Liza, letztlich kannst du ja nur selbst entscheiden, was für dich für dieses Projekt passt. Für mich las es sich so, als hätte jede der Mütter stets die eigene Arbeit über die Tochter gestellt und diese darum bereits vor der Geburt verlassen. Und das fand ich unglaublich deprimierend: Immer wieder eine Frau im Zentrum und immer wieder ein Workaholic, der eigentlich zu engen Beziehungen nicht fähig ist. Das ist aber meine ganz individuelle Sichtweise, andere Personen lesen das sicher anders.
Ich hol mal etwas aus, aber Achtung: Spoiler!
Die Sprache dieses Textes mochte ich sehr. Sie hat etwas Fließendes, Intimes, man rückt sehr nah an die Prota ran. Das ist Anna, eine Biologin, die versucht, irgendwelche Erbgutprobleme zu lösen, die ich nicht genau verstehe. Sie ist enorm zwanghaft und in ihre Arbeit verbissen, was sie mir nicht gerade sympathisch macht. Nach und nach versteht man, warum sie soziale Kontakte meidet: Sie hat alle Menschen verloren, die sie geliebt hat und fürchtet Wiederholung. Und sie hat eine Schuld abzutragen, die so groß ist, dass Anna sie nicht abtragen kann.
Der Text ist sehr langsam, fast handlungsarm, wir sind viel in Annas Innenwelt, die sich um Verluste und Arbeit dreht. Dabei geht es im Außen fast immer szenisch zu, es gibt aber lange keinen roten Faden, so dass ich eine Weile brauchte, eine Idee zu haben, was das Thema des Romans ist. Meines Erachtens geht es um die Frage, ob und wie die Menschheit überleben kann.
Sehr faszinierend ist der Weltenbau, den Krieg aufmacht. Man erfährt ihn sehr häppchenweise: Die Meeresspiegel sind angestiegen, die Menschen sind so stark von genetischen Defekten betroffen, dass nur wenige Babys überleben. Eine Lösung dafür sind Hybridisierungen, Genbehandlungen, bei denen bereits im Mutterleib tierische Gene verwendet werden, um die Kinder überlebensfähig zu machen. Dabei kommen Individuen heraus, die teilweise wenig menschlich wirken und große gesundheitliche Probleme haben. Natürlich wird die Methode nicht von allen gutgeheißen und zu stark abweichende Individuen werden ausgegrenzt.
Sprachlich finde ich den Text an vielen Stellen sehr gelungen, Krieg findet eigenwillige Bilder und Vergleiche. Die vielen Zusammensetzungen mit Alg waren mir zu viel. Es gibt Alg-Bier, Alg-Kleidung, Alg-Brei, sogar Alg-Rikschas und bei keinem einzigen dieser Dinge habe ich eine Idee, wie sie aussehen oder schmecken. Auch gibt es bereits recht früh eine Liebesgeschichte und hier ist die Dichte an Phrasen stellenweise höher als ich gern hätte. Es gibt „kühlender Balsam für die Seele“ und brechende Herzen und natürlich haben sich die beiden Verliebten nur wenige Male gesehen, sind sich aber sooo wichtig.
Schade finde ich auch die Redundanzen. Anna begegnet im Meer beim Tauchen einer Schildkröte und diese ist etwas sehr besonderes, denn sie gehört zu einer eigentlich ausgestorbenen Art. Die Begegnungen mit dem Tier haben etwas Magisches, es gibt eine tiefe Verbindung, die bis zum Schluss nicht erklärt wird. Leider ist der Zauber dieser Begegnung für mich bei den Folgebegegnungen etwas zu ausführlich beschrieben, es kommt fast nichts Neues hinzu. Hier hätte meines Erachtens etwas Straffung gutgetan. Insgesamt hat das Buch für meinen Geschmack etwas zu viele ausufernde Beschreibungen von Unterwasserwelten – und zu wenig von Beziehungen. Die Personen, mit denen Anna sich umgibt, bleiben leider fast alle blass.
Im zweiten Teil des Buches steht Nisha im Zentrum. Sie ist die Tochter von Anna und ein Mensch-Schildkröten-Hybrid. Auch hier gibt es wieder einen faszinierenden Weltenbau – und wieder die Schwierigkeit, dass die Autorin mitunter mitten in eigentlich schnellen Szenen ganze Seiten mit Hintergrundinformationen einbaut, die zwar interessant sind, mich aber aus der Szene werfen. Wie auch im ersten Teil gibt es viele Personen, in denen ich mich erst nur schwierig zurechtfinde.
