Wenn man die Regeln bricht, sollte man schon wissen was man tut.
Der durchschnittliche schreibende SF-Fan weiß ja nicht mal, was er tut, wenn er sich an die Regeln und die normale Kurzgeschichtenstruktur hält. Also so etwas wie: Ein Twist kurz vor dem Ende, eine Pointe im letzten Satz, ein fieses offenes Ende; Einheit in Zeit und Raum, höchstens fünf Personen und einfach in die Story schmeißen.
Was ich oft lese (wenn ich abseits des Mainstream von Exodus und co lese): Wie sich ein zufälliger Passant die Zukunft vorstellt. Meistens ohne Plot. Gerade bei Slice of Life sollte man echt wissen was man tut.
Gerade lese ich Kurzgeschichten von Hilary Mantel, ja, die sind manchmal etwas schräg und enden anders, haben eine abweichende Struktur und verwirren oder verblüffen mich als Leserin (und ich habe wirklich schon eine erhebliche Zahl von Kurzgeschichten gelesen, auch aus dem nichtphantastischen Bereich), Mantel weiß aber auch wirklich, was sie da treibt.
Jemandem wie Klaus N. Frick traue ich zu, dass er die Regeln bewusst bricht und experimentiert und zumindest bei den drei Exodus-Machern muss ja die Geschichte sehr gut angekommen sein, sonst hätten sie sie nicht gebracht. Bei mir ist sie auch eher wegen des Tons nicht angekommen (ich flüchte immer bei märchenhaftem Stil) und es kam nicht rechtzeitig ein Anker; und wie gesagt: Ab 2023 siebe ich stärker aus, was ich zu Ende lese. Sofern später noch gute Rezensionen zu einer Story kommen, die ich beim ersten Versuch abgebrochen habe, kehre ich gern noch dorthin zurück. Sieht hier nicht danach aus.
Michael, du hattest im Zwielicht mal diese Wolf-Story, die war geil, und die war auch strukturell anders.
In den letzten Queer*Welten ist eine Kurzgeschichte (No Filter von Vogltanz), bei der die Perspektive zwischen zwei Menschen hin und her wechselt, die ist auch sehr gelungen.
Ich habe auch MKIs Novelle aus der vorletzten Nova Briefe an eine imaginäre Frau, sehr genossen und halte sie für eine der besten Storys aus 2022, vielleicht sogar für die beste. Die Novelle ist nicht wirklich chronologisch erzählt, erst recht nicht immer szenisch, bricht eigentlich einige Regeln der klassischen Novelle, ist aber irre gut. Ich habe sie zweimal gelesen (bisher). Wir können bei dem Autor davon ausgehen, dass er die Regeln für Novellen absolut kennt, da seine Kenntnis klassischer Erzählungen und Novellen breit ist und das nicht nur innerhalb unseres SF-Genres. Da würde ich aber am liebsten jeder Person zurufen: Don't try that at home!
Wenn jemand ein Experiment wagt und aus der üblichen Struktur ausbricht, sollte er wirklich wissen was er tut. Oder er akzeptiert eben, dass er nicht jeden kriegt. Während ich bei Fricks Story davon ausgehe, dass es eine gute Story ist, die nur nicht jeden einfängt, kenne ich auch etliche fürchterliche Anthologien, bei denen ich sicher bin, 80% der Schreibenden hatten keine Ahnung was sie da treiben und eigentlich hätte man die Storys nicht bringen dürfen. Da braucht es strengere Gatekeeper und René, Hans Jürgen und Heinz machen ihre Sache verdammt gut. Ich wünschte mir manchmal ein etwas beherzteres Eingreifen mittels Lektorat, auch was den Inhalt betrifft. Beispielsweise ist die Story von Uwe Hermann sehr schön, aber kurz vor dem Ende wird mir die Prämisse erklärt, das hätte ich gern subtiler gehabt. Der Autor hat das vermutlich gar nicht bemerkt, aber der Lektor hätte es merken können und den Autor dazu anregen können, eine elegantere Lösung zu finden. So wie ich den Autor erlebt habe, wäre er sehr offen dafür gewesen. Dann hätte die Story meines Erachtens auch Best-Of-Potenzial für mich gehabt (ich sehe aber schon, für viele andere hat sie das trotzdem :-) ).
Auch bei Romanen kann man experimentieren, siehe Hans Jürgen Kuglers Roman Freier Fall, der ist definitiv anders als die anderen Kinder, ist aber jetzt beispielsweise für den DSFP nominiert. Mich hat der Roman auch erreicht und ich habe mich recht begeistert dazu geäußert.
Kurzgeschichten, die den klassischen Weg verlassen, müssen eben damit leben, dass sie ggf. polarisieren. Als Anfängerin würde ich das eher weniger wagen und als Leserin bin ich oft auf der Hut, manchmal kriegt man aber sogar mich klassische Seele. ;-)