Hey, wer möchte sich zu Christoph und mir für den Lesezirkel gesellen? Hat nicht schon jemand die NOVA erhalten, es müsste ja viele mit Abo in diesem Forum geben?
Benjamin Hirth: The war is over
Das Vorwort erinnert mich daran, wie unsagbar lange Babel-17 von Delany schon auf meinem SuB liegt, es bildet dort vermutlich gemeinsam mit Dune den Rekord. Ich fürchte aber, beides muss noch etwas warten.
Die ersten Seiten sind irre redundant. Hätte man da nicht extrem viel kürzen können? Mir fallen auch viele Textstellen auf, die zwar vielleicht nicht direkt phrasenreich, aber doch für meinen Geschmack viel zu mainstreamig klingen; das heißt, ich habe solche Formulierungen schon zu oft woanders gelesen und wünsche mir mehr Frische. Und ja, das ist durchaus möglich! Kürzlich habe ich erst einen Text von Endres gelesen, der an sich ganz gut war, aber ebenfalls so mainstreamig, da hatte ich fast Lust, das mal in aller Tiefe zu analysieren.
Der Auslöser der Story ist, dass der Professor verschwunden ist, nackt aus seinen Kleidern (die noch daliegen) und das bringt den Erzähler aus der Fassung. Er kann selbst auch gar nicht französisch und ist auf den Professor alleine schon wegen der Verständigung angewiesen. Es herrscht Krieg mit Frankreich und sie sind seit zwei Wochen eingesperrt. Das wird übrigens auf mehrere Arten und Weisen immer mal wieder erwähnt, als hätte Hirth vergessen, danach die Erzählung zu straffen (was angesichts einer Lesezeit von dreißig Minuten sowieso eine gute Idee gewesen wäre).
Eine klare Stärke von Wirth sind aus meiner Sicht die sehr starken Verben, er geht echt gekonnt mit ihnen um!
In der ersten Hälfte der Story irrt der Erzähler umher, findet nur leere Uniformen und Zerstörung. Da ist zweiffellos größtenteils gut geschrieben (aber zu lang!), für mich beginnt die Story erst so richtig, als er doch Menschen trifft und Wirth sich sehr mutig und gelungen an der schriftlichen Darstellung von Gebärden versucht, gut lesbar, nachvollziehbar und möglicherweise auch total authentisch, gut von Gebärden in Schrift übersetzt (da ich keine Gebärden kann, muss ich das einfach glauben).
Die Grammatik zieht er nicht durch (was auch ganz gut ist, weil es sonst vermutlich für mich als Leserin zu anstrengend gewesen wäre), einzig die Anführungszeichen lässt er weg, was ich plausibel finde, da sie ja mit dem Körper sprechen.
Die Idee mit dem Virus finde ich richtig gut.
Eine ganze Weile lang bin ich von der Geschichte so gefesselt, dass ich sie nach Aikis Story für die beste im Heft halte. Der Schluss verliert mich - es kommt ein für mich absolut nicht vorbereiteter Twist, bei dem ich nicht mitgehen kann. Habe ich etwas überlesen? Ist Wirth nichts eingefallen?
Wie schade!
Hin und wieder finde ich aber einiges, das mir sprachlich sehr gut gefällt und ein Beispiel für frische Formulierungen bringt:
- Zu diesem Zeitpunkt fauchten bereits Jagdbomber über den Himmel (herrliches Beispiel für die Art, die Wirth Verben nutzt, echt toll!)
- Einzig der schmiedeeiserne Zaun streckt tapfer ein paar verlorene, geschwungene Spitzen daraus empor (sehr schöne Personifizierung durch das Adjektiv)
Beispiele, was ich für mainstreamige Formulieren halte:
- von einer Sekunde auf die andere
- mein Herz beginnt zu rasen (wobei direkt danach kommt: "wie ein Kühlaggregat im Schmelzofen", aber rast das dann echt? Bitte um Aufklärung!)
- innerhalb eines Wimpernschlags
- vom Professor fehlt jede Spur (womit er es ziemlich oft erwähnt hat, auf viele Arten und Weisen, das meine ich u. a. mit Redundanz)
- von einem Augenblick zum nächsten
- Meine Knie werden weich
- ehe mir dasselbe Schicksal blüht
- mich an den letzten Rest Normalität zu klammern
- der klägliche Versuch
- das alles über Nacht beiseite zu wischen
- Hals über Kopf
- dass ich sie am Haken habe
Übrigens werden diese Formulierungen ab der zweiten Hälfte deutlich seltener. Wenn ich mehr als tausend Treffer bekomme, wenn ich eine metaphorische Wendung google, ist mir das zu viel. "Meine Knie werden weich" hat fast achttausend.
Champs de Mars fand ich als Weltenbau übrigens sehr cool. Da mindestens einhundert Jahre vergangen sind seit 1945, muss es nach 2045 spielen, ganz passt das nicht, weil später noch mal dreißig Jahre vergangen sein müssen für etwas, das in unserer Gegenwart noch nicht der Fall ist, was für ein Datum nach 2053 spricht. Nun gut, haut einigermaßen hin. Scheint jedenfalls Near Future zu sein.
Edit: Ich hätte dann noch zwei Ideen mehr, die das Vorwort von MKI ergänzen, so eine Art freches Nachwort, was The New Kid on The Block noch zu dem eingefallen ist, was der jahrzehntelange Kenner der SF aus meiner Sicht im Vorwort vergessen hat :-) (Man möge meine Worte mit viel Humor sehen!)
Trotz der vielen Unterschiede habe ich an die Story Speech Sounds von Octavia Butler von 1983 gedacht, auch da gibt es eine Krankheit, hat auch mit Sprache zu tun, wenn auch anders. Es gibt Parallelen, die ich interessant finde.
Und dann gibt es eine deutlich neuere Story, und zwar in der Anthologie Macht und Wort (in der MKI auch selbst vertreten ist), und zwar von Heidrun Jänchen. Die Grosse Stille. Auch da gibt es eine Epidemie und hier zerstört sie Sprache. Hat also auch Parallelen zu Butlers Story, und es kommt eine Person vor, die Gebärden kann, auch wenn diese das kann, weil sie selbst gehörlos ist und nicht, weil die Schwester dies ist.
Mir persönlich gefällt Speech Sounds am besten und ich finde sie am spannendsten, aber auch die anderen beiden, von Jänchen und auch Wirth, haben was.
Bearbeitet von Rezensionsnerdista, 17 Januar 2023 - 12:55.