Die Menschen haben sich verändert und sind Hybridwesen, die im Wesentlichen im Meer leben. Die Schwierigkeit der sterbenden Embryonen besteht nach wie vor, es gibt nur noch ganz wenige Kinder. Und wieder besteht eine Spaltung zwischen denen, die das durch eine Religion und Gebete lösen wollen und denen, die an wissenschaftliche Lösungen glauben. Die Parallele zum ersten Teil mit Hybridbefürworten und -gegnern sticht ins Auge und überzeugt mich leider nicht. Auch finde ich, dass ich Nisha nicht so nahe komme wie im ersten Teil Anna.
Hier fällt mir auf, dass alle Charaktere ziemlich zugespitzt sind. Der Zwanghafte ist enorm Zwanghaft, die Zahlenverliebte ein kleiner Einstein usw. Gut dargestellt finde ich die Frage, ob die Hybridkinder eigentlich noch Menschen sind. Ihre Eltern können ihnen nur noch wenig beibringen, weil sie nicht wissen, was für die Hybridwesen möglich ist und was nicht. Während die Eltern auf das Land fixiert bleiben, auf das sie irgendwann zurückwollen, richten sich die Kinder in Richtung Meer aus.
Auch hier gibt es wieder das mystische Element der Sternschildkröte. Und Anna nimmt es trotz ihrer eigenen Erfahrungen nicht ernst. Genau wie im ersten Abschnitt gibt es auch hier eine Entfremdung zwischen Eltern und Tochter, wobei diese Entfremdung zwischen allen Kindern und ihren Eltern beschrieben wird, was mir etwas zu eindimensional erscheint. Auch, dass Nisha wesentliche Informationen vorenthalten werden, erscheint mir zu konstruiert. Wahrscheinlich braucht der Plot das, damit die Jugendlichen ohne Wissen der Eltern zum Dunkelriff aufbrechen können, einem magischen Ort, von dem sie Wunder und Heilung erwarten. Die Expedition ist spannend beschrieben, mich hat aber das Teenager-Rumgezicke und die naive Herangehensweise der Gruppe etwas genervt: Da ist eine Gesellschaft weit entwickelt und macht Genforschung im großen Stil, aber was sie essen können, müssen die Kids durch Versuch und Irrtum herausfinden. Schließlich entscheiden sie sich gegen den Willen ihrer Eltern, am Dunkelriff zu leben, wo magisch erscheinende Anpassungen ihrer Körper passieren. Auch das erscheint mir wenig nachvollziehbar (sowohl die Endscheidung als auch die plötzlichen Veränderungen, schon gar nicht, als deutlich wird, dass das Leben in der Tiefsee auch Opfer fordert). Ein Plus sind die wirklich atmosphärischen Schilderungen der Unterwasserwelt.
Der zweite Teil des Buches geht dann in Briefe über. Der Briefwechsel zwischen Nisha und Anna wird abgedruckt, wobei eine andere Zeitrechnung verwendet wird, die ich nicht verstehe. Hier zeigt sich für mich die deutliche Schwäche des Buches: Sämtliche Beziehungen erscheinen wenig ausgearbeitet und auch wenig nah. Nishas Vater bleibt eine vage Figur am Rande, ein abwesender Vater, der sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht um sein Kind bemühen kann und ihr nicht schreibt. Auch sie schreibt ihm nicht. Nisha und Anna lösen ihre Konflikte nicht, verbleiben in Anschuldigungen und gehen dann auf die faktische Ebene über, wobei Wesentliches unausgesprochen bleibt, ohne dass es einen Subtext gibt, der sich mir erschließt. Es wird zwar deutlich, dass es wesentliche Veränderungen in der Welt gibt, mir blieb aber unverständlich, was passiert und vor allem warum. Auch, warum sich Nisha und Anna zehn Jahre nicht sehen, obwohl sie keine Tagesreise voneinander entfernt leben, bleibt unverständlich.
Dann kommt im Buch wieder ein erzählender Teil, die Erklärungen für die Entfremdung werden in einem Infodumpblock nachgeliefert, aber ich verstehe sie nicht, weil die zugrundeliegende Beziehungslosigkeit seltsam unverständlich bleibt. Es gibt eine Katastrophe, das Meer wird heiß, alles stirbt. Die ausufernden Schilderungen eigentlich rasanter Szenen haben mich doch zunehmend genervt. Nisha bleibt allein zurück und rettet sich an Land, wo sie seitenweise fast stirbt. Hier hat der Text mE deutliche Längen und ich habe mich ziemlich gequält. Irgendwann hat auch sie wieder eine Vision, erfährt von einer Schwangerschaft und verwandelt sich in einen Schmetterling. Das fand ich so fantasyartig, dass es mich nicht für sich einfangen konnte.
