Fixpunkte in den simulierten Raum einzubauen, die Eigenschaften "heiliger Stätten" nachbildeten - die also nicht zur Ressourcengewinnung benutzt, dennoch regelmäßig aufgesucht wurden und "Opfergaben" erforderten.
Selbstverständlich fallen bei einer solchen rein ressourcenorientierten Computersimulation jede Menge Inhalte von Religion unter den Tisch. Aber gerade daraus leite ich im Grunde meine Schlussfolgerung ab: Wenn schon in dieser reduziertesten und aller geistigen Inhalte entkleideten "Religions-Simulation" ein Gruppennutzen feststellbar ist, der die Ausbreitung von Religion befördern kann, dann ist die Theorie, die davon ausgeht, dass diese Eigenschaften für die Ausbreitung verantwortlich sind, sowohl hinreichend, um das Phänomen zu erklären, wie auch einfacher als eine Theorie, die im Ursprung einen anderen, geistigen Grund für die Ausbreitung annimmt, zu der dann erst später der Gruppennutzen hinzugekommen ist und ebenfalls für Verbreitung und Weiterentwicklung sorgte.
Es ist also eine Art "Okhams Razor", was mich zögern lässt, die "Sinnstiftung" als grundlegenden "Motor" einer religiösen Entwicklung aufzunehmen.
2. Hm, hm ... wäre eine höhere "Sinnstiftung" jenseits des Verständnisses materiell nutzbarer Kausalzusammenhänge allerdings wirklich ein so essentielles Bedürfnis der Menschheit, dass die Religion darauf aufbaut, wundert es mich, dass dieses Bedürfnis durch so einen einfachen "Trick" abgeschaltet werden kann.
4. Ich wäre geneigt, das "Unerklärliche" durch das "Unkontrollierbare" zu ersetzen - wie ich, wenn man annimmt, dass es tatsächlich die Wissenschaft ist, die die Bedeutung von Religion abschwächt, auch eher das Gefühl bekomme, dass die Grundlage von Religion dann nicht das Versprechen wäre, Sinnzusammenhänge zu erklären, sondern Abläufe zu kontrollieren.
Eine Krankheit, die ich genau erklären kann, macht dennoch Angst, wenn ich durch die Erklärung nicht das Gefühl bekomme, auf Krankheitswahrscheinlichkeit und Krankheitsverlauf Einfluss nehmen zu können. Ein wenig so, wie ein Flugzeug sich jenseits aller Erklärungen unsicherer "anfühlt", weil man an Bord ausgeliefert ist, während man im Auto eher das Gefühl hat, sein Risiko selbst zu bestimmen.

Womit ich dann, in diesem Sinne, auch auf Simis Einwand eingehen will: Sicher leben religiöse Ideen jenseits der Kirche auch heute noch fort. Dennoch war in den letzten Jahrzehnten sehr viel von einer "Wiedergeburt des Spirituellen" zu lesen, während man das Gefühl hatte, dass noch vor 50 Jahren sämtliche spirituelle Bewegungen in unserer Kultur tendenziell eher unter Druck standen. Ich habe das bisher einfach für eine typische Pendelbewegung gehalten, sprich: "Im 19. Jhdt. verlor das Religiöse immer mehr an Einfluss, war im Alltag aber immer noch viel präsenter als heute. Irgendwann war es soweit zurückgedrängt, dass die Menschen das Fehlen als Defizit auffassten und sich nach Alternativen umsahen."
Jetzt frage ich mich, ob diese Abnahme und jüngste Erstarkung spiritueller Ideen wirklich nur ein Pulsieren um einen zeitgemäßen "Normalpegel" ist, oder ob es nicht vielmehr mit dem oben erwähnten, von der "Kontrollierbarkeit" abhängigen Angstgefühl zu tun hat: Im 19. Jahrhundert und noch bis in die 60er Jahre unsere Jahrhunderts herrschte ein ungebrochener Optimismus, das der technische Fortschritt alle Probleme lösen kann. Als diese Sicherheit schwand, suchten wieder mehr Menschen ihre Sicherheit in spirituellen Konzepten - eben nicht als Suche nach Sinn und Erklärungen, sondern um ihre Lebenswirklichkeit und die Welt um sich herum als beherrschbar zu empfinden. Und sei es als beherrscht von einer höheren Macht oder von den menschlichen Bedüfnissen folgenden "Prinzipien".
Zugespitzt gefragt: War die Moderne eher eine Episode der Schwäche für die Religion, während gerade die Postmoderne mit ihrem Postulat der "Unsicherheit" fast zwangsläufig und regelgerecht eine Renaissance des Religiösen einleitet ... einleiten kann oder auch einleiten wird?
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#49 molosovsky

