Ich frage mich gerade, wie man Computern beibringt, was Heiligtümer sind?
Gar nicht - jedenfalls nicht, was den "geistigen" Gehalt eines Heiligtums angeht. Das sind eben meine Bedenken, wenn man den geistigen Nutzen von Religionen in den Mittelpunkt ihrer Genese stellt.
Was man in programmierten Agentenmodellen nur nachempfinden kann, sind äußerliche Elemente von Religionen - für ein "Heiligtum" beispielsweise eine gesperrte Ressource, die weitere Ressourcen ohne Gegenleistung verbraucht. Wenn so eine Konstellation, die in der Realität kaum ohne religiösen Hintergrund etablierbar ist, in der Simulation schon ohne weitere Reflektion oder tatsächliche geistige Inhalte dazu führt, dass die beteiligten "Agenten" sich vorteilhafter organisieren, spricht das jedenfalls dafür, dass es schwer wird, Religionen überhaupt auf einen "geistigen Kern" ohne unmittelbaren materiellen Nutzen zu reduzieren.
Ein weiterer Sachverhalt ist mir heute morgen dann noch bewusst geworden, eine Überlegung, die ich mir vor deinen Ausführungen gestern eigentlich noch nie gestellt habe, die aber letztendlich in dieselbe Richtung führt.
Du würdest, wenn ich das recht verstehe, den Kernbereich der Religion eher in metaphayischen Modellen verorten und als wesentliche Bedürfnisbefriedigung, durch die Religion sich in menschlichen Gesellschaften etabliert, die Sinnstiftung sehen. Daraus hast du abgeleitet, dass erst die Wissenschaft eine notwendige Alternative geliefert hat für säkulare Welterklärungsmodelle, die entsprechende Fragen auch ohne Religion behandeln können und die darum die Position von Religionen in der Moderne geschwächt haben.
Nun ist es allerdings so, dass die modernen Wissenschaften gerade auf dem Feld der Sinnstiftung ihre größte Lücke haben und zwar Antworten zu materiellen Zusammenhängen liefern, die früher in ein religiöses Weltbild eingebettet waren, dabei aber gerade die Sinnfragen unbeantwortet lassen. Umgekehrt gibt es sehr viel ältere Betätigungsfelder wie die Ethik oder die Metaphysik, die nichtreligiöse Modelle für den von dir festgestellten Kernbereich der Religion viel besser liefern könnten als moderne Wissenschaften - die aber Jahrtausendelang in friedlicher Symbiose mit der Religion koexistiert und sich niemals verselbstständigt haben.
Meine Überlegung wäre nun, ob der Mensch sich womöglich doch nicht so sehr für Sinnfragen interessiert, wie man gemeinhin annimmt, und dass darum Religionen, um interessant zu bleiben, zumindest einen soliden Anker in der stofflichen Welt benötigen - dass sie also erst dann wirklich Menschen an sich binden können, wenn sie Deutungshoheit über wenigstens einen Teil der potenziell materiellen Zusammenhänge beanspruchen könnnen. Die Gefährdung der Stellung von Religionen durch die modernen Wissenschaften deutet m.E. nach eher darauf hin, dass die Menschen sich vielleicht doch von je her mehr für die Antworten interessiert haben, die Religionen auf die Frage nach dem Blitzschlag oder Krankheiten geliefert haben, also für ganz handfeste Probleme des Alltags, und sehr viel weniger für die "großen Sinnfragen", für den Sinn des Lebens, das Schicksal nach dem Tod und die Welt jenseits der Dinge, die von der Wissenschaft ja weitestgehend unberührt bleiben.
Am Anfang der Religion und als ihre wesentlichste Stütze steht also möglicherweise nicht die Suche nach einem Sinn, sondern die Suche nach einer Möglichkeit der Manipulation der Wirklichkeit. Also nicht der Gott, Geist oder Ahne, der mir sagt, warum ich hier bin - sondern der, zu dem ich beten kann, damit er mich vor Krankheit beschützt, der mich vor Unfällen und Blitzschlag beschützt, mir bei der Jagd beisteht etc. Denn genau das sind ja die Dinge, die durch die moderne Wissenschaft eine neue Regelung erfahren haben.
Und wenn ich mir jetzt die Aufzählung der sehr materiellen Hoffnungen in der Religion ansehe, finde ich als zentralen Gedanken die Angst wieder - die positive Angst, die mich nach etwas jenseits meiner Möglichkeiten suchen lässt, was mir hilft, die ganz konkreten Gefahren des Daseins zu meistern. Und von da an ist es nur ein kleiner Schritt zur negativen Angst - nämlich der Angst, dass die Mächte, die all die Dinge kontrollieren, die ich nicht verstehe und in denen ich mir von ihnen helfen lassen möchte, mir natürlich auch gezielt all das Unglück auf den Hals schicken können, wenn ich mich nicht an ihre "Regeln" halte.
Meine zweite Überlegung wäre, ob auf einer noch tieferen Ebene als der "materiellen Hilfe" das eigentliche Fundament der Religion nicht die Angst ist, und nicht der Wunsch, etwas zu wissen. Und natürlich hat die Wissenschaft auch da einiges geändert - die Medizin beispielsweise verspricht mir Schutz vor Krankheiten und erscheint darum effizienter als das Gebet. Aber vor allem erklärt sie, wo Krankheiten herkommt, und nimmt mir einen guten Teil der Angst, dass irgendwelche Götter mir die Krankheit schicken, weil ich nicht gläubig genug bin, genau wie ich einen Grund weniger Grund habe, an einen Gott zu glauben, wenn ich weiß, wie Blitze entstehen und dass dieser Gott sie nicht auf mein Haus werfen wird.
Dann wäre das Zurückdrängen der religiösen Einflüsse in der Moderne womöglich weniger eine Folge der "Sinnzusammenhänge", die die Wissenschaft liefern kann, sondern des daraus resultierenden Lebensgefühls. Nicht nur die Problemlösungen, die die Wissenschaft mir für den Alltag liefert, würden den Einfluss der Religion schmälern, sondern vor allem auch die Tatsache, dass ich daran
glaube, dass die Wissenschaft auch in Zukunft Problemlösungen präsentieren wird - und das Wiedererstarken von Religionen in den letzten Jahrzehnten wäre dann weniger Ausdruck einer anhaltenden Sinnsuche, sondern vielmehr ein Ausdruck davon, dass der Glaube an "technische" Lösungen für alle möglichen Alltagsprobleme schwindet und Angst zunimmt.
Alles in allem sehe ich jedenfalls gerade in den von Traum angesprochenen Zusammenhängen mehr Hinweise darauf, dass Religion auch auf Ebene des Individuums stärker an ganz konkreten Fragen der "materiellen Lebenshilfe" ansetzt, wohingegen "höhere Anliegen" wie Sinnfragen oder das Wissen-wollen von Zusammenhängen zwar hinzukommen, aber offenbar nicht wirklich stark genug motivieren, dass Menschen deswegen der Religion eine bedeutsame Rolle in ihrem Alltag zubilligen würden.
"Modern Economics differs mainly from old Political Economy in having produced no Adam Smith. The old 'Political Economy' made certain generalisations, and they were mostly wrong; new Economics evades generalisations, and seems to lack the intellectual power to make them." (H.G. Wells: Modern Utopia)