Im Teil drei steht Lokapi im Mittelpunkt, Nishas Tochter. Auch sie ist wieder ein Workaholic und arbeitet in einer wundersamen Blase, in der all die ausgestorbenen Tierarten noch leben. Was genau sie dort untersucht, bleibt unklar, ihr Equipment besteht aus einem nicht näher spezifizierten Gerät und einem Armband, das ihr Kontakt nach außen ermöglichen soll, was es aber nicht tut. Lokapi lebt allein in einer fast verlassenen Forschungsstation. Sie hat einen Partner, die Beziehung scheint aber recht fern und nichtssagend, es ist eine Zweckgemeinschaft zum Zwecke des Kinderzeugens, was auch benannt wird. Wie das funktionieren kann, wenn es eine Fernbeziehung ist, bleibt lange offen, irgendwann wird deutlich, dass nach einer Fehlgeburt die Versuche, ein Kind zu bekommen, aufgegeben wurden.
Mit Lokapi bin ich nicht warmgeworden, was schon beim Namen anfängt. Sie heißt l’Okapi, nach dem französischen Namen eines ausgestorbenen Tiers, von dem ihre Mutter ein Mal im Radio gehört hat. Warum das so bedeutsam ist, dass sie ihr Kind danach benennt, bleibt unverständlich. Zu unverständlich war mir auch, was sie dort arbeitet und was sie eigentlich sucht. Auch wie sie eigentlich aussieht, von ihrem Haar einmal abgesehen, habe ich nicht verstanden. Die endlosen Beschreibungen der Idylle in der Blase und des körperlichen Unwohlseins Lokapis haben mich sehr genervt, der ohnehin dialogarme Text hat hier kaum noch Dialoge – einfach weil es kaum jemandem gibt, dem Lokapi begegnet.
Lokapi hatte eine geniale Vorgängerin, aber die ist verschwunden. Natürlich versteht man sofort, dass sie in der Blase leben muss und so ist es nicht erstaunlich, dass auch Lokapi sich irgendwann dafür entscheidet, in die Blase zu gehen, die als Dimensionstasche beschrieben wird, ohne dass klar ist, was das nun genau sein soll. Dort ist alles merkwürdig. Lokapi vergisst Dinge und denkt wirr, was ich anstrengend zu lesen fand. Auch werden mir Informationen künstlich vorenthalten, erst sehr spät gibt es eine Begegnung mit der anderen Bewohnerin der Blase: Savanna, die drei Mal ihren Namen gewechselt hat – wie es scheint nur, damit Krieg nach und nach aufklären kann, wer sie ist. So kann sie dann auf den letzten Seiten erklären, warum Lokapis Mutter sie einfach verlassen hat, wobei auch diese Erklärung für mich nicht nachvollziehbar bleibt. Denn warum sollte jemand das eigene Kleinkind oder Baby verlassen, um eine Mutter zu suchen, die jahrelang eine Tagesreise entfernt lebte, ohne dass man sich die Mühe machte, mal vorbeizusehen? Nun gibt Nisha ihre eigene Tochter auf, um die kranke Mutter zu pflegen, eine Wendung, die in ihrem Charakter nicht einmal ansatzweise angelegt ist und die mir daher unplausibel erscheint.
Ärgern tun mich auch solche Sachen, wie, dass Lokapi sich mal eben aus Rinde und Blättern Kleidung webt – ohne Kenntnisse, wie man Fasern gewinnt und ohne Webstuhl?
Das Buch endet damit, dass Lokapi schließlich völlig in eine Traumwelt entschwindet. Dort begegnet sie „dem Uralten“, der Sternschildkröte, die schon ihre Mutter und Großmutter imaginiert haben. Und sie begegnet ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Ob das nun eine Vision, ein Wahn oder eine Eingebung sein soll und was sie bedeutet, bleibt vage, weshalb das Ende des Buches für mich unbefriedigend bleibt.
Insgesamt muss ich sagen, dass ich mich im letzten Drittel wirklich gequält habe. Die die drei Teile überspannenden Linien sind für mich unzureichend aufgegriffen. Was es mit der Schildkröte auf sich hat, bleibt ebenso unerklärt wie die Beziehungslosigkeit der Protas. Das übergreifende Thema, ob die Menschheit überlebt und wenn ja, wie, bleibt ebenfalls offen.
Die Beschreibungen, die zunächst eine Stärke des Buches waren, haben mich zunehmend genervt (auch weil sie sich wiederholen), die starke Innenschau ist im zweiten Teil kaum noch, im dritten fast gar nicht mehr vorhanden. Und dann gibt es doch immer wieder Phasen, wie „eine kalte Hand schloss sich um ihre Brust“.
Das Buch endet mit einem ausführlichen Infoteil. Neben einer Welterklärung, die das Buch nicht brauchen sollte und die lückenhaft bleibt, gibt es ein Glossar (das ich nicht vermisst habe), die Erklärung des Kalenders und eine Figurenübersicht. Und Anregungen für Lesezirkel, die mich in ihrer pädagogischen Wirkung befremden.