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Geschrieben 03 März 2010 - 23:53

Jetzt melde ich mal, dass die Art, wie hier die Begriffe ›Religion‹ und ›Spiritualität‹ durcheinander gehen fr mich verwirrend ist. ›Spiritualität‹ (also die Haltung und Beziehung zum Spirituellem) ist ja was anderes als ›Religiösität‹. Ersteres, so verknapp ich das mal, ist ja die weniger organisierte Form, der rohere Stoff. Erst mit längerer Gärungszeit (und vielen günstigen Umständen, förderlichen Managemententscheidungen) kann eine spirituelle Schule ihr jeweiliges System zu einer Religion festigen. Deshalb schrieb ich oben ja auch, dass ein wesentliches Merkmal von Religionen u.a. darin besteht, spirituelle Übungssysteme anzubieten. Grüße Alex / molo

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#50 Lomax

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Geschrieben 04 März 2010 - 10:30

›Spiritualität‹ (also die Haltung und Beziehung zum Spirituellem) ist ja was anderes als ›Religiösität‹. Ersteres, so verknapp ich das mal, ist ja die weniger organisierte Form, der rohere Stoff.

Nun, ich für meinen Teil habe die Begriffe nicht durcheinander gewählt, sondern mit Bedacht genau so, um einen kausalen Zusammenhang zum Ausdruck zu bringen.
Nur von einem Erstarken der Religion in den letzten Jahrzehnten zu sprechen, würde der Sachlage nicht gerecht - was ja vor allem seit den 60ern profitiert hat, sind spirituelle Bewegungen oder entsprechendes Gedankengut oft jenseits der etablierten Religionen, oder in scheinbar jeder beliebigen Durchmischung vorhandener Religionen. Insofern halte ich es für angemessen, von einer Zunahme oft sehr persönlich motivierter Spiritualität zu sprechen, die Menschen dazu bewegt, entsprechende spirituelle Angebote wahrzunehmen - wo auch immer sie gemacht werden.
Trennen kann man das von den Religionen allerdings auch nicht, denn es ist ja durchaus zu sagen, dass auch Religionen von dieser Bewegung profitiert haben. Im christlichen Teil womöglich hauptsächlich abseits der etablierten Kirchen, sozusagen am "extremeren Rand" der klassischen Religion wie beispielsweise in der evangelikalen Bewegung. Religiöse Bewegungen sind das allerdings nichtsdestotrotz. Ich halte es also für angemessen, in erster Linie von einem erstarken der Spiritualität in den letzten Jahrzehnten zu sprechen, und damit einhergehend von einem Bedeutungsgewinn der Religionen vor allem in jüngerer Zeit.
Wobei natürlich im Einzelfall zu untersuchen wäre, inwiefern zwischen beidem tatsächlich eine Kausalität und eine lineare Entwicklung vorliegt, denn immerhin wäre es möglich, dass es in der Zeit einfach Wellen von Spiritualität gab und davon unabhängig ein Bedeutungszuwachs von Religionen aus ganz anderen, beispielsweise politischen Gründen. Wenn beispielsweise der politische Islam im letzten Jahrzehnt deutlich mehr von sich reden machte als zuvor, ist das sicher nicht nur Ausdruck eines "spirituellen Erwachens".

Andererseits denke ich, dass gerade im westlichen Kulturkreis, der ja am stärksten vom Gegensatz Religion/Wissenschaft und von Säkularisierung betroffen ist, eine derartige Kontinuität der Entwicklung von Spiritualität und Religion in neuer Zeit gegeben ist. Ich habe zu viele ganz konkrete Berührungspunkte kennengelernt, in denen das Interesse an Spiritualität mit Angeboten von konkret religiösem Hintergrund kaum unterscheidbar ineinander übergeht, dass ich davon ausgehe, soweit man in unserer Kultur von einer Rückkehr der Religionen sprechen kann, ist diese substanziell von den spirituellen Bewegungen der beiden letzten Generationen gespeist.
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#51 shoogar

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Geschrieben 17 März 2010 - 21:46

Diese Diskussion ist in der bisher geführten Breite wirklich plättend.

Ich wollte einige meiner Ansichten darstellen, finde mich jetzt aber in der Not, dass ich nicht herausfinden kann, ob darĂĽber schon gesprochen wurde. Wenn ich alles bisher besprochene im Detail lese, verliere ich meinen eigenen Faden.

Daher - verzeiht mir - schmeisse ich jetzt einfach zwei/drei Gedanken in kĂĽrzester Form auf den Tisch.

  • Religion ist eine biologische Notwendigkeit (s. u.a. Steven Baxter)
  • Religion ist eine willkommene Struktur fĂĽr politische Mächte (wissen wir alle)
  • Religion ist eine philosophische Basis fĂĽr höhere Einsichten (das ist vielleicht neu)

Ich will damit sagen, dass wir Menschen Religion haben, weil sie Teil unserer Erkenntnis ist. Für uns denkende Menschen war die Welt am Anfang unserer Entwicklung zu komplex, und wir fanden einfache Antworten in der Religion. Inzwischen haben wir zivilisierte Gesellschaften gebildet, und unsere Religionen haben innerhalb dieser Machtstrukturen ihren Platz gefunden. Nun - spätestens seit 1968 - können wir über alles reden, auch über SF anstelle von Religion.

Bearbeitet von shoogar, 17 März 2010 - 21:48.


#52 molosovsky

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Geschrieben 18 März 2010 - 07:32

Hi shoogar. Was meint denn Baxter genau, wenn Du ihm zusammenfasst mit »Religion ist eine biologische Notwendigkeit«? Und ich finde, dass wiederum Religion ein ungünstiges Wort für die drei von Dir angeführten Punkte ist. Religion ist (für mich zumindest) eine organisierte Form spiritueller Inhalte & Praktiken. Im Prinzip ist das zu einem Gutteil eine Definitions- sprich: Machtfrage, welche spirituellen Praktiken als Religion gelten (dürfen) und welche ›nur‹ Aberglaube sind oder Hobby-Wahnsinn. Es soll ja Geldverdienmaschinen geben, die es geschafft haben, sich als Religion zu verkaufen (und die schreibt man dann mit $ statt S am Anfang :-) ) Was in Diskussionen und hier im Thread oftmals mit ›Religion‹ gemeint ist, ist mit ›Spiritualität‹ besser bezeichnet. Grüße Alex / molo

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#53 Traum3

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Geschrieben 19 März 2010 - 01:37

sollte die definition auch eine rolle spielen? ich würde wie schon angedeutet nicht zwischen sowas wie spirtualität und religion unterscheiden. vllt. hemmt das auch schon eine gute diskussion (ich meine damit die definitionsfrage!). sry nur um das noch mal in gang zu bringen

Bearbeitet von Traum3, 19 März 2010 - 01:40.


#54 simifilm

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Geschrieben 19 März 2010 - 07:29

sollte die definition auch eine rolle spielen? ich würde wie schon angedeutet nicht zwischen sowas wie spirtualität und religion unterscheiden. vllt. hemmt das auch schon eine gute diskussion (ich meine damit die definitionsfrage!).
sry nur um das noch mal in gang zu bringen


Die Diskussion hier dreht sich bislang ja schon primär um Religion als gesellschaftliche Institution (obwohl mir eigentlich je länger je weniger klar ist, worüber wir hier diskutieren), insofern würde ich schon zwischen Religion und Spiritualität o. ä. unterscheiden. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass es falsch wäre, Religion einzig und allein auf ihre politisch-soziale Funktion zu reduzieren und den transzendenten Anteil völlig auszublenden.

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#55 shoogar

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Geschrieben 20 März 2010 - 02:05

Was meint denn Baxter genau, wenn Du ihm zusammenfasst mit »Religion ist eine biologische Notwendigkeit«?


Ich beziehe das vor allem auf die Passagen in "Evolution". Da geht er sogar so weit, den Ursprung der Religion aus einem Wahn heraus zu erklären. Aber sein Anliegen stellt er in diesem Buch verständlich dar. In uns (damaligen) Menschen schlummert(e) eine Angst vor der Zukunft (und vor dem Tod), die nur wir Menschen erklären können, weil nur wir Menschen abstrahieren können (aufgrund der Entwicklung unseres Vorderhirns).

Und ich finde, dass wiederum Religion ein ungĂĽnstiges Wort fĂĽr die drei von Dir angefĂĽhrten Punkte ist.


Ich sehe "Religion" völlig losgelöst von den mittlerweile in vielen Jahrhunderten gewachsenen drei Buchreligionen, und auch losgelöst von den den drei/vier (philosophischen) Nebenrichtungen, und auch nicht als (praktische) Spiritualität.

Aus meiner Sicht ist Religion/Glaube ein biologisches Urbedürfnis, welches wir Menschen benötigen, um das tägliche Leben zu ertragen. Wenn wir keine - wie auch immer begründete - einfache Antwort auf den Tod hätten, wären wir ständig erpressbar. Das soll heißen - mit der Entwicklung unseres Vorderhirns und dessen Fähigkeit, Zukünftiges zu erahnen, benötigten wir Menschen eine umfassende Antwort, was denn nach uns werden soll. Religion ist eine täglich praktikable Antwort, um mit solchen Gedanken nicht durchzudrehen.

#56 Stormking

Stormking

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Geschrieben 20 März 2010 - 09:51

Aus meiner Sicht ist Religion/Glaube ein biologisches Urbedürfnis, welches wir Menschen benötigen, um das tägliche Leben zu ertragen. Wenn wir keine - wie auch immer begründete - einfache Antwort auf den Tod hätten, wären wir ständig erpressbar. Das soll heißen - mit der Entwicklung unseres Vorderhirns und dessen Fähigkeit, Zukünftiges zu erahnen, benötigten wir Menschen eine umfassende Antwort, was denn nach uns werden soll. Religion ist eine täglich praktikable Antwort, um mit solchen Gedanken nicht durchzudrehen.

Ich könnte mich immer königlich amüsieren, wenn Gläubige mal wieder von der "biologischen Notwendigkeit" der Religion erzählen und wie man dieses oder jenes ohne Religion angeblich nicht könne. Der erste meint, ohne Religion sei ein friedliches Zusammenleben der Menschen nicht möglich, der zweite hält Religion für unabdingbar zur Entwicklung einer Moral und der dritte glaubt, ohne Religion sei das Leben nicht zu ertragen. Ich warte nur noch auf denjenigen der ernsthaft die Meinung vertritt, ohne Religion sei der Stuhlgang nicht möglich.

Überraschung, liebe Gläubige: All das geht ganz hervorragend auch ohne imaginären großen Bruder im Himmel.

#57 yiyippeeyippeeyay

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Geschrieben 20 März 2010 - 10:06

All das geht ganz hervorragend auch ohne imaginären großen Bruder im Himmel.

Ohne "ganz hervorragend" hätte ich diesen Satz sofort unterschrieben. Aber so wie er da steht, stimmt er in meiner Erfahrung nur selten. Das atheistische Leben ist schon auch eine Lebensaufgabe, an der man "arbeiten" muss, bzw. ohne Hilfe/Toleranz Anderer evtl. scheitert. Das tägliche Dasein ist nicht immer leicht zu ertragen; dass dem so ist, ist sicherlich die Quelle vieler Entwicklungen menschlichen Lebens, sei es urbaner Lebensstil, Kunst oder auch... Religion.

/KB

Yay! SF-Dialog Ende März...
Senator: Und dies ist nun die Epoche der Laser?

Farmer: [..] Die Anzahl der Menschen auf der Erde, die voller Hass/Frustration/Gewalt sind, ist zuletzt furchterregend schnell gewachsen. Dazu kommt die riesige Gefahr, dass das hier in die Hände nur einer Gruppierung oder Nation fällt... (Schulterzucken.) Das hier ist zuviel Macht für eine Person oder Gruppe, in der Hoffnung dass sie vernünftig damit umgehen. Ich durfte nicht warten. Darum hab ich es jetzt in die Welt verstreut und kündige es so breit wie möglich an.

Senator: (erblasst, stockt) Wir werden das nicht ĂĽberleben.

Farmer: Ich hoffe Sie irren sich, Senator! Ich hatte eben nur eine Sache sicher kapiert - dass wir weniger Chancen dazu morgen haben wĂĽrden als heute.

(Leiter eines US-Congress-Kommittees vs. Erfinder des effektivsten Handlasers, den es je gab, grob ĂĽbersetzt aus der 1. KG aus Best of Frank Herbert 1965-1970, im Sphere-Verlag, Sn. 38 & 39, by Herbert sr.)


#58 Stormking

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Geschrieben 20 März 2010 - 10:46

Das atheistische Leben ist schon auch eine Lebensaufgabe, an der man "arbeiten" muss, bzw. ohne Hilfe/Toleranz Anderer evtl. scheitert. Das tägliche Dasein ist nicht immer leicht zu ertragen

Ich weiß nicht. In meinem Bekanntenkreis bin ich als eher nachdenklicher, grüblerischer Mensch bekannt aber ich komme beim besten Willen nicht drauf, was genau am täglichen Dasein in unseren Breitengraden nun so furchtbar schwer zu ertragen sein soll. Bin ich einfach ein zu sonniges Gemüt, haben die anderen zu hohe Ansprüche ans Dasein oder sind mir entgegen aller statistischer Wahrscheinlichkeiten sämtliche echte Widrigkeiten des Lebens bisher erspart geblieben?

Bearbeitet von Stormking, 20 März 2010 - 10:47.


#59 simifilm

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Geschrieben 20 März 2010 - 10:48

Ich beziehe das vor allem auf die Passagen in "Evolution". Da geht er sogar so weit, den Ursprung der Religion aus einem Wahn heraus zu erklären. Aber sein Anliegen stellt er in diesem Buch verständlich dar. In uns (damaligen) Menschen schlummert(e) eine Angst vor der Zukunft (und vor dem Tod), die nur wir Menschen erklären können, weil nur wir Menschen abstrahieren können (aufgrund der Entwicklung unseres Vorderhirns).



Ich sehe "Religion" völlig losgelöst von den mittlerweile in vielen Jahrhunderten gewachsenen drei Buchreligionen, und auch losgelöst von den den drei/vier (philosophischen) Nebenrichtungen, und auch nicht als (praktische) Spiritualität.

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Inwiefern das eine biologische Notwendigkeit sein soll, ist mir nicht recht klar. Wenn überhaupt, dann wäre das eine psychologische Notwendigkeit. Dass sich religiöse Erklärungsmuster anbieten und nützlich sein können als Antworten auf die grossen Fragen und Unsicherheiten, möchte ich auch gar nicht bestreiten. Die unbedingte Notwendigkeit sehe ich aber keineswges. Um da ganz persönlich zu sprechen: ich habe überhaupt kein Problem mit der Vorstellung, dass mit dem Tod alles zu Ende ist. Ich finde die Vorstellung, dass es danach weiter geht, eigentlich viel beängstigender.

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#60 molosovsky

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Geschrieben 20 März 2010 - 11:26

Vorweg: Religionen sind m.E. nicht ›biologische Notwendigkeit‹. Darunter würde ich sowas verstehen wie: Mensch braucht Wasser, Nahrung, Schutz vor extremer Kälte/Hitze usw.

Was aber Religionen können ist, als spirituelle Übungssysteme (sowie mit einer Vielzahl weiterer symbolischer, ritueller, narrativer PraxenPraktiken) Einzelne und Gesellschaften dabei zu unterstützen mit verschiedenen psychologischen und sozialen Herausforderungen & Belastungen umzugehen.

Genauer zu dem was Shoogar schrieb:

Aus meiner Sicht ist Religion/Glaube ein biologisches Urbedürfnis, welches wir Menschen benötigen, um das tägliche Leben zu ertragen.

Ich sag mal: Das alltägliche Durchschnittsleben braucht keine Unterstützung durch ›Religion‹. Die Einbrüche des Unerwarteten und Unkontrollierbaren, der Gewalt, der Glücks, extremen Erregungen usw. jedoch schon.

Wenn wir keine - wie auch immer begründete - einfache Antwort auf den Tod hätten, wären wir ständig erpressbar.

Warum so bescheiden im Konkunktiv? Die meisten Menschen SIND doch erpressbar, weil sie lieber schlecht als gar nicht leben (oder eben lieber ein bisschen schlecht als ganz schlecht leben). Da hilft auch die ›Religion‹ nix.

Das soll heißen - mit der Entwicklung unseres Vorderhirns und dessen Fähigkeit, Zukünftiges zu erahnen, benötigten wir Menschen eine umfassende Antwort, was denn nach uns werden soll. Religion ist eine täglich praktikable Antwort, um mit solchen Gedanken nicht durchzudrehen.

Dass Du das Hirn des Menschen ins Spiel bringt finde ich sympathisch. Ich denke auch, dass es vor allem dieses Organ ist, dem wir all diese phantastischen Weltbildwuchereien zu verdanken haben. Und ich stimme auch zu, dass es das dem Menschen eigentümliche Erkenntis-Dilemma ist (einen größeren Zeitraum in der Vorstellung fassen und navigieren zu können, als die eigene Lebenszeit umfasst), welches (ein) Anlass für ›Religionen‹ ist.

GrĂĽĂźe
Alex / molo

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